DER KLEINE DOROTEOIN DEN HÖHLEN VON TRES MONTAÑAS,

ALS ER BEREITS UNSTERBLICH GEWORDEN WAR

Es war genau hier, in Tres Montañas, wo ich Gerónimo kennengelernt habe, sagte der kleine Doroteo, der, in eine Decke gehüllt, auf einer Matte vor dem Feuer lag. So ausgestreckt auf dem Boden, ernst, die Stirn die ganze Zeit in Sorgenfalten gelegt – schmale Augen, kräftiges Haar, platte Nase –, ähnelte er einem Puma. Am Ende des Winters hatte die Sierra ihren Preis gefordert: Er atmete schwer wie eine Lokomotive. Es waren keine leichten Tage. In die Berge zurückzukehren, wieder auf der Flucht und so gut wie allein, ganze Tage in voller Montur in irgendeiner Schlucht auszuharren, die Nächte in einer Höhle, war für den kleinen Doroteo Niederlage und Gedächtnisübung zugleich. Sich so zu bewegen, dass der Feind glaubt, er sei hinter dir her, während du in Wahrheit hinter ihm her bist, das haben wir von ihm gelernt, fuhr er fort. Von wem?, fragte einer der Männer, die mit ihm um das Feuer lagen. Von Gerónimo, oder nicht direkt von ihm, aber von seinen Chiricahua; Gerónimo war wie ein Phantom, wenn er in die Berge ritt, hat ihn keiner mehr gesehen; aber er ließ uns immer von ein oder zwei Kriegern beschatten. Der kleine Doroteo zog eine Hand unter der Decke hervor, strich sich übers Gesicht und beendete seine Geschichte, nach der ihn keiner gefragt hatte – nicht, weil seine Männer sich nicht für ihn interessiert hätten, sondern, weil keiner es wagte, ihn unaufgefordert anzusprechen: Da sind sie, hat mein Herr Vater zu mir gesagt und auf die Berge gezeigt; er hat sie gerochen.

Der große Doroteo war schon so viele Jahre tot, dass der kleine sich kaum noch an sein Gesicht erinnerte, obwohl er jeden Tag an ihn dachte, seit er wieder in den Bergen war. Er erinnerte sich, was sein Vater ihm über den Kampf in engen Schluchten, aber vor allem über Saufgelage und Prügeleien beigebracht hatte; an den Tag, als er sich selbst, noch ein Kind, mit einer Machete zwischen ihn und seine Mutter gestellt hatte, der Vater wie von Sinnen von Schnaps und Elend, wie immer, wenn er zu viel Zeit auf der Ranch verbracht hatte. Er erinnerte sich daran, wie er mit seiner Mutter und seiner Schwester geflohen war, die Reise in den Süden, in die Berge von Durango, wo sie noch einmal von vorn begannen.

Ich glaube, mein Herr Vater wollte nicht, dass die Gringos Gerónimo schnappen, weil er wusste, dass er dann keine Arbeit mehr hätte; deshalb hat er es immer nur mir gesagt, wenn er sie sah. Er flüsterte mir ins Ohr: Vorsicht, Doroteo, da sind sie, bleib dicht bei den anderen.

Schon damals habe ihn keiner mehr kleiner Doroteo genannt, wie noch Gatewood und Parker beim Feldzug in der Sierra Madre. Sie hätten es nicht einmal gewagt, ihn beim Namen zu rufen. Damals war er bereits neununddreißig und hatte unzählige Tote auf dem Gewissen, auch wenn man ihm weder sein Alter noch seine blutige Personalakte ansah. Er war umgänglich, jugendlich, manchmal sogar lustig. Nur wenn er wütend wurde, hielt man sich besser von ihm fern. Auf dem Höhepunkt seiner Karriere traf er die grausamsten Entscheidungen mit einem Schulterzucken: »Tut mir leid, Freunde«, wandte er sich etwa an Gefangene, »auch wenn ihr mehr als hundert seid, müssen wir euch erschießen.«

