Teil 5
Anne betrat am Montagmorgen mit so auffällig geröteten Augen die Polizeidienststelle, dass Nonnenmacher sie entsetzt fragte, was denn los sei, ob jemand gestorben sei? Nein, sagte Anne, es gehe schon, ihr tränten nur die Augen vom Radfahren, die Morgenluft auf dem Seeradweg sei im Frühsommer doch noch ganz schön kühl.
In Wahrheit hatte Anne fast das ganze Wochenende über geweint. Denn Bernhard war nicht aufzufinden gewesen. Anne war mit Lisa am Freitagabend zu seiner Wohnung im Glockenbachviertel gefahren, und sie hatten in seinem Zimmer übernachtet. Aber Bernhard war nicht nach Hause gekommen. Anne hatte alle Freunde abtelefoniert, doch niemand hatte etwas von ihm gehört. Am Samstag hatte sie in den Münchner Kliniken angerufen, was aber auch nichts ergeben hatte. Sogar hingefahren war sie zu einigen. Keine hatte einen Bernhard von Rothbach auf ihrer Aufnahmeliste stehen. Wäre sich Anne nicht so sicher gewesen, dass Bernhards Verschwinden mit seiner Hypochondrie zusammenhing, hätte sie längst eine Vermisstenfahndung ausgelöst. Allmählich mischten sich allerdings immer mehr Zweifel in ihre Gewissheit. War Bernhard vielleicht doch etwas zugestoßen?
Gut, dass es Lisa gab. Ohne ihre Tochter wäre sie wohl selbst längst reif für die Nervenklinik. Lisa machte zwar vieles komplizierter, aber sie war auch eine Stütze, ein Grund, sich nicht unterkriegen zu lassen, nicht zu verzweifeln. Das Mädchen war es auch gewesen, das Anne dazu überredet hatte, nicht auch noch den Sonntag in Bernhards Zimmer zu verharren, sondern wieder nach Hause an den Tegernsee zu fahren. »Da haben wir’s doch viel schöner, Mama.«
Bereits um acht Uhr morgens waren die beiden in Annes Kleinwagen gesessen und vor den ganzen Sonntagsausflüglern auf der Salzburger Autobahn in Richtung Oberland geflitzt. Anne hatte die Musik laut gestellt, und beide hatten mitgesungen. Als sie die Tür zu ihrem Häuschen in der Schwaighofstraße öffnete, hatte sie für eine Sekunde gehofft, dass Bernhard in der Küche stünde. Doch diese unsinnige Hoffnung verdrängte sie sofort erfolgreich, indem sie sich vorstellte, wie es wäre, hier und jetzt und ohne jede Vorwarnung auf Hans Schimmler zu treffen. Diese Vorstellung erheiterte sie so sehr, dass sie sogar kurz laut lachen musste. Als Lisa fragte, was sei, sagte Anne nur: »Ach nichts, ich musste an etwas Lustiges denken.« Und dann gingen die beiden an den See.
Doch als Lisa am Abend im Bett lag und Anne allein im Wohnzimmer saß, überrollte sie wieder die ganze Verzweiflung über Bernhards Verschwinden. Nicht einmal die Abendsonne, die über den See und durch die großen Fensterscheiben des Wohnzimmers glitt, konnte Anne genießen. Sie versuchte, sich mit Fernsehen auf andere Gedanken zu bringen – keine Chance. Um zehn legte sie sich ins Bett und heulte sich in den Schlaf.
In der Nacht träumte sie vom schlimmsten Tag ihres Lebens, damals, als dieser junge Lehrer mit ihr zu weit gegangen war. Mit Schmerzen im Unterleib wachte sie morgens auf und wäre am liebsten liegen geblieben. Dann kam aber Lisa in ihr Zimmer gehopst und wollte ein Sommerkleid anziehen, mit Rüschen unten dran, und ein Marmeladenbrot frühstücken und einen Kaba trinken und ein Buch vorgelesen bekommen – und so begann der Tag.
Auf dem Weg vom Kindergarten in die Polizeiinspektion hatte der Kummer Anne noch einmal richtig durchgeschüttelt, aber dann hatte sie sich vorgenommen, sich zusammenzureißen. Im Dienstzimmer saß Sepp Kastner und, das sah Anne gleich, dachte nach. Was er denn so angestrengt denke, fragte sie ihn deshalb.
»Ich frage mich, wieso der Bauer Nagel und seine Kollegen beim Kürschner eingebrochen sein sollten. Was haben die da gesucht? Und warum haben sie die viele Milch vergeudet? Die hätten’s doch besser bei einer dieser Milchdemos, die zurzeit überall sind, auf einen öffentlichen Platz gekippt als wie bei einem Milliardär ins Schwimmbad. Das ist doch komisch.«
»Vielleicht hatte der Kürschner auch irgendwas mit Milch zu tun. Irgendwelche Milchgeschäfte …«, antwortete Anne und schnäuzte sich. Jetzt erst sah Kastner Annes Augen und fragte besorgt: »Was ist mit dir? Hast du Heuschnupfen?«
»Nein! Es ist nichts.« Anne wollte alles, nur nicht mit Kastner über den verschollenen Bernhard sprechen. Das Glück kam ihr zur Hilfe. Ein Kollege klopfte und trat ein, in seiner Hand ein Fax.
»Für euch«, sagte er und reichte Anne das Blatt, worüber Kastner sich kurz ärgerte, was er mit einem Schnaufen zum Ausdruck brachte, schließlich war er hier schon viel länger am Start als sie. Da sollte es eigentlich klar sein, dass ihm wichtige Dokumente übergeben werden mussten!
Derweil überflog Anne das Blatt und jubelte: »Bingo, jetzt machen wir den Sack zu.« Ein fragender Blick Kastners, und Anne erklärte: »Die Vergleichsproben stimmen überein. Die Milch kommt vom Nagelhof.«
»War irgendwie ja auch klar«, sagte Kastner cool, er wollte den Kollegen vom Bereitschaftsdienst, der noch im Zimmer stand und gar nichts kapierte, beeindrucken. »Dann werden wir jetzt dem Herrn Nagel mal aufs Zahnfleisch fühlen.«
»Jawoll, Mister Bond«, sagte Anne und stand auf. »Das müssen wir gleich dem Chef zeigen.«
Nonnenmacher hatte noch Reispampe im Mund, als Anne und Kastner sein Zimmer betraten. Weil sie sah, dass er kaute, reichte ihm Anne nur schweigend das Blatt. Schnell schluckte er, las und schwieg. Dann blickte er auf. »Die Milch stammt also vom Nagel Pius.«
»Dann wissen wir jetzt, wer da eingebrochen ist«, meinte Anne triumphierend. Auch Kastners Augen strahlten.
»Das wissen wir nicht genau«, warf Nonnenmacher leise ein. »Oder steht hier auf dem Gutachten, dass der Pius in das Schwimmbad eingebrochen ist?« Zornig blickte er auf. »Nein, es steht hier nur, dass Probe A, die aus dem Schwimmbad stammt, mit Probe B, die vom Hof vom Pius stammt, dass also diese beiden Proben übereinstimmen. Not more.«
Anne und Kastner schauten sich an, als hätte ihnen ihr Chef eben eröffnet, sich ein Bauchnabelpiercing machen lassen zu wollen. Anne wusste gar nicht, was sie blöder fand, dass er versuchte, die Eindeutigkeit des Befunds infrage zu stellen, oder dass er seine lächerliche Einlassung mit »not more« beendet hatte.
»Aber Kurt«, schaltete Kastner sich ein, »die Sache ist doch eindeutig, oder? Wer soll denn die Milch da reing’fahren haben, wenn nicht der Nagel Pius? Das passt doch jetzt alles zusammen: die Milchproben, der Kammerjägerzettel …«
Nonnenmacher riss die Augen auf und zog die Stirn nach oben. »Und was ist, wenn einer die Milch dem Pius abgekauft hat?«
»Wer sollte das denn machen?« Kastner war fassungslos.
»Was weiß denn ich, vielleicht jemand von der Molkerei? Oder der Milchfahrer? Who knows?«
Kastner schüttelte den Kopf. »Na ja, mir werden ja sehen, was der Pius uns erzählt, wenn mir ihm sagen, dass die Milch aus dem Pool die seine ist. Dann laden mir den zur Vernehmung. Willst du da dabei sein, Kurt?«
»Ja klar will ich dabei sein«, sagte Nonnenmacher.
»Meinen Sie, das ist so schlau, wo Sie sich dem Herrn Nagel doch auch persönlich verbunden fühlen? Ich meine: Fühlen Sie sich nicht ein wenig … befangen?«, gab Anne zu bedenken.
»Iwo, ich bin total unabhängig, ich möcht’ da natürlich dabei sein, schließlich geht’s um einen toten Milliardär, da können mir uns keine falschen Verdächtigungen erlauben. Ich ruf’ den Pius gleich mal an. Der soll herkommen, am besten sofort.«
Obwohl es Montag war, erschien etwa eine Stunde später der Bauer Pius Nagel in schönster Sonntagstracht in der Polizeiinspektion Bad Wiessee. Sogar seinen Hut mit dem langen Gamsbart hatte er sich aufgesetzt, den trug er normalerweise nur zu Hochzeiten und hohen kirchlichen Feiertagen, weil das gute Stück, wie er immer wieder betonte, nicht etwa aus Hirsch-, Dachs- oder Wildsauhaaren und schon gar keine billige Gamsbartfälschung sei, sondern vom Rücken mehrerer echter Tegernseer Gamsböcke stamme und seinerzeit dreitausend Mark gekostet habe.
Man traf sich am runden Tisch in Nonnenmachers Zimmer. Nagel saß mit Blick zur Tür, am linken Ende Nonnenmacher, am rechten Kastner und dem zu Befragenden gegenüber Anne Loop.
»Du kennst unsere Frau Loop ja, glaube ich, Pius, gell?«, eröffnete Nonnenmacher die Vernehmung.
»Ja, ja, sie hat uns schon ein paarmal besucht im Bräustüberl, sie g’hört ja schon fast zu unserm Stammtisch, nicht?« Nagel lachte unsicher.
»Pius«, sagte Nonnenmacher ernst und sog wichtigtuerisch einen gefühlten halben Kubikmeter Luft ein, »es geht um den Kürschner. Du weißt ja, dass der tot ist.«
Pius Nagel nickte.
»Weißt du da irgendwas, was da passiert ist?«
»Na, also praktisch gar nix«, antwortete Nagel schnell. Als Nonnenmacher ihn mit gerunzelter Stirn anblickte, schob er rasch hinterher: »Also klar, das, was in der Zeitung gestanden hat, und das, was man sich erzählt, das natürlich schon.«
»Und das wäre?«, fragte Anne streng.
»Ja, dass er halt in seinem Schwimmbad tot aufgefunden worden ist.«
Vielleicht hätte Nagel noch mehr zu dieser Thematik gesagt, aber Nonnenmacher wollte um jeden Preis verhindern, dass Anne Loop noch eine Frage stellte, weshalb er sofort, nachdem Nagel den Satz beendet hatte, erneut das Wort ergriff. »Pius, wir haben leider herausgefunden, dass die Milch, die wo beim Kürschner im Schwimmbad drin war, dass die von deinem Hof stammt.«
»Was für eine Milch?«, fragte Nagel hastig. »Wie wollt’s ihr so was rausfinden?« Plötzlich stand ihm Angstschweiß auf der Stirn.
