»Heute keinen Limoncello Spritz?«, fragte Peter.
»Nee, ich muss nachher noch fahren«, sagte ich.
»Ha ja, ich mach dir einen kleinen ...«
Und so nahm das Glück seinen Lauf am Beckenrand eines Freibads, zur besten Mittagessenszeit.
Das Mittagessen erwähne ich deshalb, weil es an diesem Kiosk die knusprigsten Schwimmbad-Schnitzel gab, an die ich mich erinnern kann. Frisch geklopft von Peters Freundin. Ich wartete also auf diesen Plastikstühlen, auf denen man mehr klebt als sitzt, und Peter brachte mir ein gelbes Getränk mit einem blauen Glitzerpuschel wie aus alten Nachmittagsserien, eine Mischung aus Lametta und Zahnstocher. Ich hatte das Klopfen der letzten Schnitzel noch im Ohr und tauchte ein in meine private Vormittagsserie: das Sommer-Monster.
Was bisher geschah:
»Und wohin fahrt ihr diesmal?«, fragte die Nachbarin. Keine Ahnung, sagte mein Mann durch das geöffnete Fenster. Sie: »Aber man muss doch ein Ziel haben!« – »Das entscheidet sich in den nächsten Sekunden«, sagte mein Mann und deutete mit dem Kopf zu mir, die auf dem Beifahrersitz auf das Handydisplay starrte. Norden oder Süden? Spätestens am Dorfende musste ich es wissen. Fest stand nur: In den Osten nicht, dort sollte es regnen.
Das Schöne an dieser Jahreszeit ist, dass man nicht zum Sommer fahren muss. Er ist immer schon da. So wie die anderen Camper – leider, hätte ich fast gesagt. Am Bodensee lief eine Ansage vom Band: ausgebucht. An der Ostsee waren wir vor ein paar Wochen, das war teuer und weit, aber doch wunderschön. Denn für uns beginnt der Sommer, wenn wir das erste Mal im neuen Jahr das Meer sehen.
Diesmal also gondelten wir durch süddeutsches Land, abseits der schicken Camper-Ziele, dort, wo die Friseursalons »Chic im Trend« heißen. Und eigentlich, da waren wir uns einig, brauchten wir alle nur eines: ein Gewässer zum Baden. Nur ich hatte noch eine andere fixe Idee: eiskalter Wassermelonensalat mit Minze, Koriander und allerlei Schnickschnack.
Vielleicht hätte ich wissen können, dass dieses Stück Obst im Laufe unserer Tour von der Verheißung zum Ärgernis und schließlich zum Mahnmal werden würde. Aber die Melone sah einfach so gut aus: grün und gigantisch und mit dem Versprechen von Rot und Süße. Und so fuhren wir los mit einer Melone, die das gesamte Küchenwaschbecken unseres Wohnmobils ausfüllte.
Vermutlich trug ich die Sehnsucht nach etwas Leichtem, Frischen in mir, weil mir die Speisekarte des vorherigen Campingplatzes noch im Magen lag: Überbackenes, dazu eine fantastische Knoblauchcreme. Es war einer dieser Plätze, die man findet, ohne ihn gesucht zu haben. Die Landschaft so unspektakulär, dass ich sie schon wieder vergessen habe, irgendetwas mit Feldern und Hügeln, darin eingebettet ein Badesee.
Was ich nicht vergessen habe: die tätowierte Träne unter dem Auge unseres Stellplatznachbarn. Ein Zeichen von Ex-Knackis, hatte mein Mann mir zugeraunt. Das wollte ich noch auf dem Handy googeln, aber am Badesee hatte ich keinen Empfang, und so zog das Wochenende dahin, und wir wurden Freunde. Nun, nicht ganz, aber es ist schon so, dass unser Kind den Blick auf andere verändert, wenn ich mal kurz ernst werden darf.
Denn dieser Mann mit dem ärmellosen Totenkopf-Shirt, den Tattoos am Körper und dem grauen Schnauzer war ein lieber Opa, der zu unserer Tochter mit Downsyndrom genauso freundlich war wie zu seinem kleinen Enkel. Es dauerte nicht lang, da stöberte unsere Tochter bei den fremden Großeltern im Vorzelt herum – bis sie plötzlich verschwunden war. »Dahinten«, sagte der Opa und deutete hundert Meter weiter ans Ende des Campingplatzes. »Die hat sich dahinten zu ’ner Frau gelegt.«
Ich fand unsere Tochter mit geschlossenen Augen vor. Das Kissen hatte sie der Frau abgeluchst, zusammen dösten die beiden unter einer rosa Fleecedecke, Kopf an Kopf, mitten auf der Campingwiese. »Ich hab hier gelegen, und dann hat jemand an mir gezupft«, sagte die nette Frau und zeigte mir ihre schwarze Schlafbrille. »Mama, Womo!«, befahl unsere Tochter. Ihr Tonfall war unwillig. Ich störte.