Am Ende seiner letzten Flucht in die Berge, im unwirtlichen Oktober 1916, war ihm kaum etwas außer seinem Ruf geblieben. Als der kleine Doroteo in einer der Höhlen von Tres Montañas unter seinem Poncho vor dem Lagerfeuer lag, hatte er gerade einmal noch vier Männer um sich, zwei davon Cousins, die beiden anderen durch Heirat mit seiner Familie verbunden. Alle anderen hatte er weggeschickt, nachdem er erfahren hatte, dass Präsident Wilson fürs Erste eine Truppe von fünftausend Soldaten der amerikanischen Kavallerie unter dem Kommando von Black Jack Pershing gesandt hatte, um jenseits der Grenze seine Verfolgung aufzunehmen – eine in ihrer Unverhältnismäßigkeit rätselhafte Aktion.

Das Leben hatte dem kleinen Doroteo mit seiner üblichen Grausamkeit zugesetzt, doch außerdem mit jener Gewalt, die eine ganze Generation von Mexikanern zwang, ständig mit zusammengebissenen Zähnen und geladener Pistole herumzulaufen. Der kleine Doroteo konnte sich an keine Nacht seit Beginn der Revolution im Jahr 1910 erinnern, in der er unbewaffnet eingeschlafen wäre, keinen Abend, an dem er sich mit seinen Freunden hinsetzen, ein Stück geröstetes Fleisch essen, ein paar Bier trinken und anschließend diskret nach Hause hätte torkeln können, um sich unbeschwert ins Bett zu legen und bis zum nächsten Tag seinen Rausch auszuschlafen. Er erinnerte sich nicht daran, dass er sich je in eine Frau verliebt hätte, die nicht aus dem Stand mit gezückter Pistole einen Zug überfallen konnte. Er gehörte zu den Männern und Frauen, die, immer, wenn sie mal kurz verschwinden mussten, jemand anderem Bescheid sagten, damit der ihnen dabei Deckung gab. Menschen, die das Ende einer Welt und die Geburt einer neuen erlebt hatten. Darin, und weil er unter einem Namen lebte, der nicht sein eigener war, glich er ebenfalls Gerónimo.

Nur seine Frau, die für die Zeit des Feldzugs auf einer Ranch in Parral geblieben war, wagte, ihn noch Doroteo zu nennen. Alle anderen nannten ihn, immer mit einem Hauch Angst zwischen Zunge und Gaumen, »mein General«. An dem Tag, als er seiner Frau mitteilte, er werde am Abend wieder in die Schlacht ziehen, saßen sie in dem Militärzug, der ihnen seit einigen Jahren als bewegliches Zuhause diente. Er erklärte, dass er ihr ein paar Männer dalassen werde, die sie zur Ranch eskortieren und ihr in seiner Abwesenheit helfen würden, sich um die Kinder zu kümmern, und dass sie die Ranch nie ohne Begleitung verlassen dürfe. Sie versuchte, ihn von seinem Vorhaben abzubringen – sie war die Einzige, die das konnte. Wofür willst du kämpfen, Doroteo Arango, fragte sie ihn, wo die Konstitutionalisten dich bereits geschlagen haben und du weder eine Armee noch Waffen hast? Er antwortete breit grinsend, als wäre es das Normalste von der Welt: Ich nehme nur wenige Waffen und Männer mit, weil ich die Vereinigten Staaten von Amerika überfallen werde.

Anschließend ritt er mit seinen letzten Männern in die Nacht hinein. Sie waren so wenig, knapp über achtzig, dass sie eher einer Bande Apachen ähnelten – von denen er schließlich gelernt hatte, wie man zwischen Felsen verschwindet, ein komplettes Rind als Proviant für unterwegs dörrt und aus vollem Galopp schießt. Sie überquerten die Grenze und überfielen Columbus, New Mexico. Präsident Wilson schickte Pershing, damit er die Verfolgung aufnahm – auch um auf diese Weise den bevorstehenden Einmarsch in Europa zu üben –, und sandte General Parker zum Fort Sam Houston in San Antonio, damit er die Truppen für den Einmarsch in Mexiko in Bereitschaft versetzte. Parker hätte nie gedacht, dass er den gefürchteten Revolutionsgeneral, den er verfolgen sollte, bereits als Kind getroffen hatte – dass der kleine Doroteo und Pancho Villa ein und dieselbe Person waren.