»Ach komm, Pius«, entgegnete Nonnenmacher freundschaftlich, der nicht wollte, dass Nagel die Nerven verlor, »dass da Milch im Schwimmbad war, das hast du doch sicher auch schon g’hört.«
»Also in der Zeitung ist des nicht gestanden«, sagte Nagel eifrig.
»Aber gewusst hast du’s, oder?«, fragte Nonnenmacher ruhig.
»Ja, schon«, gab Nagel zu.
»Na siehst du. Jetzt haben wir da die Situation, dass die Frau Loop, die neu ist bei uns hier, dass die sich was von der Milch herausgenommen hat und diese Milch verglichen hat mit der deinigen. Und jetzt hat so ein schwäbisches Labor herausgefunden – man kann darüber denken, was man will –, dass das also dieselbe Milch ist. Aber sicher hast du eine Erklärung dafür.«
»Na«, verneinte Nagel, »da habe ich keine Erklärung nicht dafür. Weil ich mit dem Ganzen nix zum tun hab’ und auch nicht will.«
Nonnenmacher ließ sich Zeit, dann fügte er begütigend hinzu: »Nun ist’s halt so, dass, wenn du jetzt quasi alles leugnest, dass du dann wahrscheinlich was mit dem Tod vom Kürschner zum tun hast – was wir, also ich, aber gar nicht glauben und mir auch nicht vorstellen mag. Wenn du andererseits jetzt was zugeben tätst, was im Zusammenhang mit der Milch steht, dann bist du schon aus dem Schneider, jedenfalls halb.«
Pius Nagel war den Ausführungen Nonnenmachers aufmerksam gefolgt.
»Also noch mal, kannst du dir erklären, wie deine Milch in den Pool vom Kürschner kommt?«
»Na, also wirklich keine Ahnung«, sagte Nagel und zupfte nervös an den grünen Bändchen seiner kurzen schwarzen Lederhose herum.
»Herr Nagel, wissen Sie, es wäre für Sie besser, jetzt die Wahrheit zu sagen«, ergriff Anne das Wort. »Es ist für uns kein Problem, mithilfe eines Fingerabdruckabgleichs festzustellen, ob Sie in der Todesnacht in Kürschners Haus waren.«
»Mit dem Tod hab’ ich nix zum tun!«, stieß Nagel jetzt energisch hervor. »Überhaupt gar nix!«
»Das glauben mir ja auch nicht, aber mit was dann?«, mischte sich Nonnenmacher nun wieder ein. »Warum ist da die Milch von dir drin gewesen? Hast du die wem verkauft?«
»Ja, genau, die hab’ ich wem verkauft«, sagte Nagel, dankbar, dass ihm jemand eine derart golden glänzende Brücke baute, die es ihm ermöglichte, geradewegs der vor seinem inneren Auge bereits entstandenen Gefängniszelle zu entfliehen.
»Das ist doch Quatsch, Herr Nagel«, sagte Anne aufgebracht, weil Nonnenmacher das Verhör sabotierte. »Wenn Sie uns hier Märchen erzählen wollen, dann nehmen wir jetzt sofort Ihre Fingerabdrücke und fordern von der Kripo Miesbach alle Abdrücke an, die beim Kürschner festgestellt wurden. Dann werden wir ja sehen, ob Sie auch dort waren. Wenn die Fingerabdrücke übereinstimmen, sind Sie dort gewesen. Und dass Sie dort gewesen sind, spricht dann ja wohl eindeutig dagegen, dass Sie die Milch irgendwem verkauft haben. Die Milch diente doch einem völlig anderen Zweck, oder etwa nicht?«
Anne machte eine kurze Pause, in der sie sah, wie bestürzt Nonnenmacher über ihren plötzlichen barschen Tonfall war, schließlich ging es hier um einen Mann des Tegernseer Tals, der sich schon auf vielen Feuerwehrübungen und anderen Anlässen bewährt hatte. Doch sie beschloss, darauf nun keine Rücksicht mehr zu nehmen.
»Herr Nagel. Die Sachlage sieht wie folgt aus: Ihre Milch wurde in einem Haus gefunden, in dem ein Milliardär unter mysteriösen Umständen zu Tode gekommen ist. Allem Anschein nach war es ein Unfall. Vielleicht aber auch nicht. Es könnte auch ein fingierter Unfall gewesen sein. Herr Nagel, wir reden hier über ein mögliches Verbrechen. Und Sie hängen mittendrin. Das Klügste, das Sie jetzt tun können, ist, zu sagen, wie Ihre Milch in den Pool kam. Vielleicht können wir Sie dann noch aus dem Schlimmsten heraus …«
Im selben Augenblick klingelte Annes Handy. Erleichtert atmete Nonnenmacher auf. Auch Nagel wiegte zur Lockerung ein wenig seinen Oberkörper hin und her, der sündhaft teure Gamsbart wackelte.
Anne, deren Wangen nun gerötet waren, zog schnell ihr Mobiltelefon aus der Tasche, las auf dem Display »unbekannter Anrufer«, überlegte kurz und drückte ihn weg.
Pius Nagel hatte die kurze Unterbrechung genutzt, um mit sich ins Reine zu kommen. Offensichtlich hatten ihn die Grünen am Wickel. Also entschloss er sich, auszupacken, und berichtete, wie alles gewesen war. Dass die Milch tatsächlich von ihm sei, dass er aber, und dies schwöre er bei Gott – Nagel hob dabei tatsächlich die Hand –, mit dem Tod vom Kürschner nichts zu tun habe. Als er in das Schwimmbad eingebrochen sei, sei niemand im Haus gewesen, der Kürschner schon gar nicht, deshalb habe er den Milliardär auch nicht umbringen können. Auf die Frage, warum er dort überhaupt eingebrochen sei, warum er seine wertvolle Milch verschwendet habe, um sie in das Becken zu pumpen, wusste Nagel zunächst keine Antwort, die in der jetzigen Situation noch plausibel geklungen hätte.
»Es ging halt um eine Art Druckmittel«, meinte er deswegen nur kraftlos. »Der Kürschner hat uns, ich meine mir, Geld geschuldet, das wo er mir nicht hat zurückzahlen wollen. Da habe ich ihm halt versucht klarzumachen, dass es so nicht geht. Deswegen hab’ ich ihm die Milch in sein Bad hineingeschüttet, als ein Zeichen.«
Nonnenmachers Magen heulte auf. Um ihn zu übertönen und auch aus Verzweiflung über die Verwicklungen, in die der Bauer sich da gebracht hatte, fragte der Dienststellenleiter sehr laut, es war beinahe geschrien: »Und warum? Was sollte das Ganze? Du brichst da ein, und dann ist der Kürschner tot, immerhin ein Milliardär und der Wohltäter im Tal! Das musst du mir schon erklären, Pius, da komm’ ich nicht mehr mit!«
»Ja sakra«, wurde Nagel nun seinerseits laut, »mir haben keinen anderen Weg mehr gesehen. Der Kürschner, der Sauhund, hat uns um unser ganzes Vermögen gebracht. Dass mal klar ist, von was mir hier reden: Eine Million ist weg wegen dem gescherten Finanzheuschreck. So einem Hundling wird man ja wohl noch ein paar Liter Milch ins Schwimmbad schütten dürfen!«
»Ja, aber für was soll das denn gut sein? Milch im Schwimmbad!«, fragte Nonnenmacher, der gar nicht fassen konnte, dass man als alteingesessener und daher von Natur aus mit Vernunft ausgestatteter Tegernseer auf solch eine abwegige Idee kommen konnte.
»Dass der Hund Angst bekommt, das haben mir gewollt. Dass er uns unser Geld zurückgibt!«
»Und woher willst du eine Million hergehabt haben?«, bohrte Nonnenmacher jetzt ungläubig nach.
»Es bin ja nicht ich allein, der wo geschädigt ist«, druckste Nagel herum.
»Sondern eine ganze Bauernarmee, oder was? Das sind mir so Seilschaften!«, sagte Nonnenmacher fassungslos.
»Na, halt ein paar andere. Mir haben eine Anlage von dem Kürschner seiner Scheißbank gekauft. Und dann kommt auf einmal der Finanzberater daher und sagt, dass das jetzt alles leider nix mehr wert ist.«
»Was für ein Finanzberater? Der Kürschner ist doch kein Finanzberater!«
»Nein, der Bichler Josef, der war’s, der hat uns das Gelump verkauft.«
»Und warum habt’s dann nicht beim Bichler eingebrochen?«
»Weil bei dem nix zu holen ist – und der auch keinen Schwimmingpool hat.« Nagel sprach das Wort tatsächlich mit »Sch«.
»Und warum sind Sie nicht zur Polizei gegangen?«, stellte Anne eine aus ihrer Sicht längst überfällige Frage, die nun wiederum Nonnenmacher als zweitrangig empfand.
»Wisst’s ihr, ihr von der Polizei könnt’s ja viel machen, aber bei so was, da könnt’s ihr auch nix ausrichten. Diese Finanzhaie, das sag’ ich euch, die drehen die krummsten Dinger so, dass hintenrum alles legal ausschaut. Wisst’s ihr überhaupts, wie man so eine Anlage macht? Die geben dir einen Vertrag, der besteht aus tausend Seiten. Da stehen lauter klein gedruckte Spezialbedingungen, die wo kein Mensch versteht. Und wenn die Sache dann schiefläuft, dann zeigen’s dir irgendeinen Satz, den wo erst recht kein Mensch versteht, und sagen, dass wegen dem Satz du kein Geld mehr kriegst. So machen die das! Und vor Gericht: null Chance.«
Für einen Augenblick herrschte Ruhe am Tisch. Alle dachten nach. Wenngleich klar war, dass ein Einbruch bei einem Milliardär eine schlimme Straftat darstellte, zumal, wenn der Mann in der Folge des Einbruchs starb, war man sich auch einig, dass die Welt der Anlageberatung und Vermögensverwaltung ihre eigenen komplizierten Gesetze hatte, die nicht immer zu gerechten Ergebnissen führten.
»Was genau wollten Sie in Kürschners Haus?«, fragte Anne, um Sachlichkeit bemüht.
»Ja, genau genommen nix.« Pius Nagel merkte selbst, wie unsinnig sich das anhörte. »Es sollte halt ein Zeichen sein, dass es jetzt bald zwölf schlägt: Der soll nach Hause kommen, und da ist dann Milch anstatt Wasser im Schwimmbecken. Das Wasser haben mir ihm ja auch abgestellt.«
Nagel wirkte ein wenig stolz, als er allmählich den Plan der vier Kammerjäger entfaltete und erläuterte, weshalb es jetzt, auf dem Höhepunkt der Wirtschafts- und Milchkrise, an der Zeit sei, dass das Volk aufstehe und sich wehre.