»Also, wenn sie Sie stört, sagen Sie Bescheid«, sagte ich, während unserer Tochter beim Räkeln ein kleiner Seufzer entfuhr. »Ach nee, das tut mir auch ganz gut«, sagte die Frau, und so schlenderte ich zu unserem Wohnmobil zurück. Noch im Gehen rief mir unsere Tochter hinterher: »Grüße, äh, Papa!«
Das Wunderbare an diesen namenlosen Orten ist, dass es hier keine Bändchen gibt, die Kinder ums Handgelenk tragen sollen, dass man die Schlüssel zum Tor bekommt, ohne ein Pfand zu hinterlegen. Man vertraut sich und man kennt sich, besser vielleicht, als einem lieb ist. So hörte ich, wie der eine Dauercamper frühmorgens zum anderen sagte: »Habt ihr jetzt ’nen Hund?« – »Seit drei Monaten.« – »Statt ’nem dritten Kind, oder was?«
So ist es auf Campingplätzen, alles ist öffentlich, erst die Familienplanung, dann die Erziehungsmethoden. Ruft ein Junge über den Badesee: »Du musst mal zurück zu deinem Papa! Du hast das Wohnmobil kaputt gemacht!« Ruft das Mädchen auf dem SUP zurück: »Nee!« – »Sonst kommt dein Papa zu dir.«
Bei uns sind die Dialoge zunächst von großer Höflichkeit seitens unserer Tochter geprägt. »Wir müssen Fingernägel schneiden« – »Nein, danke!«, »Jetzt ist Zähneputzen!« – »Heute nicht.« – »Und kämmen!« – »Übermorgen!« Bis sie schließlich eskalieren.
»Übermorgen« ist die Antwort unserer Tochter auf alles, was nicht nur lästig, sondern unangenehm ist. Und setzen wir dann doch ein Mindestmaß an Körperhygiene durch, ist ihr Geschrei so laut, dass man es vermutlich noch im Knoblauchgässle hört. Das Gässle hieß übrigens wirklich so, sodass ich mich unwillkürlich fragte, wer wohl zuerst da war, die Knoblauchcreme oder die Anwohner.
Es ist mir jetzt schon öfter passiert, dass mir etwas ins Auge fällt, das sich als Mosaikstein einer neuen Geschichte eignet – und dann nimmt plötzlich alles eine andere Wendung. Ich liebe zum Beispiel Schwarze Bretter auf Campingplätzen, wo schon die Zettel die Fantasie anregen. »Eure Thermomix-Hexe ist auf dem Platz«, las ich an der Ostsee, mit dabei die »Limited Edition«.
Oder dieser Anschlag »zu verkaufen«, vorbildlich in seiner Seriosität und verblüffend in seiner Offenheit. 20 Tabs zur Geruchsvermeidung bei Chemietoiletten seien im Originalbehälter enthalten, so die Angabe, wovon 17 noch zur Verfügung stünden. Im Viererpack des schnell löslichen Toilettenpapiers fehle allerdings eine Rolle.
Mit diesem Blick fürs Skurrile war mir auch ein Camper auf einem Stellplatz aufgefallen, der, so schien es mir, einen Spanngurt aus der Heckgarage als Hosengürtel trug. Und während ich das Gespräch suchte, um mir dieses Ding genauer anzusehen, erzählte der Mann plötzlich von seiner erwachsenen Schwester, die auch eine geistige Behinderung habe und jetzt in einem Heim lebe. Die, wenn ihr alles zu viel werde, anfange, sich an den Haaren zu zupfen.
Er erzählte von seinem Bruder, der ein schwerbehindertes Pflegekind in seine Familie aufnahm und es 20 Jahre lang umsorgte. »So ein Kind gibst du ja nicht einfach wieder her«, sagte er und schaute mir in die Augen.
Es ist verrückt, aber plötzlich entsteht mit einem Wildfremden zwischen Mülleimer und Parkscheinautomat ein Moment der Nähe, bevor alle wieder in ihre Fahrzeuge steigen und sich in alle Himmelsrichtungen zerstreuen.
Wir sind ja selbst nicht ganz unauffällig. Oder sehen Sie öfter Männer um die 50, die auf einem Besen reiten? Einmal um den Campingtisch herum, um die Schultern ein gestreiftes Badetuch als Mantel? Und eine Schaufel als Schwert?
Es ist einfach so, dass unsere Tochter ein großer Fan von Sankt Martin ist, saisonal unabhängig. Und so saß ich auf der Stufe zu unserer Wohnmobiltür und schaute meiner Tochter zu, wie sie in der Sommerhitze »Im Schnee saß« sang. Am liebsten spielt sie den armen Mann und bittet mit gefalteten Händen: »Oh, helft mir doch in meiner Not!«
Der Sommer bringt alle zusammen, und es gibt zwei Orte, an denen sie plötzlich funktioniert, die Inklusion, die oft nur Illusion ist. Das ist das Freibad und der Campingplatz. Hier laufen die Wege wieder zusammen, die sonst oft in getrennte Welten führen, alles ist durchlässiger, spontaner, hier gibt es noch ein Finden, das absichtslos passiert.