Er hob den Kopf und bat einen seiner Cousins um eine Tasse von dem Kaffee, den dieser gerade trank. Sie werden nicht schlafen können, mein General, sagte der Cousin. Du weißt, dass ich sowieso nie schlafe, erwiderte der kleine Doroteo. Da haben Sie recht. Der General stützte sich mit dem Ellbogen auf der Matte auf. Ich glaube, als wir ihn hier getroffen haben, wusste Gerónimo bereits, dass die Tage seines Aufstands gezählt waren – mein Vater hat seine Krieger kein einziges Mal erspäht, und Don Carlitos’ Apachen sind nur auf sie gestoßen, weil die Föderalisten sie schon umzingelt hatten. Einer der Soldaten schreckte aus seinem Halbschlaf hoch und fragte: Welcher Don Carlitos, welche Apachen, welche Föderalisten, mein General, bei allem Respekt, ich verstehe gar nichts.

Don Carlitos Gatewood war ein Gringo, ein Freund von Gerónimo, antwortete Doroteo; er war Soldat, aber bei seinen Feldzügen trug er immer einen Dreiteiler, keine Ahnung, warum; er hatte einen dichten Schnauzbart, eine große Nase, war immer etwas kränklich, aber ein echter Gentleman. Von den zig amerikanischen Offizieren, die meinen Vater immer wieder engagiert haben, um Apachen in Mexiko zu jagen, war Don Carlitos der Einzige, der nicht Däumchen drehte, denn er hatte zwei Fährtenleser, die eine Stecknadel in einem Heuhaufen gefunden hätten. Einer von ihnen war ein waschechter Apache, den Namen habe ich vergessen, aber er hat nicht viel gesagt, wirkte immer abwesend, so, wie diese Mistkerle sind, bis sie ihr wahres Gesicht zeigen. Der andere hat mehr mit uns geredet, weil er als Kind von einer mexikanischen Familie adoptiert worden war, und obwohl er eines Tages zurück in die Berge gegangen ist, blieb er immer ein halber Mexikaner und mochte meinen Vater. Er hieß Martín. Er war es auch, der zu Don Carlitos und den Gringos sagte, dass sie Gerónimo nur schnappen könnten, wenn sie zuerst die Föderalisten fänden; und wenn sie tagelang weder die einen noch die anderen fänden, dann deshalb, weil Gerónimo und die Föderalisten längst woanders seien. Gemeinsam konnten Martín und Don Carlitos den Hauptmann der Truppe, die sich an der Biegung des Rio Aros versammelt hatte, davon überzeugen, und sie machten sich auf den Weg nach Norden, in das Gebiet der Sierra, wo Gerónimo – wie jeder außer den bescheuerten, immer orientierungslosen Gringos wusste – sich am wohlsten fühlte.

Weil die Regierung der Vereinigten Staaten ihnen keine Waffen mehr geliefert und sich dafür entschieden hatte, den konstitutionalistischen Caudillo Venustiano Carranza als Präsident des neuen, revolutionären Mexiko zu unterstützen, waren Pancho Villa und seine Männer in New Mexico eingefallen und hatten die Kommandantur von Columbus gestürmt. Keiner hatte damit gerechnet, dass ihm gelingen würde, was bisher noch nie jemand gewagt hatte: die Vereinigten Staaten zu überfallen.

Er steckte den Militärposten von Camp Furlong in Brand, den die bewaffneten Dorfbewohner zu verteidigen versuchten, nachdem die Mexikaner die dort stationierten Soldaten besiegt hatten. Er nahm sämtliche Pferde und Waffen und Munition mit. Die Tat des kleinen Doroteo war der reinste Wahnsinn, und er hatte nicht einmal berücksichtigt, dass in diesem Jahr in den Vereinigten Staaten Wahlen anstanden: Für Präsident Wilson war ein Feldzug, der auf den ersten Blick leicht zu gewinnen schien und ihm weitere vier Jahre an der Macht sichern würde, um sich voll und ganz in den Krieg um Europa zu stürzen, ein Geschenk des Himmels.