»Mir müssen zeigen, dass mir nicht alles mit uns machen lassen«, sagte er. »Sonst wird alles immer ungerechter. Mir Bauern bekommen nicht einmal dreißig Cent für jeden Liter Milch, obwohl mir mindestens vierzig bräuchten, damit’s sich …«
»Aber Herr Nagel, deswegen darf man trotzdem nicht bei anderen Leuten einbrechen«, unterbrach ihn Anne Loop, die diese Milchpreisgeschichte allmählich nicht mehr hören konnte.
»So, ja, meinen Sie, Frau Kommissar? Und was ist dann zum Beispiel mit dem Zumwinkel? Was war der gleich, Chef von der Post, oder nicht? Hat der nicht eine Million Steuern hinterzogen, ist deswegen rausgeflogen und hat dann trotzdem zwanzig Millionen als Rente bekommen – und das auf einen Schlag! Und jetzt hockt der da in seinem Schloss in Südtirol, der Sauhund. Und der Kürschner war doch ganz der Gleiche. Für diese Finanzverbrecher ist eine Million wie für unsereins zehn Euro.«
»Aber nochmals: Herr Zumwinkel und Herr Kürschner sind nicht bei wildfremden Menschen eingebrochen und haben durch ihr Handeln auch keine Todesfälle herbeigeführt«, formulierte Anne etwas kompliziert.
Doch das ließ der Bauer, der nun richtig in Fahrt gekommen war und dem zudem bewusst wurde, dass er aus diesem Schlamassel nicht mehr so leicht herauskommen würde, nicht gelten. Ob die Frau Kommissar denn glaube, dass man so viel Geld verdienen könne, ohne über Leichen zu gehen?
»Zwanzig Millionen! Ich sag’ euch: Diese Typen bekommen so viel Geld, weil es ihnen wurscht ist, was mit einem Landwirt wie mir oder auch einem von ihren Angestellten passiert. Die vernichten Existenzen, wenn’s sein muss. Die sind knallhart und brutal, das sag’ ich.«
Nonnenmacher nickte zustimmend, was ihm einen bösen Blick von Anne einbrachte.
»Das Volk muss sich da wehren!«, sagte Nagel abermals. Dann wischte er sich mit einem weißen Taschentuch den Schweiß von der Stirn und griff sich vorsichtig mit der Hand an den Hut, um zu sehen, ob der Gamsbart noch intakt war.
Dann fragte Anne ihn, wer seine Komplizen gewesen seien.
»Das kann ich nicht sagen«, meinte Nagel zögerlich. »Ehrensache.«
Wieder nickte Nonnenmacher, es ging hier auch um die Heimat.
Anne sah das etwas anders: »Herr Nagel, es ist das Beste, wenn Sie die ganze Wahrheit auf den Tisch legen. Das könnte Ihr Strafmaß ganz positiv beeinflussen, glauben Sie mir. Wir haben ohnehin Hinweise, die uns eindeutig belegen, wer Ihnen bei der Tat behilflich war.« Bei diesen Worten war Anne an die Tischkante gerückt und hatte ihren Oberkörper in Richtung Nagel geschoben.
»Und was sollen das für Hinweise sein?«, wollte Nagel nun wissen.
»Herr Nagel«, meldete sich nun Sepp Kastner zu Wort, »mir haben einen Zettel g’funden, auf dem steht was von Kammerjägern. Das sind doch Sie, die Kammerjäger, oder?«
»Wer genau?«, stellte sich Nagel dumm.
»Ach Herr Nagel, jetzt machen’s halt keinen Scheiß«, winkte Kastner ab.
»Herr Nagel«, Anne fixierte den Landwirt mit einem stechenden Blick, »haben Ihnen vielleicht Ihre Stammtischbrüder Klaus Amend und Sebastian Hörwangl bei dem Einbruch in den Grundnerhof geholfen?«
Nagel wich dem Blick der Polizistin aus, suchte Augenkontakt zu Nonnenmacher, der seine Hände bestaunte, als wären sie seltene Pflanzen, und blieb schließlich mit seinen Augen an dem Kruzifix hängen, das im Eck befestigt war. Dann sagte er einfach nur: »Ja.«
Nach einer kurzen Pause fügte er verschwitzt, leise, schwach hinzu: »Es ist uns aber immer nur um unser eigenes Geld gegangen. Mir wollten niemand etwas wegnehmen und schon gar niemandem etwas zuleide tun.«
»Gut.« Nonnenmacher atmete nun erleichtert auf. »Dann ist der Fall Kürschner also aufgeklärt. Und zwar ohne dass die Gescheithaferln aus Miesbach groß was getan haben. Sehen Sie, Frau Loop, es ist manchmal gar nicht so verkehrt, wenn man die Sachen vom Tal im Tal klärt.«
Ohne auf diese kleine Stichelei einzugehen, meinte Anne: »Dann sollten wir jetzt aber schleunigst die Komplizen von Herrn Nagel festnehmen.«
Pius Nagel schaute empört auf, vermutlich, weil er sich gar nicht recht schuldig fühlte und das Wort »Komplizen« seine Tat in die Nähe eines Verbrechens rückte.
Doch schon sagte Nonnenmacher, beruhigend, wie zu einem Kind: »Na, Frau Loop, das machen mir gewiss nicht.« Als er Annes fragenden Blick sah, fügte er hinzu: »Ich sehe hier null Fluchtgefahr, Geld haben’s auch keins mehr – die rennen uns nicht davon.«
Wieder zurück im Dienstzimmer, klingelte erneut Annes Handy. In der Hoffnung, es wäre noch einmal Bernhard, zog sie es aus der Tasche. Doch es zeigte eine Tegernseer Nummer an.
»Ja, Frau Loop, wo bleiben Sie denn?«, erklang am anderen Ende der Leitung eine aufgebrachte Frauenstimme. Annes Blick streifte die Uhr, die auf ihrem Schreibtisch stand, und siedend heiß wurde ihr bewusst, dass sie schon wieder vergessen hatte, Lisa pünktlich vom Kindergarten abzuholen. Mit den Worten: »Bin gleich wieder da« huschte sie aus dem Raum und ließ einen erstaunten Sepp Kastner zurück.
Eine halbe Stunde später kam Anne mit Lisa und zwei halben gegrillten Hähnchen zurück.
»Magst du auch eins?«, fragte sie Kastner, bevor der Lisa mit einem seiner hilflosen Sprüche begrüßen konnte. Kastner nahm das Angebot an, und während alle drei mit den Fingern die Hähnchen verzehrten, beschlich Anne große Angst: Was, wenn der Anruf während des Verhörs von Bernhard gekommen war und er, aus welchem Grund auch immer, sie nicht noch einmal anrufen konnte? Was, wenn er doch krank war und im Sterben lag? Oder wenn ihn jemand entführt hatte? Im nächsten Augenblick wunderte sie sich über sich selbst: Wie konnte sie nur auf derart paranoide Gedanken kommen? Brannten bei ihr jetzt auch schon die Sicherungen durch? – Gut, sicher war der Anrufer Bernhard gewesen, aber der hatte schlimmstenfalls einen hypochondrischen Anfall. Er würde bestimmt wieder anrufen. Aber was, wenn er nur anrufen wollte, um ihr mitzuteilen, dass er sich von ihr trennen wolle? Sich von ihr trennen wegen einer Jüngeren – einer ohne Kind, dafür mit Geld?
»Was denkst’n du so?«, unterbrach Sepp Kastner ihr Gedankengewitter.
»Ach nichts, nur, ob der Fall Fichtner vielleicht doch auch etwas mit dem Fall Kürschner zu tun hat.« Erst als Anne den Satz ausgesprochen hatte, wurde ihr klar, was sie da unbewusst vor sich hingeredet hatte, um sich Sepp Kastners Fragen vom Leib zu halten. Na klar! Warum hatte sie daran nicht schon früher gedacht! Gehörte Ferdinand Fichtner ursprünglich nicht auch zu dem Stammtisch der drei, die sich »Die Kammerjäger« nannten? Hatte nicht auch Fichtner Geld verloren? Das war doch das Motiv, das ihnen die ganze Zeit gefehlt hatte!
»Darüber habe ich auch schon nachgedacht«, sagte Kastner und schob sich ein großes Stück Hähnchen in den Mund, um dann kauend fortzufahren: »Da würde man zumindest verstehen, warum er sich umgebracht hat. Jetzt, in der Wirtschaftskrise, wäre der Fichtner Ferdl nicht der Erste, der Selbstmord begeht, weil er sich verspekuliert hat.«
Als Pius Nagel die zwei Polizisten und das Mädchen auf seinen Hof zulaufen sah, hätte er sich am liebsten in der Tenne im Heu versteckt, wo die alte Katze gerade ihre getigerten Jungen abschleckte. Aber auch wenn er kurz mit diesem Gedanken gespielt hatte, war er dann doch stehen geblieben, es half ja nichts. Gott würde ihm in der andern Welt hoffentlich ein leichteres Leben geben, da musste er halt hier und jetzt den Kopf hinhalten.
»Grüß Gott«, sagte er abwartend und verkniff sich jegliche Bemerkung zu dem Mädchen, das anscheinend wie selbstverständlich die Polizisten begleitete. Vermutlich war es die Tochter dieser komischen Anne Loop.
»Herr Nagel«, eröffnete Kastner das Gespräch, »uns ist da noch etwas aufgefallen.«
Der Bauer, der inzwischen wieder seine blauen Stallkleider und einen fleckigen, einst hellbraunen Hut trug, sah ihn abweisend an, erwiderte aber nichts. »Sie haben ja gesagt, dass der Hörwangl und der Amend Ihnen geholfen haben, beim Grundnerhof einzubrechen. Aber gab es da vielleicht nicht auch noch einen vierten Kammerjäger?«
»Nein, da gab es keinen mehr«, log Nagel. »Für was denn auch?«
Anne spürte die in ihm aufkeimende Nervosität und setzte nach: »Seit wann hatten Sie denn eigentlich diesen Kammerjägerverein?«
»Ach, schon ewig«, antwortete Nagel mit gespielter Gelassenheit. »Aber das war ja auch bloß so eine Idee, ein Hirngespinst. Dass man sich sein Geld selbst zurückholen kann, gell. So ist die Welt natürlich nicht. Gerechter wär’s zwar, aber …«, er zögerte einen Augenblick, »Gerechtigkeit gibt’s nicht.« Dann murmelte er noch irgendetwas von »vielleicht im Himmel«.
»Haben Sie die Kammerjägersache vielleicht schon am Laufen gehabt, als der Ferdinand Fichtner noch lebte?« Diese Frage, das sah Anne gleich, bewirkte etwas im Bauern. Er hatte sich in seinem Netz verfangen.
»Nein, nein«, versuchte er noch abzuwiegeln. »Das haben mir uns erst später ausgedacht.«
»Aber eben sagten Sie, dass Sie die Kammerjägersache schon länger verfolgt hatten. Wie lange genau?«
»Ach, das weiß ich nicht, aber das hat nix mit dem Tod vom Ferdl zum tun, wenn Sie darauf hinauswollen. Damit hat das nix zum tun. Ich weiß nicht, warum der Ferdl sich um’bracht hat.«
»Könnte es nicht sein«, fasste Anne nach, »dass der Herr Fichtner auch Geld verloren hat mit der Geldanlage von Kürschners Bank und dass er sich deshalb das Leben nahm?«
»Das weiß ich nicht«, antwortete Nagel kurz. Er habe jetzt auch keine Zeit mehr, weil er Zäune ausbessern müsse. Die Kühe müssten längst raus auf die Weide. Und heute sei das Wetter noch gut, morgen solle es regnen.
