AUF ANDERE MENSCHEN HÖREN
MUSST DU DAS WIRKLICH?
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ndere Menschen. Diejenigen, die uns zu manchen Sachen ermutigen und dann dieses Getane kritisieren und verurteilen. Wir alle gehören zu jemandem. Und es kann schwierig sein, die Motivationen hinter den Kommentaren, Ratschlägen und Hilfestellungen der Menschen zu deuten. Manchmal wollen sie unser Bestes, aber häufig wollen sie sich nur bezüglich ihrer eigenen Entscheidungen, Möglichkeiten und Sichtweisen auf die Welt bestätigt fühlen.
Wann immer du eine Entscheidung triffst, die von der Norm abweicht, verunsicherst du andere damit ungewollt. Wir sind alle verschieden geprägt und haben unterschiedliche Beziehungen untereinander – berufliche, freundschaftliche, romantische, manchmal gefärbt mit einem Hauch Hass oder Neid –, die aufeinanderprallen können, wenn wir miteinander in Kontakt treten. Der Finanzbereich bildet da keine Ausnahme: Andere Menschen haben eine Meinung über uns und wir lassen uns davon beeinflussen.
Eines Tages sagte ein Freund etwas, das mir in Erinnerung geblieben ist wie ein Ohrwurm: »Was andere haben, nimmt dir nichts weg.«
Das mag simpel klingen, verweist aber auf etwas viel tiefer Liegendes. Mein Freund hatte aus etwas, das ich während eines Gesprächs gesagt hatte, Neid herausgehört. Tiefgrüner Neid. Wir beneiden andere darum, ein anderes Leben zu führen, eine andere Realität zu haben, ein anderes Wohlstandsniveau. Aber warum konzentrieren wir uns nicht darauf, unseren eigenen Weg zu gehen und die Reise zu genießen?
Auf der gewundenen Straße der persönlichen Finanzen ist es unvernünftig, deinen Nachbarn nachzuahmen. Der Begriff »persönliche Finanzen« enthält ein wichtiges Wort: persönlich
. Wieso? Weil wir nicht das Leben anderer Menschen leben. Wir haben weder ihr Glück noch ihr physisches Erscheinungsbild noch ihre individuellen gesundheitlichen Probleme. Wir haben
nicht dieselbe Ausbildung oder dieselben Möglichkeiten. Jeder Lebensweg erzeugt eine andere finanzielle Realität.
Wenn wir die Finanzen anderer Menschen auf der Basis dessen beurteilen, was sie ausgeben, verpassen wir den ganzheitlichen Ansatz. Man muss eine ganze Meile in den Schuhen anderer gelaufen sein, um ihre Reise zu verstehen, ihre langfristigen Bedürfnisse, ihre Risikotoleranz, ihre persönliche Realität und ihr Finanzprofil. Sich nur auf ihre Ausgaben zu konzentrieren, lässt dich möglicherweise vergessen, dass sie vielleicht ein Vermögen haben, mit dem sie ihre Ausgaben finanzieren.
Andere
Unsere Art des Konsums wird eindeutig von dem beeinflusst, was andere sich wünschen. Wann halten wir inne, um uns zu fragen, ob es wirklich das ist, was wir uns wünschen? Wozu dieser ständige Konsum? Um anderen zu gefallen? Um uns mit anderen zu vergleichen? Um uns mit anderen zu verstehen?
Freiheit bedeutet nichts anderes, als dass man nichts mehr zu verlieren hat. Es ist die Macht, das eigene Leben zu verändern.
Freiheit ist auch die Macht, nicht im Gefängnis zu enden. Es ist schwierig, eine gesunde Perspektive in einer Welt aufrechtzuerhalten, in der ein ständiger Druck zum Ausgeben, Leisten und Übertreffen existiert. Wir suchen nach dem Besonderen, das schlichtweg Normale beeindruckt uns nicht länger.