Wer weiß, was Villa durch den Kopf ging, als er beschloss, es sei eine gute Idee, die Vereinigten Staaten zu überfallen, doch er hatte bestimmt nicht bedacht, dass die USA mit einer Streitmacht, die bis zu zehntausend Mann allein in Mexiko umfasste, sowie einem Aufgebot neuer Technologie reagieren würden, von der niemand so genau wusste – sie selbst eingeschlossen –, was sie damit eigentlich anstellen sollten. Pershings Strafexpedition hatte etwas von imperialer Pubertät: Es war der letzte Einsatz der amerikanischen Kavallerie und zugleich die erste Kriegshandlung, bei der benzinbetriebene Wagen und Flugzeuge zum Einsatz kamen.

Ich dachte, Gerónimo sei schon tot, sagte ein anderer seiner Männer. Der kleine Doroteo lachte. Natürlich ist er schon tot, sagte er, als ich ihn kennenlernte, vor etwa dreißig Jahren, war er bestimmt schon um die sechzig, obwohl er aussah wie tausend. Der Krieg hatte ihn fertiggemacht: Er war dürr, hager wie ein Schilfrohr, knorrig. Der General kniff die Augen zusammen, rieb sie sich und fuhr fort: Er hatte diesen breiten Brustkorb der Yaqui, war aber ansonsten völlig abgemagert. Am eindrucksvollsten waren seine Beine: dunkel, robust, als würde der Mistkerl auf zwei Stämmen laufen. Und die Augen: Er sah dich an, und auch wenn er dir nichts Böses wollte, hast du dir vor Angst in die Hose gemacht. Sie waren gelblich, klein, schmal, eine Pupille kleiner als die andere. Er war von der Sonne verbrannt, die ledrige Haut hart und beinahe schwarz. Seine Nase sah aus wie der Schnabel eines Geiers, und er war immer so angepisst, dass seine Mundwinkel nach unten hingen und die Lippen zu einer dünnen Linie zusammengepresst waren. Keine Ahnung, wann er da zum letzten Mal gelacht hatte. Ich glaube, er wusste, dass es sein letzter Tag in Freiheit war, denn er nahm sich Zeit für seine Entscheidung, aber am Ende ergab er sich den Gringos. Und sie machten ihn fertig, mit dieser freundlichen Grausamkeit, zu der nur sie allein fähig sind, so als wären die Schweinereien, die sie begehen, nicht ihre Schuld, sondern die ihrer Opfer. Sie vergaben ihm und ließen ihn am Leben, nur damit er schließlich gedemütigt und betrunken an Altersschwäche krepierte. Sie gewährten ihm nicht mal das Privileg eines schnellen, gerechten und ewigen Todes, wie die Föderalisten ihn ihm zugestanden hätten, einen Tod wie sein Leben. Sie reichten ihn herum wie eine Trophäe, stellten ihn auf ihren Messen wie ein Tier aus, erniedrigten ihn jede verdammte Sekunde seines restlichen Lebens, bis er sich irgendwann selbst erniedrigte.

Seit sie sich, schätzungsweise vor etwa acht Monaten, in die Berge verkrochen hatten, war kaum ein Tag vergangen, an dem der kleine Doroteo nicht an seinen Vater gedacht hatte. Doch jetzt war Gerónimos Gesicht, sein zorniger Ausdruck, an den er sich noch immer erinnerte, obwohl er sein ganzes Leben lang vor Wut zitternde Menschen gesehen hatte, plötzlich wieder vor seinem inneren Auge aufgetaucht. Grund dafür war die Nachricht, dass es der fünften Kavallerie gelungen war, Candelario Cervantes zu töten, weil ihre Apachenfährtenleser ihn entdeckt hatten.