In der Dienststelle liefen sie Nonnenmacher in die Arme. Der sparte sich jegliche Bemerkung zu Lisas Anwesenheit, aber an seinem Blick spürte Anne, dass er es allmählich nicht mehr in Ordnung fand, dass das Mädchen sich dauernd in der Inspektion aufhielt.
»Die Frau Gsell hat für Sie angerufen, Frau Loop, sie hätt’ da noch was für Sie. Mir wollt’ sie nicht sagen, was es ist. Wahrscheinlich eine Frauensache.«
Anne merkte, dass er es unmöglich fand, dass eine Zeugin ihm, dem Dienststellenleiter, Informationen vorenthalten hatte und nur ihr geben wollte. Waren alle Männer Gockel? Jedenfalls die meisten. Bernhard war nicht so, aber dafür ließ er sie hängen. Wäre sie mit einem Gockel glücklicher?
Nach einem kurzen Telefonat mit Elisabeth Gsell jubelte Anne innerlich, denn die Haushälterin hatte tatsächlich noch einen abgerissenen Zettel gefunden, der zu jenem mit der Kammerjägerunterschrift passen konnte.
»Sepp, wir müssen noch mal zum Grundnerhof. Kommst du mit?«
Erneut setzte sich das kuriose Trio, Anne, Lisa, Sepp Kastner, in Bewegung.
Was sie nicht mehr hörten, war, dass der Diensthabende an der Pforte seinem Kollegen im Dienstgruppenleiterraum zurief: »Und sie ermitteln wieder – die Kindergarten-Cops!« Alle Anwesenden lachten schallend.
Elisabeth Gsell trug heute ein dunkelblaues Kostüm, das vom Schnitt her an die Dienstuniformen der Stewardessen in den Sechzigerjahren erinnerte. Sie sah hübsch aus. Und sie war sehr aufgeregt. Das hier habe sie gefunden – sie zeigte Anne das Blatt in ihren Händen. Sie habe dafür aber ganz schön suchen müssen. Im Sekretär von Herrn Kürschner habe sie es gefunden, in einem Geheimfach.
Die Polizistin sah sich den Zettel genauer an. Er trug den Werbeaufdruck der Private LogicInvest Bank.
»Ist das die Bank von Herrn Kürschner?«, fragte Anne die Haushälterin, was diese heftig nickend bestätigte. Aber, so die Haushälterin, das Entscheidende sei doch die Brutalität, die aus dem Brief spreche.
»Diese Unholde haben dem Herrn Kürschner nach dem Leben getrachtet!«
Anne hatte zum Abgleich den Schnipsel mit der Kammerjägerunterschrift mitgenommen. Sowohl die Abrisskante als auch die Handschrift stimmten überein. Auf dem Zettel stand folgender Text:
Sehr geehrter Herr Kürschner,
mir sinds leid. Das Geld (1 Million!) muss jetzt her. Entgültig! Diese Warnung ist die lezte. Nächstes mal tun wir keine Milch mehr in ihr Schwimmbad, sondern Blut!!!!
»Das ist doch Erpressung, die reinste Erpressung!«, regte sich Elisabeth Gsell auf. »Und wenn man das schlechte Deutsch liest, ist auch klar, woher diese Menschen kommen.«
Anne sah die Haushälterin erstaunt an. Diese bemerkte den Blick und schob erklärend hinterher: »Na ja, von der Russenmafia halt, oder? Kein Deutsch können, aber Deutsche umbringen, so schaut’s doch aus.«
Im Auto beklagte sich Lisa, dass sie hungrig sei. Anne gab ihr einen Fruchtriegel, den sie in weiser Voraussicht eingesteckt hatte.
»Den mag ich aber nicht, ich mag was richtiges Süßes«, beschwerte sich die Fünfjährige.
»Ein Fruchtriegel ist was Süßes«, sagte Anne bestimmt. Dann wolle sie lieber gar nichts essen, kam es von ihrer Tochter zurück.
Sepp Kastner schüttelte den Kopf. Der Kleinen fehlte ganz offensichtlich ein Vater, dachte er bei sich. Dafür, dass Kinder ohne vernünftigen männlichen Erziehungsanteil Saufratzen wurden, war Lisa Loop das beste Beispiel.
Als die drei ausstiegen, wollte Lisa wissen, wo denn eigentlich Bernhard sei. In München, gab Anne zurück.
»Und warum kommt er nicht mehr zu uns?«
»Der kommt schon wieder zu uns«, erwiderte Anne und sah, wie Sepp Kastner die Ohren spitzte.
»Aber als wir ihn in München gesucht haben, da war er doch gar nicht da«, entlarvte Lisa die gespielte Gewissheit der Mutter. »Ist der Bernhard von uns abgehauen?«
»Nein, Lisa, ich habe dir doch erklärt, dass Bernhard krank ist und erst wieder gesund werden muss.«
»Ist dein Freund immer noch weg?«, fragte Kastner und versuchte dabei nicht zu interessiert zu klingen, was ihn linkisch wirken ließ. Anne nickte und spürte, wie ihr schon wieder die Tränen in die Augen drückten.
»Also wenn ich dir, euch …«, begann Kastner, aber Anne würgte ihn mit einem »Schon gut, ich weiß, du hilfst uns, wenn wir Hilfe brauchen, aber wir brauchen keine Hilfe!«ab, nahm ihre Tochter an die Hand und ging entschlossenen Schritts ins Dienstgebäude.
Kastner blieb kopfschüttelnd zurück. Frauen sollte mal einer verstehen, dachte er sich. Da habe eine keinen Mann, und da wäre einer, der wie gemacht wäre für sie, und dann wolle sie den aber nicht … Ganz absichtlich ließ er sich länger Zeit, hielt noch einen Schwatz mit den Kollegen an der Pforte, ehe auch er ins Dienstzimmer hochging.
Lisa kniete auf einem Stuhl an dem kleinen Ablagetisch, der zwischen Kastners und Annes Schreibtisch stand, und malte. Anne, die an ihrem Schreibtisch saß, hatte die beiden Teile des zerrissenen Blatts vor sich liegen und betrachtete sie konzentriert. Es musste aus einem Block Kürschners stammen. Doch hatten ganz offensichtlich die Kammerjäger es beschrieben. Warum hatten sie dazu ein Blatt des Milliardärs verwendet?
»Und, was hat euch die Frau Gsell Wichtiges zum Zeigen g’habt?«, fragte Nonnenmacher in die Stille hinein. Beinahe lautlos war er eingetreten. Seit sein Magen sich still verhielt, konnte er sich an Kollegen anpirschen wie schon lange nicht mehr. Er beschloss, bei nächster Gelegenheit eine Lanze für Frauenzeitschriften zu brechen.
»Den Rest vom Brief«, antwortete Kastner.
Nonnenmacher trat hinter Anne und las den Text. »Die Kammerjäger«, murmelte er zum Schluss belustigt, dann, bitter: »Das bringt uns genauso wenig weiter wie der Brief, den wo ihr bei der Evi gefunden habt.«
»Wie meinen Sie das?«, fragte Anne interessiert.
»No ja, ich hab’ diese Rosenheim-Connection vom Ferdl halt einmal abgecheckt, während ihr da so wichtig herumg’schaftelt habt’s.«
»Ja und?«, bohrte Kastner ungeduldig nach. »Was hast du rausgefunden?«
»Dass da nix war. Das hab’ ich mir gleich gedacht, dass der Ferdl keiner ist, der wo sich ein G’spusi leistet.«
»Ja, aber was war mit der Frau?«, wollte Anne wissen.
»Es war halt eine entfernte Cousine vom Ferdl, die wo in einem Café bedient hat, aber da war nie was zwischen den beiden«, erklärte er.
»Und die Strümpfe?«, fragte Kastner.
»Das waren warme Socken für den Winter – nix Seide, ihr seid’s mir so Sex-Phantasten.« Eine Weile lang schaute Nonnenmacher zufrieden aus dem Fenster und ließ seinen Blick über den Polizeiparkplatz und den Freisitz für die Polizisten streifen, da platzte ein Kollege in die beinahe andächtige Ruhe hinein: Nonnenmacher müsse sofort runterkommen, sein Typ werde verlangt. Dann drang schon Geschrei vom Erdgeschoss der Dienststelle herauf. Was denn los sei, wollte Nonnenmacher wissen.
»Ein Landwirt, der sagt, dass er dich kennt, und so ein Cabriodepp«, antwortete der Kollege, »ich wollt’ die Sache aufnehmen, aber der Bauer will, dass du das klärst.«
Nonnenmacher schüttelte den Kopf, folgte aber seinem Untergebenen nach unten. Im Hinausgehen rief er noch über die Schulter, ob die Frau Loop bitte auch mitkommen könne, der Sepp Kastner könne ja auf das Kind aufpassen.
Unten stand ein großer, dünner Mann, den Nonnenmacher sofort als den Silbertaler Erwin ausmachte und mit Handschlag begrüßte. Der andere, ein braunhaariger Jungspund mit blonden Strähnchen im Haar, bekleidet mit weißen Slippers, weißer Hose, weißem T-Shirt und mit wahrscheinlich teurer, aber, wie Nonnenmacher fand, lächerlich riesiger Sonnenbrille, wartete vergeblich auf den Handschlag.
Anne hielt sich im Hintergrund, weil ihr nicht klar war, wieso Nonnenmacher sie überhaupt mitgenommen hatte.
»Was gibt’s denn?«, fragte dieser nun seinen Untergebenen.
»Der junge Mann hier – wie war noch der Name?«
»Armin Müller-Bartholdy«, antwortete der Weißgekleidete mit überdeutlicher Aussprache.
»Also, der Herr Müller«, fuhr Nonnenmachers Mitarbeiter fort, »der wo übrigens aus Hamburg kommt, meint, dass der Silbertaler Erwin ihn genötigt hat mit seinem Traktor.«
»Müller-Bartholdy«, sagte dieser, »nicht nur Müller. In der Tat verhält es sich so, dass dieser Herr hier vor mir mit seinem Traktor samt Heuanhänger fuhr, und immer, wenn ich zum Überholen ansetzte, scherte er mit seinem Gefährt aus, sodass ich den Überholvorgang wieder abbrechen musste. Das tat er mehrere Male, was ich durchaus als bedrohlich empfand. Da er mich an meiner freien Fahrt hinderte, erfüllt dies aus meiner Sicht ganz klar den Tatbestand der Nötigung.«
»Stimmt das, Erwin?«, fragte Nonnenmacher streng.
Der lange Silbertaler, den Anne auf mindestens achtundachtzig schätzte, runzelte sein aus unzähligen Falten bestehendes, braun gegerbtes Gesicht und meinte: »Ja also so ganz kann man das nicht sagen, gell.«
»Sondern?«
»Ich glaube, dass der junge Mann halt vielleicht immer grad’ Pech g’habt hat, wenn er überholen hat wollen.«
»Pech gehabt!«, schnaubte der Cabriofahrer.
