DIE REGELN – Rede mit deinem Nachbarn! Notfalls über sein Nummernschild.

Neulich hat uns auf der Autobahn ein Wohnmobil überholt, auf dessen Heck in großen Buchstaben nur ein einziges Wort stand: »Willi«. Sofort schoss es mir durch den Kopf: War es jener Willi, den wir auf einem Stellplatz am Fluss kennengelernt hatten? Waltrauds Willi?

Die Welt des Campings lässt sich ja in verschiedenen Systemen denken, und jedes hat seine eigenen Regeln. Da gibt es die geschlossenen Gesellschaften, fast ausschließlich von Dauercampern bewohnt. Ich erinnere mich noch, wie wir mal an einen solchen Ort von geradezu gespenstischer Abschottung geraten waren. »Hier kommt samstags der Bäcker und sonntags der Bestatter«, hatte mein Mann geflüstert. »Lass uns wieder fahren«, hatte ich zurückgeflüstert in dem Gefühl, dass bereits unsere Anwesenheit eine Regelverletzung darstellte.

Aber es gibt auch die anderen Plätze, die Spiegelbild der campenden Gesellschaft sind, offen für jedes Fahrzeug- und Lebensmodell, für rollende Wohneier wie für Monster und auch für einen Wohnwagen im Dornröschenschlaf, eingewachsen hinter einer Hecke mit der Aufschrift »Weltbummler«. Auf solch einem Platz waren wir neulich, und wissen Sie was? Es war richtig schön.

Schon bei der Anfahrt grüßte mein Mann schneller, als das Wohnmobil um die Ecke biegen konnte. »Ist wichtig!«, sagte er. Und ich winkte auch, etwas verhaltener. Decke raus, Spielzeug raus, Kind raus, Bier auf. Man muss uns die Freude angesehen haben, denn einer der Männer vom Pärchen-Camper gegenüber rief uns im Vorübergehen zu: »Ankommen und was trinken – das ist das Schönste!« – »Richtig!«, antworteten wir lachend und merkten, wie sich umgehend eine gewisse Biermilde einstellte.

»Warum redest du denn mit denen?«, fragte das Mädchen, das bei dem fremden Camper an der Hand lief, ein Besuchskind. »Das sind unsere Nachbarn«, erklärte der Mann, »mit denen kann man ruhig mal reden.«

Unsere Nachbarn sind zu viert angereist, verteilen sich aber auf zwei nebeneinanderliegende Parzellen, wobei sie schon frühmorgens den Tag miteinander teilen – und mit dem gesamten Platz. Während die Ersten aus den Fahrzeugen kriechen, um den Klappstuhl in die frühen Sonnenstrahlen zu schleppen, klopft Pärchen A an die Wohnmobiltür von Pärchen B, und der Mann von Pärchen A fragt die Frau von Pärchen B laut und auf Badisch: »Biste noch im Negligé?«

Sodass alle in den umliegenden Betten die Ohren spitzen, obwohl sie ahnen, dass weder die Frau von Pärchen B noch irgendjemand sonst auf dem Campingplatz die Nacht im Negligé verbracht hat. Höchstens die schöne Mira im Zelt, die arg fröstelte, als wir an ihr vorbeiliefen.

Campingplatz ist immer auch Kino im Kopf. Wer ist der Typ neben ihr auf dem Hocker? In welcher Beziehung stehen eigentlich die drei von gegenüber, zwei Frauen, ein Mann, ein Dachzelt? Das sind Fragen, über die man kurz nachdenken kann, während man den Eichhörnchenweg entlangschlendert.

Es ist nicht so, dass ich die rot-weißen Ketten, die die verschiedenen Parzellen abtrennen, nicht mehr wahrnehme, oder das Schild, das die »Platzruhe« im Namen der Campingplatzverwaltung regelt (12 – 14 Uhr und 22 – 7 Uhr).

Ich sehe einfach darüber hinweg, sehe die riesigen Bäume, die den kleinen Campingplatz einfassen, sehe unsere Tochter an der Hand meines Mannes den Waldpfad zum Badesee hinunterlaufen, sehe, dass alle dasselbe tun wie wir, meist sogar in demselben Rhythmus: frühstücken, zum See gehen, zurückkommen, grillen, schlafen. Und irgendwie rührt es mich, dieses allgemeine Streben nach dem kleinen Wochenendglück.

Ich spüre sogar einen Hauch von Grundgesetz und Erhabenheit durch die Platzordnung wehen, wenn ich unter Punkt 2 lese: »Anstand und Rücksichtnahme auf Ihre Nachbarn und Mitcamper sind Voraussetzung für einen angenehmen und erholsamen Aufenthalt.« Tatsächlich ist hier nur das Vogelgezwitscher ohrenbetäubend, morgens um 6 Uhr.

Niemand, finde ich, passt besser auf einen Campingplatz als unsere Tochter, paaren sich doch in ihrem Charakter verschiedene Anteile: halb Platzwart, halb Animateurin und immer bemüht, das Kommunikationsgebot durchzusetzen. Während wir Erwachsenen manchmal zwanghaft einen Anknüpfungspunkt suchen, zum Beispiel durch einen Blick aufs fremde Nummernschild, kennt sie nach einem Spaziergang zum Müll Bernhard und Ursel, Jenny und Tobi und eben auch Willi und Waltraud.

Selbst unsere maulfaulen Nachbarn zwang sie zum Sprechen. »Heißt du?« Die Frau guckte und schwieg. Ihrem Mann war die Stille sichtlich unangenehm, deswegen legte er selbst nach: »Werner.« – »Nee, du!«, rief unsere Tochter empört und trat einen Schritt vor Richtung Frau und bellte ihre Frage noch einmal: »Heißt du?« Es war nichts weniger als ein Machtkampf. »Gudrun«, murmelte die Frau ergeben.