Der General lagerte seit mehreren Tagen mit seinen Leuten zwischen den Pappeln unweit der Stelle, wo der Rio San Bernardino und der Rio Bavispe zusammenflossen, als ein Bote eintraf. Er kam aus Las Varas, um ihm die Nachricht vom Tod eines der Männer zu überbringen, die am längsten an seiner Seite gekämpft hatten. Candelario Cervantes?, fragte General Villa, ich dachte, er sei verhaftet worden. Die anderen konnten fliehen, sogar der einzige Verwundete, aber ihn haben sie erkannt, weil er einen Säbel und den goldenen Stern am Hut trug. Wieso ist er nicht abgehauen, wenn man diese Laster, die die Gringos haben, kilometerweit hört? Der Bote erklärte, die Fünfte habe keine Wagen, weil sie in den Bergen unterwegs sei, und dass Candelario Cervantes’ Männer den Gringos ein paar Pferde gestohlen hätten, weil sie die eigenen hätten essen müssen, dass sie aber nicht damit gerechnet hätten, dass der Hauptmann Apachenfährtenleser habe. Der kleine Doroteo nahm den Sombrero ab und beschrieb mit der Stiefelspitze einen Kreis auf dem steinigen Boden. Also gut, mein Freund, sagte er, du willst sagen, dass die fünfte Kavallerie Apachen dabeihat? Sie sind am frühen Morgen gekommen, Candelario hat es nicht kommen sehen. Haben sie euch die Pferde weggenommen? Die haben wir getötet, bevor wir uns davongemacht haben. Ist gut, sagte der General, komm, meine Männer geben dir zu essen. Er setzte sich den Hut wieder auf. Bevor er in den ersten Taco mit Trockenfleisch und einer Soße biss, die so scharf war, dass ihm die Zunge davon brannte, verkündete er, dass sie das Lager abbrechen müssten und für eine Weile zu den Höhlen hochreiten würden.

Er kroch unter seinem Poncho hervor und legte ihn sich über die Schultern, während er sich im Schneidersitz auf den Boden setzte. Er sah seinem Cousin in die Augen. Bekomme ich jetzt einen Kaffee oder nicht? Sein Verwandter machte eine beschwichtigende Geste und gab sich die allergrößte Mühe beim Einschenken. Als wir mit Don Carlitos unterwegs waren, sagte Villa, während er die Hand ausstreckte, um die Emailletasse entgegenzunehmen, hatten wir uns etwa zwei Wochen lang verirrt, bis ein paar Maultiertreiber in einer Mine, die gerade Maiskolben von ihren Tieren luden, dem Indianer Martín erzählten, sie hätten Gerónimo in der Nähe von Frontera gesehen, er wolle ein Abkommen mit dem Bürgermeister schließen, weil seine Leute am Verhungern seien. Er nahm einen langen Schluck aus seiner Tasse und kniff die Augen zusammen, sodass sie noch schmaler aussahen – der Kaffee war aufgewärmt und schmeckte sauer. Er fuhr fort: Don Carlitos wusste sofort, jetzt oder nie, und bat um Erlaubnis, den Konvoi verlassen zu dürfen. Zusammen mit ihm, seinen Fährtenlesern, zwei Übersetzern für die offiziellen Gespräche und ein paar weiteren Soldaten machten wir uns eilig auf den Weg. Das Regiment folgte uns in seinem eigenen Tempo.

Wir ritten so schnell, dass ich meinen Vater zum ersten Mal im Leben in Sorge um die Maultiere sah – wir hatten nur zwei mitgenommen und die anderen bei der Kolonne des Kavalleriekorps zurückgelassen. Wir brachen abends auf und waren am nächsten Morgen schon vor Fronteras, der Bezirkshauptstadt, wo Don Carlitos ein Gespräch mit keinem Geringeren als dem Präfekten der gesamten Region führte. Der Mann hielt sich dort auf, weil man ihn benachrichtigt hatte, dass Gerónimo gesprächsbereit sei. Bevor er in den Ort ritt, hatte Don Carlitos Martíns Cousin den Befehl erteilt, weiter in Richtung Berge zu reiten und Gerónimos Spur zu suchen, nur für alle Fälle. Von Martín, der in Fronteras für einen Mexikaner, nicht für einen Apachen gehalten wurde, erfuhr ich, dass sich die Föderalisten in der Nacht einzeln in den Ort geschlichen hatten und sich überall versteckten und dass der Präfekt sämtliche Mezcalvorräte des Ortes beschlagnahmt hatte, um ihn während der Verhandlungen den Apachen zu servieren und sie töten zu lassen, sobald sie betrunken waren. Der Präfekt warnte Don Carlitos, wenn er sich einmische, werde er ihn verhaften lassen, worauf der Gringo antwortete, keine Sorge, wo denke er hin, wenn sie die Arbeit erledigen wollten, umso besser. Als er wiederkam, meinte er, wir sollten uns eine Weile ausruhen, sobald die Sonne untergehe, würden wir zum Regiment zurückkehren.