»Na ja, Herr Silbertaler«, schaltete sich Anne nun ein, um die Emotionen etwas zu bremsen, denn wozu hätte Nonnenmacher sie sonst mitgenommen? »Sind Sie nun mit Ihrem Traktor ausgeschert oder nicht?«
»Es kann schon sein, junges Fräulein, dass gerade dann, wenn der junge Herr Sportwagenfahrer mich hat überholen wollen, ich mit meinem Traktor ein Ausweichmanöver hab’ machen müssen.«
»Ein Ausweichmanöver?«, fragte Anne ungläubig.
»Ja, wegen einem Schlagloch zum Beispiel«, erwiderte Silbertaler durchaus ernst. »Aber wenn das so war, dann war das natürlich reiner Zufall und niemals Absicht.«
Müller-Bartholdy schüttelte aufgebracht den Kopf und sagte schnaubend: »Also so viele Schlaglöcher gibt’s ja gar nicht auf der Straße, die um den See führt.«
»Ja, vielleicht hab’ ich auch einmal wegen einer Mücke einen Ruckler machen müssen«, entgegnete Silbertaler immer noch bierernst. Auch Nonnenmacher behielt seine Gesichtszüge unter Kontrolle.
»Es gibt jetzt ja doch schon wieder einige Mücken, weil’s vom See her so feuchtwarm herdrückt«, erklärte der Bauer. »Und da hat der Hänger wenig Toleranz. Wenn ich jetzt, nur als Beispiel, wegen einer Mücke mit dem Traktor so einen leichten Schlenkerer mach’«, Silbertaler deutete eine abrupte Lenkbewegung an, »dann wirkt sich das natürlich auf den Hänger gewaltig aus. Das kann der junge Herr Rennfahrer durchaus vielleicht zum spüren bekommen haben, gell.«
»Eine Unverschämtheit!«, schimpfte Müller-Bartholdy, der auch für Annes Begriffe, die als Rheinländerin am Tegernsee sprachlich natürlich glatt als Preußin durchging, ein sehr reines Hochdeutsch erklingen ließ. Aus ihrer Sicht war diese ganze Angelegenheit völlig blödsinnig, aber wie sollte man mit einer solchen Sache verfahren?
Nonnenmacher bemerkte, dass Anne nicht weiterwusste, und fragte deshalb den Cabriopreußen nicht gerade freundlich: »Und, was wollen’s jetzt eigentlich?«
»Dass der Herr hier eine angemessene Strafe wegen Nötigung im Straßenverkehr erhält. Eingeräumt hat er den Tatbestand ja.«
»Na, also eingeräumt hab’ ich gar nix, gell, ich bin einfach bloß mit mei’m Hänger aufs Feld gefahren. Und eine Strafe, das geht gar nicht, weil eine Strafe tät’ mich ja vollends ruinieren«, stöhnte der alte Bauer völlig übertrieben auf. »Ich bin ja schon zweiundneunzig.«
Nonnenmacher dachte eine Weile nach, dann polterte er: »Ja Herrschaftszeiten, können mir das nicht anders lösen? Der Landwirtschaft geht’s grad’ nicht so gut, Herr Müller, das haben Sie ja vielleicht auch schon mitbekommen, zumal es ja auch überhaupts keine Zeugen gibt, die wo die Nötigung bestätigen könnten.«
Silbertaler nickte Nonnenmacher dankbar zu, doch als hätte der junge Blonde nur darauf gewartet, zog er sein Mobiltelefon aus der Tasche und meinte: »Ich kann alles beweisen. Ich habe alles mit meinem Handy aufgenommen, alles. Das kann ich Ihnen gerne zeigen, Herr Kommissar.«
Anne sah ganz deutlich, wie ein schuldbewusster Schreck Silbertalers langen Körper durchfuhr. Nonnenmacher ignorierte die Reaktion des Bauern und fragte ruhig: »Soso, dann haben Sie also alles aufm Handy aufgenommen?«
»Ja, das habe ich. Die Beweislage ist also kein Problem. Ich studiere Jura, und mein Vater ist im Übrigen Anwalt, mir ist also durchaus bekannt, wie man eine Beweislage festzurrt.«
»Soso, Sie wissen also, wie man eine Beweislage festzurrt.« Der Dienststellenleiter kratzte sich am Bart. »Und das«, er zeigte auf das Handy, »haben Sie während der Fahrt aufgenommen?«
»Ja, Gott sei Dank«, antwortete der Anwaltssohn. »Sonst würde man ja nicht sehen, wie gefährlich sich Herr Silbertaler im Straßenverkehr benimmt. Immerhin gibt es außer mir ja noch andere Bundesbürger, die hier Urlaub machen.«
»Und Sie saßen am Steuer?«, fragte Nonnenmacher jetzt in einem Tonfall, als hätte er es mit einem Mordverdächtigen zu tun.
»Ja, natürlich«, antwortete sein Gesprächspartner, nun doch leicht verunsichert.
»Tja, dann, Frau Loop«, sagte Nonnenmacher und wandte sich Anne zu, »nehmen Sie jetzt bitte die Personalien von dem jungen Herrn Müller auf und schreiben ihm ein Bußgeld über vierzig Euro aus. Zusätzlich gibt’s auf Handy am Steuer auch noch einen Punkt in Flensburg, glaube ich, das überprüfen’s dann halt noch einmal.«
Der Sportwagenfahrer, der Bauer und Anne sahen Nonnenmacher ungläubig an. Der Junge in der weißen Kluft reagierte als Erster. »Aber das können Sie doch nicht machen, ich habe das Handy doch nur deshalb verwendet, um den Verstoß von diesem Herrn hier festzuhalten!«
»Warum Sie das gemacht haben, ist bei dem Tatbestand vom Handytelefonieren im Auto wurscht«, entgegnete Nonnenmacher. »Außerdem ist es bei uns am Tegernsee so, dass Verstöße noch immer von der Polizei festgehalten werden und nicht von Cabriofahrern aus norddeutschen Tiefebenen.«
Der sportliche Hamburger war sprachlos.
»Das finde ich jetzt aber nicht fair«, wandte Anne vorsichtig ein.
Nonnenmacher lächelte sie an, als hätte er auf diesen Kommentar gewartet, und erwiderte: »Sie meinen, mir könnten da noch ein Auge zudrücken, auch weil der junge Mann vielleicht grad’ im Urlaub ist und es doch schade wär’, wenn er hier mit einem Flensburger Punkt heimfahren tät’?«
Sie nickte.
»Ja, da haben Sie vielleicht recht«, stimmte der Dienststellenleiter gütig zu. »Dann schlage ich vor, wenn alle Seiten – Sie, Herr Müller, Sie, Herr Silbertaler, und Sie, Frau Kollegin Loop – einverstanden sind, dass der ganze Vorfall einfach unter uns bleibt, ganz unbürokratisch.«
Ohne eine Antwort abzuwarten, gab er dem jungen Mann zur Verabschiedung sogar noch die Hand und wünschte ihm einen schönen Urlaub und bestes Wetter. Mit Erwin Silbertaler tauschte er sich dagegen noch über den anstehenden Feueralarm der Tegernseer Freiwilligen Feuerwehr aus, bei der beide Mitglieder waren.
Bereits auf der Treppe in den ersten Stock hörte Anne, dass es in ihrem und Kastners Dienstzimmer laut geworden war. Als sie die Tür öffnete, kauerte Sepp Kastner in der Ecke zwischen Wand und Fenster, direkt vor der Büropalme, die er vor einigen Tagen angeschleppt hatte, und hielt stöhnend beide Hände über seinen Hosenladen. Lisa stand etwas ratlos neben dem Tisch, auf dem sie eben noch gemalt hatte. Das Blatt zeigte auf der linken Seite ein Schiff mit See, in der Bildmitte ein Brautpaar und auf der rechten Seite einen Baum, an dem ein Mann hing. Allerdings war das Seil nicht an seinem Hals befestigt, sondern an einem seiner Beine. Der Kopf hing nach unten, und der Mann lachte.
»Na, was ist denn hier los?«, fragte Anne.
»Die hat mir in die Eier getreten«, schimpfte Sepp Kastner laut. »Das gibt’s ja wohl gar nicht, so ein Luder!«
Sie sah ihre Tochter ernst an. »Stimmt das, Lisa?«
Die Kleine nickte und fing plötzlich an zu weinen. Anne nahm sie in die Arme. »Aber warum denn?«
»Der hat, der hat …«, schluchzte sie, »… der hat mich nicht in Ruhe gelassen.«
»Ich habe bloß mit ihr reden wollen«, verteidigte sich Kastner, immer noch am Boden kauernd.
»Na, deshalb wird sie dich ja wohl nicht getreten haben«, entgegnete Anne leicht aggressiv.
»Der hat mich festgehalten«, presste Lisa jetzt hervor.
»Ja, aber nur, weil sie mir eine reingehauen hat, in den Bauch.«
Es überstieg für den Augenblick Annes Fähigkeit, sich das Szenario vorzustellen, das sich in der kurzen Zeit, in der sie Nonnenmachers beachtliche Mediatorenfähigkeiten hatte kennenlernen dürfen, aus dem Nichts hochgeschaukelt haben musste.
»Aber das musste ich ja auch, weil der hat mich gefragt, wo mein richtiger Papa ist.«
Anne sah Kastner strafend an. »Stimmt das, Sepp?«
»Ich habe nur gemeint, ob sie nicht vielleicht einmal einen richtigen Papa haben will.« Nach kurzem Zögern fügte Sepp, der im Grunde ein ehrlicher Mensch war, hinzu: »Es kann sein, dass es dabei auch zu einem Gespräch darüber kam, wo ihr leiblicher Vater ist, das stimmt schon, aber deswegen muss sie mir ja nicht gleich an meine empfindlichste Stelle treten.«
»Vielleicht hast du sie ja auch an ihrer empfindlichsten Stelle getroffen?«, erwiderte Anne, nun schon versöhnlicher. Dann forderte sie Lisa auf, Kastner die Hand zu geben und sich zu entschuldigen. Doch das lehnte diese mit energischem Kopfschütteln ab und verbarg ihren Kopf an Annes Seite.
»Lisa«, sagte Anne streng, »du hast Sepp wehgetan. Gib ihm die Hand und entschuldige dich.«
Nach einer kurzen Pause kam es leise zurück: »Aber nur entschuldigen, nicht Hand geben.«
Während Anne sich fragte, womit sie sich diesen ganzen Alltagswahnsinn verdient habe, hatte Sepp Kastner sich wieder aus der Hockstellung aufgerafft und seine Beine ausgeschüttelt. Mit bösem Blick hatte er Mutter und Tochter umrundet und war zu Annes Platz gehumpelt, wo die beiden Kammerjägerblätter lagen. Stehend starrte er auf den in zwei Teile gerissenen Zettel.
