VERREISEN
MUSST DU DAS WIRKLICH?
I ch kann dich beim Lesen dieser Kapitelüberschrift förmlich mit den Zähnen knirschen hören. Dein Blutdruck steigt und du möchtest am liebsten auf Facebook eine Schimpftirade über mich loslassen. Der Text dafür steht sogar schon grob.
Sei versichert, dass ich deiner Meinung bin: Es ist schön, zu verreisen, neue Horizonte zu erforschen, eine andere Welt zu erleben, zu lernen, zu leben und zu fragen. Ich meine, sollen wir denn überhaupt keinen Spaß mehr haben? Doch. Aber es ist vielleicht an der Zeit, über unsere Reisebesessenheit zu reden.
Verreisen ist wie Glasur: Zuerst musst du einen Kuchen backen, auf dem du sie verteilen kannst. Ersparnisse sind der Kuchen. Die Vorstellung von »reise jetzt, zahle später« ist ja schön und gut, aber in ein paar Jahren wird dich dieses Versäumnis kosten. Finanzielle Versäumnisse sind wie Zinseszinsen: Im Laufe der Jahre wächst ihr Einfluss exponentiell.
Sich mit einer Reise zu belohnen, ist keine Leistung, sondern eine Ausgabe, wie ein Whirlpool auf der Terrasse (sicher, zusätzlich zu einer kurzen neuen Erfahrung und Erinnerungen für ein ganzes Leben). Verreisen ist eine rein finanzielle Entscheidung. Du weist einen Teil deines Budgets dem Flug, dem Essen und der Unterkunft in einem anderen Teil der Welt zu.
Das ist keine Leistung – es ist ein Luxus, der deinen diesjährigen Rentensparplan schmälert. Verspeist du im Italienurlaub quasi deine Rente? Ich hoffe, der Teller Nudeln war richtig gut, denn er wird dich viel mehr kosten als die gezahlten 15 Euro.
Das Verreisen wieder in die richtige Perspektive rücken
Eines Tages saß ich in einem örtlichen Café und korrigierte die Arbeiten meiner Studenten. Am Tisch gegenüber gab eine Frau Anfang 20 einer Journalistin ein Interview über ihre Reisen. Sie erklärte, dass sie auf ihren Reisen die unterschiedlichsten Menschen kennenlernte, die sie aufnahmen, verköstigten etc.
Im Grunde lautete die Botschaft: »Ich möchte nicht so wie andere arbeiten. Ich bin Teil von etwas Größerem. Ich werde mein Leben mit Reisen verbringen. Arbeit ist nichts für mich. Ich arbeite gerade genug, um verreisen zu können.«
Sie schaute auf unsere Gesellschaft mit ihren verschrobenen Werten und dem Materialismus herab (oder zumindest klang es so). Mit einem Haus und Kindern festzusitzen, interessierte sie nicht. Vielleicht war es eine Zurschaustellung der vorübergehenden, arroganten Naivität der Jugend, aber ich konnte sehen, dass sich die Journalistin für ihr Leben in einem Vorstadtbungalow verurteilt fühlte.
Schön und gut, dass diese junge Frau auf unsere strukturierte Welt herabsah, aber diese Welt baut eben auch die Flugzeuge, mit denen sie fliegt. Diese Welt stellt auch die Lebensmittel her, die sie isst, und transportiert diese sowie die Materialien für ihre Reiseausrüstung.
Außerdem ist es einfach, wie ein Parasit bei anderen zu wohnen, wenn man eine junge Frau Anfang 20 ist. Später wird das weitaus schwieriger. Reisen kann unsere Jugend formen, aber man kann sich nur eine Zeitlang auf die ökonomische Realität junger Menschen verlassen, um das Übernachten bei anderen zu rechtfertigen.
Für wen verreist du?
Irgendwo tief in unserem Inneren wollen wir es alle tun. Abhauen und die tägliche Routine und Plackerei hinter uns lassen. Manchmal denken wir, wir seien für etwas Größeres bestimmt als andere. Wir alle denken das. Aber was haben wir denn wirklich so Besonderes an uns? Das Bedürfnis, uns anders zu fühlen? Das Bedürfnis, uns lebendig zu fühlen? Vielleicht. Glaub es mir, ich kann das nachvollziehen. Die Sache ist nur, dass zwar die Reisemöglichkeiten unendlich sind, unsere Finanzen jedoch nicht.
Ich habe ein paar ernste Fragen an dich.
Wenn du verreist, für wen tust du das wirklich? Ist es nur wegen des Gruppendrucks, damit du sagen kannst, dass du irgendwo gewesen bist?
Im Grunde deines Herzens, was willst du sehen? Verreist du, weil du es wirklich möchtest oder aus Gründen sozialer Akzeptanz? Du machst deine Freunde vielleicht neidisch, aber bewundern werden sie dich dafür nicht.
Wozu schießt du während deiner Reise 12.350 Fotos? Hoffentlich nicht für deine Freunde. Ehrlich gesagt freuen wir uns ja, dass du eine schöne Zeit hattest, aber länger als 15 Minuten deine Bilder anzugucken, schaffen wir einfach nicht.
Was verbirgt sich hinter deinem Wunsch, in Touristenfallen in anderen Ländern Geld auszugeben?
Du bist zu gut für ein gewöhnliches Leben? Das Gewöhnliche des einen Menschen ist das Außergewöhnliche des anderen. Deshalb besuchst du das Gewöhnliche in einem anderen Land.
Vor wem läufst du davon, von einer Touristenattraktion zur nächsten, wie ein Huhn mit abgeschlagenem Kopf?