Und das taten wir auch. Noch bei Tageslicht brachen wir in aller Ruhe nach Süden auf, damit der Präfekt und die föderalistischen Soldaten, die er überall in den Bergen postiert hatte, um Gerónimos Leuten den Fluchtweg abzuschneiden, sahen, dass wir uns zurückzogen. In stockfinsterer Nacht trafen wir uns mit Don Carlitos’ Fährtenleser. Er hatte eine Spur entdeckt, der wir folgten. Wir ritten langsam, mit schlotternden Knien, immer in Deckung – und mit einem weißen, am langen Stiel einer Agavenblüte wehenden Mehlsack an der Spitze des Konvois, damit Gerónimos Leute sahen, dass wir in friedlicher Absicht kamen, falls sie uns entdeckten, bevor wir sie entdeckten, wovon auszugehen war. Die beiden Fährtenleser ritten an der Spitze, Don Carlitos und die Übersetzer geschlossen in der Mitte, mein Vater und ich mit den Maultieren am Ende. Was mir am stärksten in Erinnerung geblieben ist, war die Aufregung, als wir einen Cañon durchqueren mussten, in dem jemand als eine Art Warnzeichen ein paar Unterhosen an einen Felsen gehängt hatte. Martín und sein Cousin zögerten. Don Carlitos sagte, er werde voranreiten, er wolle die Ehre haben, als Erster auf dem Schlachtfeld zu sterben, falls die Apachen zwischen den Felsen lauerten. Die Fährtenleser erwiderten, diese Ehre gebühre ihnen allein. Am Ende ritten sie gemeinsam an der Spitze, Don Carlitos mit hochgereckter weißer Fahne.

Zum Glück blieb im Cañon alles ruhig, wir dachten, es sei niemand dort. Später wussten wir, dass wir uns getäuscht hatten, dass die Indianer uns weiter oben folgten und Gerónimo mit Don Carlitos reden wollte. Wir brauchten den ganzen Tag, bis wir die Flussbiegung erreichten, an der wir neulich waren, deshalb habe ich sie wiedererkannt. Wir schlugen unser Lager auf, damit Martín und sein Cousin hierherauf zu den Höhlen steigen konnten, um Gerónimo zu sagen, dass wir in friedlicher Absicht gekommen seien, um mit ihm zu verhandeln, dass er keine Angst zu haben brauche und sich das Regiment zurückhalten werde. Am nächsten Tag, bei Sonnenaufgang, waren sie da.

Der General hielt inne, um einen Schluck Kaffee zu trinken – wenn er als Offizier so erfolgreich war, dann deshalb, weil er es verstanden hatte, sich mit genialen Strategen zu umgeben, und so viel Charisma besaß, dass er selbst einen Stein gerührt hätte, vor allem aber, weil er dieses Gespür für Dramatik hatte, das bedeutende Persönlichkeiten ausmacht. Seine Männer saßen um die glimmende Asche herum und sahen ihn gebannt an, wie vier neugierige Katzen. Er schüttelte den Kopf, verzog den Mund zu einem finsteren Lächeln.