Genau in diesem Augenblick kämpfte sich ein Sonnenstrahl durch die dichte Wolkendecke des Regentages hindurch und erhellte das kleine Stück Schreibtisch, auf dem das Dokument lag. Und plötzlich murmelte Kastner leise: »Das gibt’s doch nicht, Anne, das gibt’s doch nicht. Schau mal, komm mal schnell her!«
»Was ist denn?«, fragte seine Kollegin, rührte sich aber nicht vom Fleck, weil Lisa sich noch immer an sie drängte.
»Jetzt komm halt mal her, das gibt’s ja gar nicht, unglaublich, das ist die Lösung vom Fichtner-Fall!«
Schnell löste sie sich aus der Umklammerung ihrer Tochter, ging zu ihrem Kollegen hinüber und blickte auf den Zettel. Doch Anne konnte darauf nichts entdecken, was sie nicht schon vorher gesehen hätte.
»Was meinst du?«, fragte sie verständnislos.
»Schau, dort, da kann man eine Schrift unter der Schrift lesen«, erklärte Kastner. »Also, wenn der Lichteinfall stimmt und man richtig steht, dann kann man es lesen, da oben, in dem weißen Bereich, wo nichts geschrieben steht, da hat’s doch den Namen ›Fichtner‹ eingedrückt, oder was meinst du?«
Anne schob ihn ein wenig beiseite, und dann erkannte auch sie es: Auf dem Blatt waren zarte Abdrücke einer Schrift, die vermutlich auf ein anderes, darüber liegendes Blatt geschrieben worden war und sich durchgedrückt hatte. Und tatsächlich konnte sie das Wort »Fichtner« erkennen. Außerdem »Herr Nagel«, »Herr Hörwangl«, und ganz am Ende stand »Gez. Kürschner«. Den Mittelteil konnten sie leider nicht lesen, weil dort der Brief der Kammerjäger an Kürschner das Durchgedrückte überdeckte.
»Das ist ein Brief von Kürschner an die Kammerjäger«, schlussfolgerte Anne. »Der Fall ist noch nicht abgeschlossen.«
»Genau, und der Brief wurde auf ein Blatt geschrieben, das sich weiter oben in dem Block von dieser Bank befand«, ergänzte Kastner.
Und Anne sinnierte: »Jetzt wäre es nur noch interessant, herauszufinden, was in dem Brief steht.« Sie hielt das Blatt in unterschiedlichen Winkeln ins Licht, doch wegen der Kammerjägerinschrift ließ sich auch unter Einsatz höchster Phantasie der eingedrückte Kürschner-Brief nicht entziffern.
»Jetzt brauchen mir die Kripo doch noch«, stellte Kastner trocken fest. »So was ist für die Miesbacher ein Kinderspiel.«
Fünf Minuten später saßen die drei im Streifenwagen, auf dem Weg nach Miesbach. Sebastian Schönwetter hatte Anne am Telefon seine vollste Unterstützung zugesichert, auch wenn er nicht ganz verstanden hatte, was die Kollegin genau von ihm wollte. Annes Gefühl sagte ihr zudem, dass die bereitwillige Unterstützung nicht in erster Linie durch sein Interesse an dem Fall motiviert war.
Der schlanke, muskulöse Kripomann begrüßte Anne mit zwei Küsschen auf die Wangen, Sepp Kastner mit Handschlag. Auch Lisa, die er sofort als Annes Tochter identifiziert hatte, versuchte er zu begrüßen, doch Lisa versteckte sich hinter ihrer Mutter und ließ sich dort nicht hervorlocken.
Schönwetter stellte keine Fragen darüber, warum Lisa mit dabei war, sondern führte die drei in sein Arbeitszimmer, das etwa doppelt so groß wie das von Anne und Sepp war und in dem eine Wand komplett mit Tierpostern bedeckt war. Anne und Sepp Kaster waren ziemlich überrascht, denn eher hatten sie mit Bildern von Surfern und braun gebrannten Bikinimädchen gerechnet. Als Schönwetter die Blicke sah, bemerkte er, fast entschuldigend: »Unsere heimischen Tiere, meine große Leidenschaft.«
Sepp Kastner nickte anerkennend, und Lisa rief, indem sie auf ein Foto deutete: »Ein Hirsch!«, was Sebastian Schönwetter aufrichtig zu freuen schien. Dann forderte er die drei auf, sich zu setzen, schenkte jedem Wasser ein und fragte, was genau sie von ihm wollten.
Anne zeigte ihm das Blatt, das sie zur Sicherheit in eine Klarsichthülle gesteckt hatte, und wollte wissen, ob sie hier in der Kripodienststelle die Möglichkeit hätten, die eingedrückte Schrift sichtbar zu machen.
»No problem«, entgegnete Schönwetter, telefonierte kurz einen Kollegen herbei, der das Blatt abholte und eine Viertelstunde später mit diesem und einem zweiten Zettel zurückkehrte.
In der Zwischenzeit hatte Schönwetter seine Tegernseer Kollegen über die Erkenntnisse der Spurensicherung im Fall Kürschner unterrichtet: dass alle vorgefundenen Fingerabdrücke mit keinem aus der Verbrecherkartei übereinstimmten; dass an der Leiche, außer den Verletzungen, die vermutlich vom Sturz herrührten, keine Spuren von Gewaltanwendung festzustellen waren, dass man aber im Körper des Milliardärs eine Menge medizinischer Wirkstoffe vorgefunden habe. Er berichtete sachlich, nur zum Schluss zeigte er sich erstaunt: »Dass sich Menschen das antun – dass sie einen Beruf ausüben, der sie derart quält, dass sie sich mit Medikamenten und Beruhigungsmitteln, also Gift, vollpumpen müssen, um ihn überhaupt zu ertragen! Sollen sie halt weniger arbeiten und mehr wandern gehen, die Berge sind doch das beste Beruhigungsmittel, das es gibt.«
Sepp Kastner und Anne schwiegen beeindruckt. Zumindest in diesem Moment konnten sie sich dem Charisma des Kripobeamten nicht entziehen. Schönwetter war zwar beim letzten Einsatz hochnäsig gewesen, aber jetzt zeigte er sich von seiner sympathischen Seite.
Dann lasen sie gemeinsam den Text, den Schönwetters Kollege entziffert und schnell in den Computer getippt und ausgedruckt hatte:
Sehr geehrter Herr Fichtner, Herr Nagel, Herr Hörwangl und Herr Amend, wenn Sie mich von Ihren unberechtigten Forderungen nicht unverzüglich verschonen, wird das Lied von den Kleinen Negerlein wahr. Sie wissen, dass es da auch erst zehn waren und dann immer weniger wurden. Lassen Sie mich in Ruhe! Gez. Kürschner
»Können Sie damit etwas anfangen?«, fragte Schönwetter, dem Kürschners Zeilen ganz offensichtlich überhaupt nichts sagten.
Anne spielte ihre Aufregung herunter und erwiderte: »Ja schon, aber das ist für den Kürschner-Fall, glaube ich, nicht mehr von Bedeutung, oder, was meinst du, Sepp?«
Ihr Kollege nickte zustimmend.
Dann hatte Schönwetter es auf einmal sehr eilig. »Brauchen Sie noch etwas, sonst müsste ich jetzt …«
Schnell verabschiedeten sie sich, und das Trio machte sich wieder auf den Weg zurück an den Tegernsee.
»Der Kürschner hat also die Kammerjäger bedroht«, konstatierte Anne, als sie wieder neben Sepp Kastner im Dienstwagen saß. »Oder wie verstehst du das mit den Negerlein?«
»Ich weiß nicht, ob ich da zu weit gehe«, tat Kastner seine Meinung kund, »aber ich denke, dass der damit klargemacht hat, dass er sie auch umbringen tät’, wenn’s drauf ankäm’.«
»So sehe ich das auch. Eine Art Morddrohung.«
»Und dann«, ergänzte Kastner, »ist plötzlich einer von den Kammerjägern tot: der Fichtner.«
Anne nickte. »Genau, und alles sieht nach Selbstmord aus.«
Kastner kombinierte weiter: »Es ist aber keiner, sondern nur der Beginn einer Mordserie – einer nach dem anderen sollte sterben.«
»Es sei denn, sie hätten den Kürschner in Ruhe gelassen«, fügte seine Kollegin hinzu.
»Genau«, bestätigte Kastner, und beide schwiegen zufrieden.
So einen Schmarren habe er schon lange nicht mehr gehört, empörte sich Nonnenmacher, als Anne Loop und Sepp Kastner ihn mit ihrer brandneuen Theorie konfrontierten. Wie sie sich das denn vorstellten, dass der klein gewachsene Milliardär, der zudem noch gebrechlich gewesen sei, den großen Fichtner am helllichten Tag an einem Baum aufgehängt habe?
»Der Kürschner war nur eins achtundsechzig groß und der Ferdl mindestens über eins neunzig. Das geht nicht zusammen.« Weil alle drei schwiegen – Lisa malte derweil allein in Annes und Kastners Zimmer –, gewann Nonnenmacher Zeit zum Nachdenken und fügte bestimmt hinzu: »Er muss es natürlich nicht selber gemacht haben.«
»Eben, Kurt, ein Milliardär macht sich die Finger doch nicht selbst schmutzig«, stimmte Kastner ihm zu.
Der Dienststellenleiter sinnierte weiter: »Er hat sich einen Handlanger, einen Profikiller gekauft.« Nun blickte er Anne und Kastner direkt an. »Leute, das schaut gut aus. Das ist eine Spur, die müssen mir verfolgen. Habt’s das Umfeld vom Kürschner schon abgecheckt? Gibt’s da einen, der wo infrage kommt?«
»Der kann auch einen von der Russenmafia beauftragt haben«, meinte Kastner. »Ich hab’ gelesen, dass die teilweise aus Sibirien eingeflogen werden, einen Auftragsmord begehen und dann gleich wieder weg sind. So hinterlassen die null Spuren. Verfolgung zwecklos.«
»Jetzt schaut’s doch erst mal in Kürschners Umfeld – ob da nicht einer infrage kommt, bevor mir die Ermittlungen nach Sibirien verlagern«, brummte Nonnenmacher.
In den nächsten Tagen überprüften Sepp Kastner und Anne Loop alle engen Mitarbeiter des Milliardärs. Grundlage der Überprüfung war eine Liste, die sie gemeinsam mit Kürschners Haushälterin Elisabeth Gsell erstellt hatten, ohne ihr zu sagen, worum es genau ging. Sie hatten Gsell nur gebeten, alle wichtigen Männer in Kürschners Umfeld aufzuzählen und kurz zu beschreiben. Vor allem interessierte die beiden Ermittler bei der Beschreibung, wie groß und sportlich der jeweilige Mitarbeiter sei, was die Haushälterin aber nicht zu erstaunen schien.
Anne machte die gemeinsame Arbeit mit Sepp Kastner so viel Spaß, dass sie auch abends noch bei ihr zu Hause zusammensaßen und, wenn Lisa ins Bett gegangen war, über ihrer Liste brüteten. So war Anne nie allein und hatte auch keine Zeit, darüber nachzudenken, was mit Bernhard sein mochte. Und Kastner spürte, dass es unklug wäre, jetzt, da ihre Zusammenarbeit so harmonisch funktionierte, private Annäherungsversuche zu unternehmen. Er hatte den Eindruck, dass die Zeit für ihn lief. Denn dieser vermeintliche Lebensgefährte war ja eh nie da. Und wer saß bei Anne abends um zehn noch auf dem Sofa? Natürlich er.