Wenn dich jemand fragt, »Wohin fährst du in den Urlaub?«, bist du nie versucht, zu antworten, »Nirgendwohin«?
Dieses süße Gefühl des Urlaubs, was so viel heißt wie »nicht arbeiten, sondern die Tage ohne Hetze und Stress zu genießen«: Wieso ist ein Urlaub auf Balkonien keine Option?
Vielleicht verreist du, um zu sehen, wie gut du es zu Hause hast. Aber wovor versuchst du zu fliehen, wenn du ins Ausland fliegst, sobald du fünf Tage am Stück frei hast? Deine Freundin oder dein Freund liebt dich nicht wirklich? Deine Beziehung? Dein Job? Deine Gedanken? Alles klar.
Die wirtschaftliche Kehrseite des Reisens
Indem sie viel reisen, steigern Weltenbummler die Nachfrage nach internationalen Flügen, machen Fluggesellschaften profitabel und helfen der Demokratisierung von Flugreisen.
2014 reisten 3,3 Milliarden Menschen auf diesem Planeten mit dem Flugzeug. 39 Flugreisen tragen jedoch stark zur Luftverschmutzung bei. Eine Maschine mit so vielen Passagieren und ihrem Gepäck in die Luft zu bringen, erfordert eine Menge Kraft, die während des Flugs aufrechterhalten werden muss.
Das erzeugt ökonomische Externalitäten: Wir verschmutzen die Luft. Ohne den realen Preis dafür zu zahlen. Unsere angehenden Globetrotter und ihr Entdeckungshunger tragen zu einer Steigerung des Luftverkehrs und der Verschmutzung bei, was letztlich der Gesellschaft schadet.
Studentenreisen
Humanitäres Verreisen und Studentenreisen haben etwas Eigenwilliges an sich. Natürlich ist es großartig, jungen Menschen die Möglichkeit zum Reisen zu geben. Aber aus rein ökonomischer Sicht ergibt irgendetwas daran keinen Sinn. Fundraising Activities zielen auf Familien, Freunde, Einkäufer im Supermarkt und alle, die erreicht werden können, ab. Im Grunde werden Menschen, die selbst kein Geld zum Verreisen haben, gefragt, ob sie einen Teil zur Reise eines jungen Menschen beitragen. Finanziell gesehen versuchen die Studenten also, ihre Reisen zu subventionieren.
Diese Art des Reisens hat auch positive Aspekte: die Welt sehen, etwas über die Kluft zwischen Arm und Reich lernen, kulturelle Sensibilität erlangen. Dennoch verstärken Studenten, die Gelder für Reisemöglichkeiten sammeln, die Botschaft, dass andere für das zahlen werden, was sie haben wollen.
FÜR EINEN JOB IN DER REISEBRANCHE STUDIEREN
Deine Leidenschaft für das Verreisen weckt vielleicht den Wunsch nach einem Job in der Reisebranche. Aber möchtest du wirklich in einem Büro Reisen verkaufen? Was ist der Unterschied zwischen dem Verkaufen von Reisen und einem Fünf-Gänge-Menü? Du reist nicht wirklich: Du bist nur im Verkauf .
Du bekommst jedes Jahr eine Gratisreise? Toll! Aber warum suchst du dir nicht einfach einen besser bezahlten Job und machst jedes Jahr eine selbst bezahlte Reise? Anders ausgedrückt: Du solltest dir dein Studienfach nicht auf Basis der Reisen aussuchen; du solltest dich für deine Fachrichtung entscheiden und dann damit verreisen.
Das lässt mich an Universitätsprogramme wie an internationalen Handel denken. Der Name enthält das Wort international , aber welchen Job bekommst du damit tatsächlich? Es mag sexy klingen, aber die Realität ist eine gänzlich andere. Du denkst wirklich, du würdest mehr reisen? Du würdest im Ausland leben? Wie gefragt sind die Fähigkeiten, eine Reisetasche zu packen und unempfindlich gegenüber Jetlag zu sein, auf dem Arbeitsmarkt?
Kannst du Internationale Wirtschaftsprüfung studieren? Nein. Wirtschaftsprüfung gibt es überall und die Standards sind international. Also, Allerwelts-Wirtschaftsprüfer können beruflich reisen, wenn sie es sich so wünschen. Um im Ausland zu arbeiten, ist kein Abschluss nötig, der aufgemotzt wird mit dem Wort international .
Ich liebe das Verreisen
Praktisch jeder möchte reisen. Ich möchte öfter verreisen. Aber in meinem Alter musst du für regelmäßige Reisen reich, leichtsinnig oder ein Steuerhinterzieher sein. Ein verantwortungsbewusstes Finanzleben ist teuer. Es ist in Ordnung, eine Reisevorliebe zu hegen, aber es ist nun mal so, dass manche Menschen zu viele Verpflichtungen und Schulden für häufiges Reisen haben. Wenn es um die persönlichen Finanzen geht, ist es in Ordnung, solange du mit 35 zwei Jahresgehälter auf der hohen Kante hast. Wie bitte? Zwei Jahresgehälter? Bist du verrückt? Selbst mit niedrigen Renditen ist das finanziell machbar – es sei denn, du versäufst deine Ersparnisse lieber in Strandbars.
Also, du bist 35 und hast eine Facebook-Seite mit vielen Erinnerungen darauf. Weiter so! Und was ist mit deiner Altersvorsorge und sonstigen Sparplänen? Wie läuft es damit? Verreisen, das brauchst du wirklich – aber zu welchem Preis? Ich weiß, ich langweile dich. Aber denk auch ein bisschen an deine Zukunft …