Ihr hättet sie sehen sollen, sagte er und strich sich über den Mund. Sie tauchten zwischen den Felsen auf, einfach so, als hätten sie unter der Erde geschlafen, sie näherten sich nicht, die Arschlöcher, sie quollen hervor. Sie waren hart, echte Teufelskerle. Alle, sogar die Frauen, trugen Gewehre und Revolver. Er nahm einen Schluck Kaffee. Ich betrachtete sie aus den Augenwinkeln, denn mein Vater hatte mich gelehrt, ihnen niemals ins Gesicht zu sehen. Es kam mir vor, als hätten sie einen ganzen Friedhof im Schlepptau. Die Erste, die hochschnellte, war Lozen, Victorios Schwester, die wir bereits kannten. Auch Fun erkannten wir wieder, die wie viele von ihnen als Mexikanerin aufgewachsen war, und Chapo, Gerónimos Sohn. Don Carlitos kannte alle beim Namen. Er begrüßte sie und erkundigte sich nach ihren Familien. Plötzlich tauchte wie aus dem Nichts Gerónimo auf, die Pistole mit dem perlmuttfarbenen Griff am Gürtel und das Gewehr auf den Boden gerichtet. Er fragte den Gringo auf Spanisch, warum er nicht zu ihm heraufgekommen sei und ihn begrüßt habe, er sei ein bisschen beleidigt, dass man anscheinend geglaubt habe, eine solche Truppe könnte ihm einen Schreck einjagen.

Der Leutnant war kreidebleich vor Angst – er kannte Gerónimo von früher gut, aber das war im Reservat und zu einer anderen, friedlicheren Zeit gewesen. Nach so vielen Monaten auf dem Kriegspfad und hier im Gebirge war der Indianer ein anderer. Eine gespannte Feder, die Entschlossenheit in Person. Er trug dieselben, fast kniehohen Hirschlederstiefel wie immer, kurze Hosen und ein langärmeliges Baumwollhemd. Das rote Kriegsstirnband hing ihm um den Hals, und er hatte ein Sakko aus grober Wolle mit zwei runden Flicken auf der Brust an. Sosehr er sich auch bemühte, freundlich dreinzuschauen, sein Gesicht drückte nichts als Wut aus. Er lehnte die Winchester an einen Baumstamm und ließ sich auf dem Boden nieder. Er forderte Don Carlitos auf, sich zu ihm zu setzen, und der gehorchte – Gerónimo hatte es auf Apache gesagt, doch seine Gesten verstand man auch so. Der Leutnant hatte solche Angst, dass er sogar sein Rheuma vergaß. Er nahm neben ihm Platz. Sie saßen so nah beieinander, dass ihre Oberschenkel sich berührten. Gerónimo fragte auf Spanisch und für alle hörbar – die Friedensverhandlungen waren immer auch eine Art Vaudevilletheater –, ob sie Mezcal hätten. Der Leutnant verneinte. Tabak? Mein Vater reichte dem Offizier einen Beutel, ohne Gerónimo anzusehen – es war allgemein bekannt, dass Gerónimo, wenn er einem Mexikaner begegnete, diesen sofort erschoss, ohne auch nur ein Wort zu verlieren.

Lächelnd wog der Indianer den Beutel in der Hand, während Don Carlitos ihm das Papier hinhielt, damit er sich eine Zigarette drehen konnte. Der Indianer dankte mit einer Handbewegung und zog eine Pfeife aus der Innentasche seines Jacketts. Sie sollen gehen, sagte er, ohne aufzusehen, und deutete mit der Hand, in der er immer noch den Tabakbeutel hielt, auf meinen Vater. Der Leutnant nickte und bat Gerónimo, ihm zu garantieren, dass wir unversehrt zurückkommen würden. Doroteo kann man vertrauen, sagte er, und sein Sohn ist noch ein Kind. Der Indianer hob den Kopf und sah mich mit seinen steinernen Augen an. Du hast mein Wort, sagte er. Mein Vater hatte ihn noch immer nicht angesehen – kein Mexikaner, erst recht kein unbewaffneter Maultiertreiber, der einen Militärkonvoi begleitete, hätte es gewagt, ihm in die Augen zu schauen.

Ich hielt seinem Blick stand. Ich will nicht angeben; ich war ein Grünschnabel und konnte einfach nicht die Augen von ihm abwenden, so, wie man etwa eine Leiche anstarrt. Schließlich war das hier Gerónimo, der berühmteste Indianer aller Zeiten. Der Kerl bedeutete mir mit der Pfeife, zu ihm herüberzukommen. Ich gehorchte, ohne nachzudenken, weil Kinder nun mal gehorchen, aber dann spürte ich, dass mein Vater mich an der Schulter festhielt. Ich ging nicht weiter, wandte jedoch meinen Blick nicht ab. Komm her, sagte er mit seiner brüchigen, rauen Stimme; ich tue dir nichts. Mein Vater ließ mich nicht los, bis Don Carlitos sagte, ich bräuchte keine Angst zu haben, er sei da, um mich zu beschützen. Ich hatte zwar Angst – und wie! –, aber der Abgrund hat mich schon immer angezogen, also stürzte ich mich hinein.