Auf der gemeinsam erstellten Liste standen anfangs vierzehn enge Mitarbeiter Kürschners. Dazu zählten einige Geschäftsführer und Vorstände der in seinen Konzern eingegliederten Unternehmen, dazu gehörten die Gärtner der Grünwalder und der Tegernseer Villa des Milliardärs, außerdem sein Leibwächter, der gleichzeitig sein Fahrer war, der Hausmeister, der hauptsächlich für das Grünwalder Anwesen zuständig war, manchmal aber auch an den Tegernsee musste, um nach dem Rechten zu sehen, und sein persönlicher Assistent, der sich in erster Linie darum kümmerte, das Privatleben des Milliardärs von der Öffentlichkeit abzuschirmen und zu organisieren.
Die Geschäftsführer und Vorstände sortierten Anne und Kastner gleich zu Beginn aus, da sie davon ausgingen, dass diese für einen Auftragsmord nicht infrage kamen.
Interessant erschienen ihnen aber die Gärtner, der Leibwächter, der Hausmeister und der aus Argentinien stammende persönliche Assistent, der, wie sie nach mehrmaliger Befragung von Elisabeth Gsell herausfanden, eher als eine Art Diener Kürschners fungierte.
Aber auch in diesem engeren Kreis gab es Männer, die wohl nicht für die Tat infrage kamen: Der Tegernseer Gärtner war bereits im Pensionsalter, ihm war es nicht zuzutrauen, einen schweren Mann wie Ferdinand Fichtner an einem Baum aufzuhängen.
Der Hausmeister aus München-Grünwald war zwar noch nicht sehr alt, aber mit seinen 1,73 Metern recht schmächtig. Der persönliche Assistent war erst sechsunddreißig Jahre alt und immerhin über 1,80 Meter groß, doch nach einigem Herumgedruckse hatte die Haushälterin des Milliardärs damit herausgerückt, dass der Herr Jean-Pierre sich mehr für Männer interessiere als für Frauen und dass er obendrein einen Waschzwang habe. Anne hätte ihn aus diesen Gründen nicht von der Liste der infrage kommenden Mörder genommen, doch Sepp Kastner fand es unvorstellbar, dass ein schwuler Argentinier mit einer Dreckphobie imstande sei, einen gestandenen Tegernseer Bauern zu überwältigen und dann auch noch an einem Baum am Leeberg aufzuhängen. Das würde geradezu an ein Wunder grenzen.
Am Ende beschlossen Anne und Sepp Kastner, sich zunächst auf den Münchner Gärtner und den Leibwächter zu konzentrieren. Der Leibwächter hieß Frank Hundt und wohnte, wie auch der auf der Liste verbliebene Gärtner, in einem Kürschner gehörenden Mehrfamilienhaus in Unterhaching, einer Nachbargemeinde des Münchner Nobelvororts Grünwald.
Hundt war vierundvierzig Jahre alt, fast zwei Meter groß und hatte vor seiner Zeit bei Kürschner als Feldwebel der Bundeswehr gedient. Er hatte eine Frau und zwei Kinder, und Gsell glaubte, dass er bereits seit elf Jahren, oder sogar schon länger, für Kürschner tätig sei. Da Kürschner wegen seines weitverzweigten Firmennetzes viel reisen hatte müssen, schätzte Gsell, dass Hundt der Mann war, der von allen engen Mitarbeitern des Milliardärs am meisten Zeit mit Kürschner verbracht hatte. Denn der Assistent Jean-Pierre sei in erster Linie im Grünwalder Haus und telefonisch für Kürschner tätig gewesen.
Der Grünwalder Gärtner hieß Alfred Endlkramer, war zweiundfünfzig Jahre alt und lebte allein. Von ihm wusste Frau Gsell nicht viel, da sich ihre Wege selten kreuzten, für den Grundnerhof am Tegernsee gab es ja noch den anderen Gärtner.
»Was sagt dein Gefühl, Seppi – war es der Gärtner oder der Leibwächter?«, fragte Anne ihren Kollegen eines Abends, als sie gerade wieder über dem Fall brüteten.
»Es ist doch eigentlich immer der Gärtner, oder?«, scherzte Sepp Kastner, dem nicht entgangen war, dass Anne ihn als »Seppi« angesprochen hatte, was sie schon lange nicht mehr getan hatte.
»Wollen wir morgen mal nach Unterhaching fahren und die beiden besuchen?«, schlug Anne vor.
»Ja, schon«, meinte Sepp. »Aber was machst du mit Lisa?«
Anne war völlig überrascht, wie ihr Kollege auf einmal für sie mitdachte, sagte dann aber: »Wir müssen halt gleich los, wenn sie im Kindergarten ist, und mittags wieder zurück sein. Das müssten wir doch schaffen, oder?«
Das Haus, in dem Frank Hundt und Alfred Endlkramer wohnten, befand sich in einem Wohngebiet. Anne schätzte, dass es Anfang der Achtzigerjahre erbaut worden war. Den Klingelschildern nach zu urteilen, lebten noch zwei weitere Mietparteien darin. Frank Hundt bewohnte die Wohnung im Erdgeschoss, Alfred Endlkramer die ganz oben.
Als sie bei Hundt klingelten, öffnete ihnen eine Frau, etwa in Annes Alter. Da die beiden Polizisten keine Uniform trugen, schlug die Frau die Tür gleich wieder mit dem Hinweis zu, dass sie nichts kaufen wolle. Hinter ihr war ein Kind in der Wohnung zu hören.
Durch die geschlossene Tür erklärte Anne, dass sie von der Polizei seien und Herrn Hundt zu sprechen wünschten. Da öffnete Frau Hundt die Tür, und die beiden Ermittler betraten den weiß gefliesten Flur, der sehr aufgeräumt wirkte. Als das Kind die Fremden sah, wollte es von seiner Mutter auf den Arm genommen werden, was diese unverzüglich tat. Dann forderte sie die beiden Besucher auf, ihr durch die Wohnung nach hinten zu folgen, da ihr Mann auf der Terrasse sitze.
Hundt machte auf Anne einen sympathischen Eindruck. Er studierte gerade die Stellenanzeigen einer Zeitung und stand sofort auf, um die beiden Polizisten mit kräftigem Handschlag zu begrüßen.
»Wir wollten uns mit Ihnen ein wenig über Herrn Kürschner unterhalten«, erklärte Anne freundlich.
»Ja, da hab’ ich jetzt ein richtiges Problem«, entgegnete Hundt. »Es muss ja irgendwie weitergehen bei uns, auch wenn der Herr Kürschner tot ist. Ich brauch’ eine neue Arbeitsstelle. Such’ gerade.«
Das Gespräch plätscherte dahin, Hundt kam Anne überhaupt nicht wie ein Leibwächter vor, eher wie ein Arzt. Er strahlte nichts Gewalttätiges aus und erzählte in den höchsten Tönen von den Jahren, die er für den Milliardär hatte arbeiten dürfen. Es sei eine Ehre gewesen, und Kürschners unerwarteter Tod sei für ihn persönlich wie beruflich eine Katastrophe.
Nach einer halben Stunde verließen die Polizisten die Hundts und stiegen hinauf zu Alfred Endlkramers Wohnung, in der es stark nach dem Rauch billiger Zigarren roch. Außerdem klebten überall, auf dem Sofa, den Stühlen, dem Teppich und den Vorhängen, Haare eines Tiers. Im Lauf des Gesprächs stellte sich heraus, dass Endlkramer bis vor einem Dreivierteljahr einen Hund gehabt hatte, den er dann aber habe einschläfern lassen müssen, weil er zu alt gewesen sei. »Irgendwann ist’s halt leider für jeden aus«, merkte der Gärtner lapidar an.
Auf die Frage, wie oft er am Tegernsee gewesen sei, erwiderte Endlkramer hastig, dass er da eigentlich gar nie hin sei, weil der Kürschner dort ja einen eigenen Gärtner gehabt habe. Er habe zwar immer angeboten, diesen Job auch mitzuerledigen, aber der Kürschner habe das nicht gewollt. Warum, wisse er nicht. Im Übrigen halte er den Gärtner vom Tegernsee für einen ausgemachten Deppen, jedenfalls danach zu urteilen, was die Frau Gsell ihm am Telefon immer erzählt habe. Der habe zu völlig unsinnigen Zeiten Pflanzen eingesetzt, die dann natürlich nicht gewachsen seien. Wenn man ein Gärtner sei, müsse man behutsam mit der Natur umgehen, schließlich sei sie ebenso Bestandteil der Schöpfung wie der Mensch. Ob er sehr gläubig sei, wollte Kastner von ihm wissen.
»Ich bin Zeuge Jehovas«, gab der Gärtner freimütig zu. »Was wollen Sie eigentlich von mir?«
»Wir ermitteln in einer Straftat, die möglicherweise mit dem Tod von Herrn Kürschner zusammenhängt«, antwortete Anne etwas nebulös.
»Ist was weggekommen?«, fragte der Gärtner neugierig, erhielt darauf aber keine Antwort.
Anne blickte sich in der Wohnung um. »Dürften wir uns noch ein bisschen bei Ihnen umsehen?«
»Ja schon«, meinte der braun gebrannte Mann. »Wenn ich gewusst hätte, dass Sie kommen, hätte ich halt noch aufgeräumt.«
Er führte die beiden durch die stickige Zweizimmerwohnung. Sein Schlafzimmer wirkte, als hätte er die Rollläden bereits seit Jahren nicht mehr geöffnet. Der faulige Geruch raubte den beiden Polizisten den Atem. Die Glühbirne der Deckenlampe war kaputt, ein Nachttischlämpchen sorgte für spärliches Licht in dem muffigen Zimmer. Türklinken und Schränke klebten. Anne fand es so eklig, dass sie die Wohnung schnell wieder verlassen wollte, und ging zur Haustür.
Auch Sepp Kastner war schon fast im Hausflur, da fiel ihm noch etwas ein: »Ach, Herr Endlkramer, könnten wir denn noch einen Blick in Ihren Keller werfen?«
»In den Keller?«, fragte Endlkramer und wirkte kurz irritiert. Dann fing er sich aber und folgte mit einem »Ja klar« den Polizisten nach unten. Auf dem Weg warnte er Anne und Kastner allerdings, dass er da unten schon lange nicht mehr gewesen sei.
Der Keller bestand aus einem Raum für die Waschmaschinen und zum Wäscheaufhängen, einem Fahrradkeller und drei separaten Kellerabteilen, die jeweils durch Holzlattenverschläge voneinander getrennt waren. Endlkramers Kellerabteil, dessen Lattentür er mit einem alten Teppich blickdicht verkleidet hatte, war so vollgestopft, dass es ihm zunächst nicht gelang, die nach innen gehende Tür zu öffnen. Als er es dann schaffte, flogen ihm ein alter Wäscheständer und ein Motorradhelm entgegen. Im Nachbarkeller standen nur einige Farbeimer und ein Paar Skier, und im dritten Keller, den ein Schild als den der Familie von Frank Hundt kennzeichnete, war auch alles aufgeräumt. Relativ nahe an der Tür stand auf einem Regal ein Paar gebrauchter Trekkingschuhe, und an einem Stück Wäscheschnur hingen mehrere Karabiner.