Es ist zum Beispiel befremdlich, einen Tag in der freien Natur zu verbringen, wenn wir in einer Stadt aufgewachsen sind. Da draußen kann man nichts kaufen. Du musst Wege finden, dich zu amüsieren, ohne Bier zu kaufen. (Ist dir schon mal aufgefallen, dass eine Verabredung mit anderen oft die Einladung zum Konsum beinhaltet?) »Sollen wir ein Bier trinken gehen?« oder »Sollen wir abends essen gehen?« Wir fühlen uns nicht wohl damit, einfach zu sagen: »Lass uns später treffen« oder »Sollen wir ein Glas Wasser trinken gehen?«
Unsere Beziehung mit anderen ermutigt Konsum, als würden wir uns fürchten, kein Ziel zu haben, oder als müssten wir Geld ausgeben, um die Atmosphäre für ein Treffen herzustellen
.
Einflüsse
Im Januar 2003 habe ich mir eine legere Winterjacke gekauft. Sie hält mich immer noch warm. Sie ist immer noch in einem guten Zustand. Aber fast immer, wenn ich sie trage, sagt irgendjemand: »Wow, du hast immer noch deine HEC Commerce Games-Jacke? Wie kommt’s?« Weil sie immer noch gut ist. Das hören die Leute nicht gern. In demselben Zeitraum haben sie vier Jacken getragen, weil sie die »wirklich brauchten«. Der Zipper am Reißverschluss ist kaputt? Besser einen neuen Mantel kaufen.
Obwohl meine Jacke nicht brandneu aussieht, behalte ich sie, aus Überzeugung und vielleicht auch ein bisschen aus Sturheit. Ich möchte mir beweisen, dass ich kein Sklave des Konsums um seiner selbst willen bin. Ohne die Beurteilung durch andere gäbe es keinen Grund, eine neue zu kaufen. Mit 38 Jahren hört man auf, es wichtig zu nehmen, was andere über die eigenen Klamotten denken. Vielleicht lachen jüngere Menschen deshalb manchmal darüber, wie Ältere sich kleiden. Aber diese Älteren haben es möglicherweise kapiert. Warum etwas wegwerfen, wenn es noch gut ist? Woher kommt dieser übertriebene Wunsch, neue Sachen zu kaufen?
Für viele von uns sind die Studienjahre magere Jahre. Ich erinnere mich an meine abgelaufenen Schuhe an der HEC Montréal und den zu oft getragenen Pulli. Ein Kommilitone fragte mich einmal: »Du liebst diesen Pulli, stimmt’s?« Er verstand nicht, wo ich herkam. Das konnte er auch nicht. Mit zwei oder drei Hosen, die man abwechselnd anzieht, durchs gesamte Studium zu kommen, ist für viele Studenten eine Realität. Ich fürchtete mich vor Schulden so sehr wie vor der Pest.
Sich ein dickes Fell gegenüber den Kommentaren anderer zuzulegen, ist nicht einfach. Die Wahrnehmung anderer beeinflusst unseren sozialen Wert, unseren Marktwert als Individuum. Sag mir, was du trägst, und ich sage dir, zu welchen Kreisen du gehörst.
So bizarr das wirken mag, zahllose Botschaften in der Popkultur verstärken die Vorstellung, dass es beinahe besser ist, am Kreditlimit zu leben, denn als arm bezeichnet zu werden.
Auswahl treffen
Die Sache ist die: Eine Auswahl zu treffen, kann nicht mit Geiz gleichgesetzt werden; es bedeutet lediglich, dass du bevorzugst, dein Geld für etwas anderes auszugeben. Du spendierst deinen Freunden vielleicht eine Runde Bier,
auch wenn du einen alten Mantel trägst. Du fährst vielleicht ein altes Auto, unternimmst aber teure Reisen oder gehst regelmäßig essen.
Niemand kann einen Lebensstil lediglich auf Basis eines einzelnen Budgetpostens beurteilen. Aber haben wir nicht alle schon irgendwann einmal zu hören bekommen: »Komm schon, das kannst du dir leisten!« oder »Du arbeitest hart. Wieso belohnst du dich nicht ein bisschen?« Aber wir sind nicht die anderen. Die Fähigkeit, unter finanziellem Druck leben zu können, unterscheidet sich von Mensch zu Mensch.