Leidenschaftlich spielten die beiden Fußball, unsere Tochter und der Enkel unseres Nachbarn mit dem Totenkopf-Shirt, und als ein anderes Campingkind ihn wegziehen wollte, sagte der Junge: »Ich kann jetzt nicht. Ich hab schon was ausgemacht!« Und kickte den Ball wieder zu unserer Tochter.
Natürlich wäre es am schönsten gewesen, sie hätten zu dritt weitergespielt, aber der andere war beleidigt davongetrottet. Und darf ich es nicht auch schön finden, dass unsere Tochter mal die Erwählte ist und nicht die Stehengelassene, wie es ihr immer wieder passiert?
Nicht, weil die anderen Kinder unfreundlich wären, sondern weil es, je älter alle werden, immer schwieriger wird, die richtigen Spielkameraden zu finden, diejenigen, bei denen es für beide Seiten passt.
Mit diesem Gefühl, dass der Sommer uns schon etwas bescheren werde, waren wir auch zu unserer Melonen-Tour aufgebrochen. Und hatten einen Campingplatz gefunden, der zu schön ist, um ihn zu verraten. Klein und versteckt am Waldesrand, mit einer Hängematte am Bachlauf, in Radeldistanz zum nächsten Freibad.
Drei Tage lang Schnitzel, Limoncello Spritz, Wasserrutsche. Und, wenn ich Ihnen mal was verraten darf, wir kennen uns ja nun schon etwas länger: Früher hätten Sie mich zu beiden Plätzen jagen müssen, zum Freibad und zum Campingplatz. Und wenn mir einer gesagt hätte, das seien die Orte zum Glücklichwerden, hätte ich betreten zu Boden geschaut und an Fußpilz gedacht.
Ein bisschen ist mir von meinem alten Ich geblieben: Ich bin bis heute eher der Beckenrandtyp. Aber wenn ich sehe, wie sich unsere Tochter fünf Meter hinter meinem Cocktailglas zum ersten Mal in ihrem Leben auf eine Wasserrutsche traut und mit Spritzen und Jauchzen in das flirrende Blau eintaucht, dann bin ich es wirklich: glücklich.
»Machst du jetzt die Melone?«, fragte mein Mann, als ich gerade ein sich windendes Kind mit Sonnencreme einschmierte, das wiederum im Begriff war, seine fettigen Finger an den Sitzbezügen abzuwischen.
»Hört nix«, sagte unsere Tochter in die Stille hinein, noch nicht wissend, dass es Fragen gibt, die keine Antwort erwarten. Es war der Morgen vor der Fernreise-Messe, die wir unbedingt besuchen wollten.
Wir hatten uns endlich vom Freibad losgerissen, und, ja, ich hatte in den Tagen zuvor mehrfach mit dem Gedanken an den Melonensalat gespielt und ihn, schnitzelsatt und träge, wieder verworfen. Man hätte das Riesending ja auch kühlen müssen, und der Kühlschrank war voll. Nun aber hatte ich andere Sehnsüchte, zum Beispiel die nach echten Monster-Mobilen. Oder wenigstens nach ein paar Ausrüstungsgegenständen für unser Monsterlein.
Was folgte, war ein Tag für alle Suchenden, die meinten, das Glück müsse noch woanders zu finden sein als am Beckenrand, zum Beispiel im Dreck. Gemeinsam standen wir an einem Schlammloch, zusammen mit den anderen Abenteurern und Träumern, die an ihrem Softeis schleckten, und schauten den 20-Tonnern zu, wie sie sich durch den Matsch wälzten.
Wir bummelten vorbei an einem Crawler mit Raupenfahrwerk, ich blätterte durch ein Handbuch für Äxte, lernte etwas über richtiges Schwingen und Spaltschläge – bestimmt auch nützlich für Melonen –, und als meine Familie aufbrach, um auf einer staubigen Piste Kinder-Quad zu fahren, entdeckte ich das größte Wohnmobil meines Lebens. Zu seinen Füßen saß eine Mutter im Schneidersitz und stillte ihr Offroad-Baby im Schutze des gigantischen Reifens.
Ich war sogar, einem plötzlichen Drang folgend, am Stand einer Firma stehen geblieben, die die Abwesenheit der anderen zum Geschäft gemacht hatte. Post nachzuschicken, gehörte zu ihren einfachsten Dienstleistungen. »Aber«, hatte der Mann versprochen, »wenn Sie zum Beispiel drei Monate durch Kanada fahren und Sie haben zu Hause einen Wasserrohrbruch, dann regelt meine Frau das mit den Handwerkern.«
Dieser Satz klang noch lange in mir nach, auch, als wir schon wieder in unserem eigenen Monster saßen. Fürs Erste habe ich mir ein T-Shirt gekauft mit ein paar Bäumen und Bergkuppen auf der Brust. Das gab es in der Nähe des großen Schlammlochs.
»Irgendwann machen wir auch so ’ne große Tour«, habe ich zu meinem Mann gesagt, als wir auf dem Heimweg waren, zusammen mit der Melone, und träumte von jemandem, der mein Leben regelt, während ich weg bin.
Aber erst einmal mache ich jetzt den Salat. Übermorgen.