Die Ermittler bedankten sich bei Alfred Endlkramer und setzten sich wieder in ihren Wagen.
»Was meinst du?«, wollte Anne von ihrem Kollegen wissen.
»War wohl nix«, meinte dieser. Dann schwiegen beide, bis sie auf der Autobahn A8 waren.
Plötzlich schrie Anne so laut »Halt! Wir müssen umkehren!«, dass Sepp Kastner vor Schreck eine Vollbremsung hinlegte.
»Ja, bist du wahnsinnig«, fuhr er Anne wütend an, »was erschreckst du mich so?«, und gab wieder Gas.
»Seppi, wir müssen umkehren, wir haben etwas übersehen«, sagte Anne aufgeregt.
Kastner schüttelte den Kopf: »Das geht jetzt nicht, wir müssen zurück nach Tegernsee, sonst kommen mir zu spät zum Kindergarten. Mir müssen doch die Lisa abholen.«
»Ach ja, die Lisa«, sagte Anne. »Mist!«
»Was haben mir denn vergessen?«, fragte Sepp, während er nun wieder die normale Geschwindigkeit aufgenommen hatte und in Richtung Tegernsee weiterfuhr.
Anne sprach langsam, es wirkte, als überlege sie sich jedes Wort genau: »Seit wir das Haus verlassen haben, hatte ich die ganze Zeit das Gefühl, dass ich etwas gesehen habe, was von Bedeutung ist, aber mir fiel nicht ein, was es war.«
»Ja, und was war es?«, fragte er ungeduldig.
»Ruf dir den Keller ins Gedächtnis«, forderte sie ihn auf.
»Anne, jetzt mach’s nicht so spannend!«
Seine Kollegin ließ sich aber nicht beirren, sie wollte testen, ob Kastner selbst draufkam, denn nur dann, glaubte sie, hätte ihre Theorie Hand und Fuß. »Denk an den Keller vom Gärtner. War da irgendwas Besonderes?«
»Ja, ein Riesenverhau war da!«, schrie Kastner jetzt. »Wie in der ganzen Wohnung auch, der Endlkramer ist ein Messie.«
»Genau«, sagte Anne. »Dann denk mal weiter. Wie sahen die anderen Kellerabteile aus?«
»Aufgeräumt!«, schrie Kastner, der Verzweiflung nahe.
»Stimmt, sehr aufgeräumt. Erinnerst du dich noch, was da alles drin stand?«
»Ski, Stöcke, ein Fahrrad, Farbe«, zählte Kastner auf, »Schuhe, bunte Karabinerhaken …«
»Bingo!«, rief Anne.
»Was, Bingo?«, wollte Kastner wissen.
»Die Schuhe, Seppi, und die Karabiner!«
»Was soll damit sein?«
»Karabiner, die braucht man doch zum Klettern!«
Ihr Kollege schaute sie noch immer verständnislos an.
»Seppi, Mensch, mit was wurde Fichtner erhängt?«
Langsam verstand er.
»Und wie sahen die Schuhe aus? Konzentrier dich, Seppi, bitte!«, flehte Anne.
»Na ja, die waren halt nicht neu, Trekkingschuhe, ganz normal«, kramte er aus seiner Erinnerung hervor.
»Wirklich ganz normal?«, fragte Anne nun scharf nach. »Was war an ihnen anders als an anderen gebrauchten Schuhen?«
Sepp gab auf. Er wusste es nicht. »Keine Ahnung.«
»Sie waren picobello sauber, geputzt, geschrubbt, und das, obwohl es sich um alte, gebrauchte Schuhe handelte. Was sagt uns das?«
»Dass du einen Vogel hast.«.
»Nein, dass sie erst kürzlich picobello sauber geputzt und geschrubbt worden sind, und zwar so lange und ausgiebig, bis keine einzige Dreckspur mehr an ihnen war. So, Seppi, und jetzt sag mir mal, wie war die Bodenbeschaffenheit am Tag von Fichtners Tod?«
»Woher soll ich das wissen?«
»Liest du unsere Ermittlungsakten nicht? Der Boden war feucht und weich«, dozierte Anne jetzt. »Wenn ein schwerer Mann mit Trekkingschuhen durch einen feuchten und weichen Boden geht, vielleicht auch einmal im Matsch versinkt, was passiert dann mit seinen Schuhen?«
»Sie werden schmutzig«, entgegnete Sepp lustlos.
»Genau. Und was macht einer, wenn er nicht will, dass man den Dreck vom Tatort an seinen Schuhen findet?«
Sepp ließ die Frage unbeantwortet und nahm gerade noch die Ausfahrt Brunnthal, um auf der anderen Seite der Autobahn zurück in Richtung München zu fahren.
Doch wieder war er es, der Anne an Lisa erinnerte – und vorschlug, dass seine Mutter das Kind vom Kindergarten abholen solle.
»Das geht nicht«, konstatierte Anne, denn die Kindergärtnerin würde das Kind niemals seiner Mutter mitgeben. Im Kindergarten existiere eine Liste, auf der genau stehe, wer welches Kind abholen dürfe. Wenn da seine Mutter ankomme, würde die Frau sie nicht hergeben. Anne hatte gerade erneut und sehr laut »Mist« gerufen, da klingelte ihr Handy. Es war ihre Telefonnummer von zu Hause, Tegernsee. Ihr Herz klopfte.
»Hallo?«
Es war Bernhard. Doch Anne, die voll in Fahrt war, ließ ihn nicht zu Wort kommen: »Bernhard, erzähl mir das bitte alles später. Der Sepp und ich stehen gerade kurz vor dem Durchbruch. Tu mir einen Gefallen, hol die Lisa vom Kindergarten ab. Ich komme so schnell wie möglich nach Hause!« Pause. »Ja, du musst sofort los. Ciao!«
Wenige Minuten später nahmen sie den Leibwächter des toten Milliardärs Alfons Kürschner, den ehemaligen Bundeswehrsoldaten Frank Hundt, fest, gerade als dieser seinem eben vom Kindergarten heimgekehrten Sohn ein Stück Pizza klein schnitt. Frank Hundt wehrte sich nicht und ließ sich auch bereitwillig in den Keller führen, um dort seine Trekkingschuhe zu holen.
In der von Anne geführten Vernehmung, bei der auch der Kripomann Schönwetter und der Wiesseer Polizeichef Nonnenmacher anwesend waren, fasste die junge Polizistin den Leibwächter hart an. Dennoch leugnete Frank Hundt alles – bis Anne zum Erstaunen ihrer Kollegen die Trekkingschuhe des Verdächtigen auf den Tisch stellte und aus einer Plastiktüte, die sie unter ihrem Stuhl hervorholte, einen Gipsabdruck zog.
»Herr Hundt, wir sind uns doch einig, dass diese Schuhe hier Ihre sind, oder?« Anne deutete auf die Trekkingstiefel. Hundt nickte irritiert.
»Und würden Sie mir auch zustimmen, wenn ich sage, dass dieser Gipsabdruck hier zu hundert Prozent mit der Sohle Ihres linken Schuhs übereinstimmt?« Sie hielt den Schuh mit der Sohle nach oben neben den Gips. Hundt antwortete nicht, sondern senkte den Blick. Dafür rissen Kastner und Nonnenmacher die Augen weit auf. Ihnen war völlig unerklärlich, wo dieser Gipsabdruck plötzlich herkam.
»Diesen Gipsabdruck habe ich …«, Anne hielt inne, warf Nonnenmacher einen kessen Blick zu und wandte sich dann erklärend an Schönwetter, »… haben wir zwei Tage nach Fichtners Tod am Tatort gesichert.«
Der Rest der Vernehmung war, so sollte es am Abend Nonnenmacher seiner Frau erzählen, »eine g’mahte Wies’n«: Hundt gab unumwunden zu, dass er es gewesen war, der Fichtner im Wald aufgelauert und umgebracht hatte. Auf die Frage, wie es ihm gelungen sei, den schweren Bauern am Baum aufzuhängen, ohne dass an dessen Körper Kampfspuren zu entdecken waren, hatte Hundt erklärt, dass er den Landwirt erst mit einem äthergetränkten Tuch betäubt, ihm dann eine Schlinge um den Hals gelegt und ihn schließlich daran am Baum hinaufgezogen habe.
Erstaunt reagierte Hundt auf Sepp Kastners Frage nach dem Hosenträger im Schritt: »Wie meinen Sie das?«
»Na ja, Sie haben doch den Hosenträger zwischen den Beinen vom Fichtner Ferdl durchgezogen. Warum haben’s das gemacht?«, fragte Kastner ungeduldig.
»Ich habe da nichts gemacht«, gab der Leibwächter zurück, woraufhin sich der an sich sachliche Gesprächston in den nächsten Minuten radikal verschlechterte. Erst als Sebastian Schönwetter, der sich bislang zurückgehalten hatte, eingriff und Hundt durch gezielte Fragen zu einer präziseren Darstellung des Tatablaufs zwang, kam heraus, dass Hundt den Bauern überwältigt hatte, als dieser gerade seinen Pullover ausziehen wollte, also zu einem Zeitpunkt, als dessen Hosenträger nicht an ihrem üblichen Platz gewesen waren. Allmählich erinnerte sich Hundt dann auch daran, dass mit den Hosenträgern etwas gewesen war, dass er aber in der Eile und unter dem Einfluss der Angst, entdeckt zu werden, diese wohl an der falschen Stelle zugeknipst haben musste. Sicher könne er das aber nicht sagen.
Als Schönwetter sich mit diesem Ergebnis zufriedengab, wollte Anne Loop jedoch noch wissen, wie es denn überhaupt so weit habe kommen können, dass er, Hundt, sich bereit erklärt habe, den unschuldigen Bauern zu töten, obwohl er Ferdinand Fichtner gar nicht gekannt habe.
Einsilbig antwortete der Leibwächter: Kürschner habe gedroht, ihn hinauszuwerfen, wenn er den Mordauftrag nicht ausführe.
Anne war fassungslos. »Aber meinen Sie, dass man für den Arbeitsplatz einen anderen Menschen umbringen darf? Meinen Sie, das ist in Ordnung?«
»Wissen Sie«, erwiderte Hundt, »ich habe neben meiner jetzigen Frau und den zwei Kindern, die bei uns wohnen, noch drei weitere aus einer früheren Ehe durchzubringen.« Während Hundt weitersprach, blickte er betreten zu Boden: Herr Kürschner habe ihn weit über Tarif bezahlt. Er habe sich gedacht, wenn er jetzt, in der Wirtschaftskrise, arbeitslos werde, könnte er sich gerade umbringen.
Da habe er das kleinere Übel gewählt und den Fichtner aufgehängt. So sei das nun mal in harten Zeiten: Jeder muss selbst sehen, wo er bleibt.