Wenn es einen Traumberuf gäbe für unsere Tochter mit Downsyndrom, dann wäre es vermutlich dieser: Animateurin in Camp Hverringe mit Hausmeisterbefugnis. Camp Hverringe liegt in Dänemark und ist Paradies und Hölle zugleich. Streichelziegen, Zirkuszelt, »Let’s twist again« aus Lautsprecherboxen, das war der Mix, als wir bei unserer allerersten Sommertour dort standen und auf der großen Campingplatzwiese mit Meerblick tanzten. Drei Jahre war sie damals alt. Wir wissen, wenn wir jemals wiederkommen – und das werden wir irgendwann tun aus Liebe und Zwang –, dann können wir die Sache mit den Stellplätzen in der Natur für immer vergessen.

Mindestens so sehr wie den Twist liebt unsere Tochter jedoch regelkonformes Verhalten. Auf »Danke fürs Kochen!« im Wohnmobil muss die korrekte Antwort kommen, sonst folgt der Aufschrei: »Nein! Falsch! – Gerne!« Ihre Freude an Konventionen zieht sich bis zum Schlafengehen durch, wenn wir nebeneinander in der Koje liegen und sich im Dunkeln folgender Dialog abspielt.

Ich: »Wollen wir Händchen halten?«

Sie: »Nein, danke!«

Es mag sein, dass ich in meiner neuen Rolle als Herzblut-Camperin ein wenig zur Idealisierung neige – wie das so ist mit den Konvertiten –, aber tatsächlich scheinen mir Camper oft von besonderer Aufgeschlossenheit gegenüber unserer Tochter mit ihrer geistigen Behinderung zu sein.

Da verschenkt die Dauercamperin Rita einen handbemalten Stein aus ihrem Vorgarten. Da fragt die Sabrina, ob sie schlenkern wollen beim Hand-in-Hand-Laufen zu den Waschräumen, und auf der Schaukel wechseln sich Mia und Pia beim Anschubsen ab. Die Nachbarschaft auf Zeit hat die Chance auf besondere Herzlichkeit, weil sie eben genau das ist: begrenzt.

Zwar wundern sich gewiss die einen über die anderen, zum Beispiel die mit dem moosgrünen Dach in ihrem seit Jahrzehnten gewachsenen an- und umgebauten Zuhause, die genau das tun, was man zu Hause eben macht, Unkraut jäten oder Fernsehen gucken, über jene mit dem froschgrünen Sonnensegel: Warum nur will man unbedingt ausprobieren, wie man im Kastenwagen Brot backt? Doch trotz des wechselseitigen Wunderns ist ein Plausch immer möglich, und sei es nur über das aufziehende Gewitter.

Härter ist die Welt jenseits der Schranke. Dort, wo sich am Abend die Wohnmobile zusammendrängen, um am nächsten Morgen wieder auseinanderzudriften, wie neulich, auf dem Stellplatz eines Weinguts.

Es waren Szenen, geprägt von gegenseitigem Unverständnis, ja, Fassungslosigkeit. Auf der einen Seite die Wohnmobilfahrer mit ausgefahrener Markise, die sich ihren Spätherbst mit einem Weißherbst versüßten, bei fantastischer Fernsicht auf die Vogesen. Vielleicht war es auch Weißburgunder, ich weiß es nicht, das Angebot des Weinguts war so reichhaltig, dass kurz zuvor ein Camper eine Sackkarre mit vier Weinkisten von der Schenke bis zur Heckgarage geschoben hatte.

Auf der anderen Seite eine Gruppe junger Männer auf einem Anhänger, die sich von einem Traktor über die Feldwege hatten ziehen lassen, um direkt vor dem Stellplatz zum Stehen zu kommen und den Vatertag mit einem Lied ihrer Wahl ausklingen zu lassen: »Nur weil du eine Mumu hast ... hast du den Flieger ins Party-Paradies verpasst.«

Dann der wissbegierige Nachwuchstrinker, der sich den Markisen näherte und sagte: »Ich hab da mal ’ne Frage: Warum macht man hier Campingurlaub?« Was er wohl meinte: Hier, unter einem Sendemast, wo man höchstens zum Saufen hinfährt? Darauf die Antwort, bemüht korrekt, aber auch ein wenig spitz: »Wir sind auf der Durchreise nach Italien!«

Tatsächlich bin ich jetzt in einem Alter, in dem mir beide Perspektiven zugänglich sind, jahreszeitlich gesprochen befinde ich mich irgendwo zwischen Spät- und Altweibersommer, je nach Tagesform.

Zumindest fand ich es übertrieben, dass irgendjemand die Polizei holte, und war doch erleichtert, als danach Ruhe im Weinberg einkehrte. Spürte einerseits ein wenig Schadenfreude, dass den raumgreifenden Premiumtrinkern die Fernsicht verhagelt wurde, während wir unseren Zwiebelkuchen mit Blick aufs Gestrüpp vertilgten. Wusste andererseits, dass ich selbst aus dem Fahrerhäuschen gesprungen war, um einen Platz in der ersten Reihe zu ergattern. Nur war der Weißherbst zu diesem Zeitpunkt schon lange ausgeschenkt.

Ich muss also hoffen, dass ich mit der Zeit schneller werde. Spätestens in meinem Spätherbst. Bis dahin nehme ich wieder Platz 78 am Badesee und träume von der großen Sommertour, ohne Nummern, ohne Schranke, mit nur einer einzigen Gewissheit: Am Ende wartet immer ein Meer – und der kleine Platzwart fährt mit.