Der Ratschlag von anderen ist oft der Feind Nummer eins unserer persönlichen Finanzen. Auf die Warnungen anderer zu hören, lässt uns profitable Investitionen verpassen. Diese impulsive andere Person bringt uns dazu, etwas zu kaufen, das uns in finanzieller Hinsicht für Monate die Hände bindet. Die pragmatische andere Person sagt, wie es ist, hält uns jedoch davon ab, vom vielleicht Möglichen zu träumen oder unsere Karten auszuspielen.
Hinter dem erwarteten Wert (möglicher Ertrag multipliziert mit der Wahrscheinlichkeit),
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gibt es manchmal Möglichkeiten, bei denen du wissen musst, wie man sie ergreift. Was ist schließlich mit den eifersüchtigen oder neidischen anderen Menschen, die auf einen Weg zeigen, der von deinen Zielen wegführt, nur damit sie sich in ihren eigenen Entscheidungen bestärken können?
Was häufig fehlt, ist ein offener anderer. Wenn wir sagen: »Ich habe keine Wahl«, kann uns jemand Ehrliches den Kopf zurechtrücken. Natürlich haben wir eine Wahl, insbesondere dann, wenn es um unsere persönlichen Finanzen geht.
Wenn du von der Hand in den Mund lebst, sind deine Wahlmöglichkeiten natürlich eingeschränkt. Wenn du in Kanada weniger als 18.000 Dollar (Anm. d. Übers.: das Existenzminimum liegt in Deutschland bei 13.600 Euro) im Jahr zur Verfügung hast, reicht das gerade für das Nötigste. Mit einem derart niedrigen Einkommen können uns ein paar schlechte Entscheidungen für den Rest unserer Tage in eine Spirale versäumter Zahlungen und Schulden stürzen.
Menschen, die behaupten, keine Wahl zu haben, suchen nach Zustimmung. Finden sie diese leicht, so fühlen sie sich bestätigt und erhalten ihren Lebensstil aufrecht. Man muss neuen Ideen ausgesetzt sein, um sich ändern zu können. Manchmal ist es nötig, eine Wand niederzureißen – nämlich die, die es ihnen erlaubt, von den Gläubigern erdrückt zu
werden.
Wage es, du selbst zu sein
Für ein ausgewogenes Bild zur Beurteilung anderer liegt der Schlüssel möglicherweise darin, Zeit mit Menschen unterschiedlichen Hintergrunds zu verbringen. Wenn du in einem Freundschaftskokon lebst, wirst du wie dein Facebook-Account: Dein Denkalgorithmus beschränkt sich auf den Personenkreis, der sich so ernährt, Geld ausgibt und lebt wie du selbst.
Regelmäßig in andere soziale Umgebungen einzutauchen, lässt dich das wertschätzen, was du hast, und macht dich aufgeschlossen gegenüber anderen Varianten, um deine persönlichen Finanzen zu managen. Soziale Vielfalt ist wichtig: Sie erlaubt uns, danach zu streben, besser zu sein, und ermuntert uns, unser Glück (oder auch Elend) bewusst wahrzunehmen.
Das beste Gegenüber, das du finden kannst, ist vermutlich deine Bilanz: Haben und Soll gegenüber Einnahmen und Ausgaben. Das sehen wir uns nicht gerade oft an. Wir ignorieren sie sogar systematisch. Sie spricht nicht von Liebe, Gefühlen oder Impulsivität. Dabei ist sie aufrichtig, ehrlich und pragmatisch, sie lässt uns überprüfen, ob wir ein bisschen lockerer werden können.
Andere sind definitionsgemäß nicht wir. Sie müssen nicht mit den Konsequenzen unserer Finanzentscheidungen leben. Die größte Herausforderung für ein vernünftiges Management der persönlichen Finanzen besteht darin, der Versuchung zu widerstehen, im Blick anderer zu leben oder sich von ihnen definieren zu lassen.
Das ultimative Ziel im Leben besteht nicht darin, in einem öffentlichen Altersheim zu enden und einmal wöchentlich ein Schaumbad zu bekommen. Es wäre bedauerlich, wenn das das Ergebnis einer Reihe schlechter Finanzentscheidungen wäre, wie das Tragen eines Canada-Goose-Parkas für 1.000 Euro im Alter von 25 Jahren oder weil man auf andere gehört hat. Denn das brauchst du wirklich nicht.