Die anderen Krieger saßen in einem Kreis um die beiden herum, so wie wir jetzt. Es waren um die zwölf, dreizehn. Ich bewegte mich, als wäre ich auf dem Weg zum Schafott. Zwei Handbreit vor Géronimo blieb ich wie angewurzelt stehen, inmitten der Krieger, zu denen inzwischen auch die Gringos gehörten, denn alle waren herbeigekommen, um dem Gespräch zu lauschen. Mit einer Geste forderte er mich auf, noch näher zu treten. Ich konnte seinen Aasgeieratem riechen, den säuerlichen Geruch seines Sakkos, den Pferdeschweiß an seinen Beinen, die Sonne und den Staub, aber auch das Parfüm aus Blumen, mit dem die Apachen sich sogar das Haar wuschen, wenn sie in den Kampf zogen – seines war noch immer pechschwarz. Plötzlich, mit einer blitzschnellen Bewegung, wie eine Klapperschlange, die sich auf ihr Opfer stürzt, packte er mich und drückte mich an sich. Seine Haut kam mir warm vor, fast zart, während er mich am Schopf packte, um meinen Kopf in seine Richtung zu drehen. Er steckte mir einen Finger in den Mund, um meine Zähne zu betasten, sah mir in die Ohren. Dann ließ er mich los und gab mir ein paar freundliche Klapse auf den Bauch. Nicht schlecht, sagte er zu seinen Leuten, wir sollten ihn mitnehmen, und während er mich, ohne zu lächeln, aber entspannt ansah, fragte er in scherzhaftem Ton: Kommst du mit uns? Mein Vater befahl mir mit einem Blick, den ich nur zur Genüge kannte, zu ihm zurückzukommen, und ich gehorchte.

Wir waren bereits dabei, das letzte Gepäck von den Maultieren zu laden, um zu dem Treffpunkt zu reiten, wo das Regiment auf uns warten würde, als plötzlich Häuptling Naiche neben uns auftauchte, der Sohn von Cochís, den ich nie kennengelernt habe, aber von dem es damals hieß, er sei der mutigste Indianer gewesen, der je gelebt habe. Naiche war jünger als Gerónimo. Seine Haut war dunkler, sein Gesicht sah aus wie gebrannter Ton. Gerónimo war kein Häuptling, er war eine Art Anführer, seine Aufgabe bestand darin, dafür zu sorgen, dass die Gruppe durchhielt, angriff, losstürmte. Naiche war anders, ein Häuptling – fast so etwas wie ein Politiker. Er ging an uns vorbei, als wären wir gar nicht da, und weiter zu Don Carlitos, um ihm mit einem Lächeln die Hand zu reichen. Ich weiß nicht, was danach geschah, denn wir sind dann aufgebrochen, und als wir das Regiment erreichten, bezahlte uns der Hauptmann, bedankte sich und gab uns unsere Maultiere zurück. Sie hatten ihre eigenen Maultiere aus den Vereinigten Staaten erhalten.

Der General legte sich wieder hin, deckte sich mit seinem Poncho zu und fragte mit halb geschlossenen Augen: Wer übernimmt die erste Wache? Der Cousin, der ihm den Kaffee eingeschenkt hatte, hob die Hand. Ist sonst noch was passiert?, fragte er. Wann? Als Sie Gerónimo kennengelernt haben. Der General zuckte mit den Schultern. Bevor wir von dort aufgebrochen sind, wo Don Carlitos und Gerónimo sich trafen, haben wir noch einmal kurz am Fluss angehalten. Mein Vater hatte bemerkt, dass ich mir in die Hosen gemacht hatte. Kein Wunder, bemerkte einer der Männer. Nicht vor Angst, erklärte der General, sondern vor Wut – ich wäre lieber mit den Indianern mitgegangen.