Kapitel 27
Der Grösste aller Zeiten
Die Abkürzung G.O.A.T. steht natürlich für „Greatest of All Time“, der Größte aller Zeiten, obwohl ein Mechaniker im Formel-1-Fahrerlager versuchte, ein paar Dummköpfe davon zu überzeugen, dass es sich nur um ein bärtiges Säugetier auf einem Feld handle, nämlich eine Ziege, die man im Englischen „goat“ nennt. Deshalb buchstabiere ich lieber, wenn von Lewis Hamilton und seinen Erfolgen im Motorsport die Rede ist. Er ist zweifellos und tatsächlich der Größte aller Zeiten im Motorsport. Schon vor der Saison 2021, als er deutlich machte, dass er alles in seiner Macht Stehende tun werde, um diesen achten Weltmeistertitel zu holen, wurde er als der Beste anerkannt. Wie bereits erwähnt, bedeutete sein siebter Titelgewinn im Jahr 2020, dass er den unglaublichen Rekord von Michael Schumacher einstellte, aber bereits mit zwei noch verbleibenden Rennen in jener Saison hatte er mehr Grands Prix gewonnen als der deutsche Maestro.
Als die Saison 2021 begann, hatte sich Lewis also bereits das Recht verdient, die Nummer 1 genannt zu werden – und er war nach dem Auftakt in Bahrain noch ein Stückchen weiter vor Michael, denn er konnte auch hier wieder einen Sieg für sich verbuchen.
Es war jedoch nicht diese Tatsache, die die Schlagzeilen und die Analysen nach dem Rennen dominierte. Nein, die Begeisterung drehte sich tatsächlich um Hamiltons Brillanz beim Sieg in der ersten Runde des Duells, von dem viele Experten – und auch ich – glaubten, dass es ausschlaggebend dafür sei, ob er 2021 den achten Titel gewinnen kann oder ob seine Glanzzeit in der Formel 1 vorüber ist. Die Rede ist von Lewis’ spannenden Schlachten mit dem Kronprinzen in Wartestellung, Max Verstappen. Der Niederländer hatte bisher gezeigt, dass er nicht abgeneigt war, einiges zu riskieren, um einen Platz auf dem Podest zu erringen: Er war in Situationen verwickelt, bei denen Rivalen von der Strecke abkamen, und wurde für einige rücksichtslose Überholversuche kritisiert, konterte aber, indem er darauf hinwies, dass dies der einzige Weg sei, die Nummer 1 zu werden, da er in einem langsameren, anfälligeren Auto unterwegs sei als Hamilton.
Und seien wir ehrlich: Auch Lewis selbst ist noch nie einem Duell auf der Strecke aus dem Weg gegangen, insbesondere nicht in seinen ersten beiden Formel-1-Saisonen, als er versuchte, sich in der Rangliste durchzusetzen, so wie es Verstappen getan hatte. Aber während Lewis zugeben würde, dass er auf der Strecke gern aggressiv sei, riskierte er doch selten so viel wie Max.
Trotz des Auf- und Abs ihrer früheren Rivalität gab es kaum Zweifel daran, dass Hamilton erkannte, dass Verstappen das größte Hindernis auf dem Weg zu einem achten Titel im Jahr 2021 sein würde. Nicht nur, dass Max nun mehrere Saisonen Formel-1-Erfahrung auf dem Buckel hatte, sondern auch der Red Bull konnte mit einer massiven Verbesserung seiner Geschwindigkeit aufwarten. Um es auf den Punkt zu bringen, hatte Lewis’ Gegner zu Beginn der Saison sogar das schnellste Auto, Hamilton war jedoch weit davon entfernt, deshalb in Panik zu geraten, und begrüßte diese Entwicklung. Er war schon immer ein Fahrer gewesen, der Herausforderungen liebte – seine Fehde mit und sein endgültiger Sieg über Fernando Alonso bei McLaren, als er noch ein Neuling war, zeugen davon –, und die Rivalität mit einem aufgemotzten Verstappen könnte möglicherweise die größte Herausforderung seiner Karriere darstellen. Nach Ansicht einiger Analysten war Lewis jetzt Alonso und Max war Lewis in den Kinderschuhen; diese Ansicht wurde auch dadurch gestützt, dass Max mit 23 Jahren 13 Jahre jünger war als der Mann, dessen Titel er begehrte.
Der Auftakt 2021 in Bahrain hatte etwas von einem Fehdehandschuh, der von beiden Männern hingeworfen wurde – und es war in der Tat ein aufregendes Spektakel und ein Eröffnungsduell par excellence. Doch wie auch immer die Prognosen lauteten, es war Hamilton, der sich trotz aller Widrigkeiten diesen Sieg erkämpfte. Irgendwie verwies er Verstappen in einem Rennen, das der Niederländer hätte gewinnen sollen, auf den zweiten Platz; und das, obwohl er unbestreitbar in einem langsameren Auto saß. Max war das ganze Wochenende im Training und Qualifying Schnellster gewesen und von der Pole Position gestartet. Das Red-Bull-Team hatte in der Saisonvorbereitung großartige Arbeit geleistet, um das Auto abzustimmen und ein wenig mehr Leistung aus einem intelligenten Motor herauszuholen. Max hätte Lewis gegen Ende eigentlich einholen müssen, weil der Brite auf langsameren Reifen unterwegs war. Doch Lewis nutzte all seine Fähigkeiten, sein Talent und sein Wissen, um durchzuhalten und um Haaresbreite zu gewinnen. Das war die Antwort auf all diejenigen, die seine Titelgewinne nur dem schnelleren Auto zugeschrieben hatten. Denn hier war er und schlug den neuen König auf der Bahn mit seinem neuen, schnellsten Motor. Es hieß „Vorteil Hamilton“ im Eröffnungsmatch zu einer Rivalität, die den Sport – und Hamilton selbst – im Jahr 2021 neu beleben sollte.
Die forsche Herangehensweise und Arroganz des Niederländers haben Lewis zweifellos angefeuert. Nach Jahren unangefochtener Dominanz wollte er nun unbedingt den jungen Emporkömmling in seine Schranken weisen und zeigen, dass er immer noch der Hauptdarsteller war. Jede Andeutung von Selbstgefälligkeit oder Langeweile konnte auf den Müllhaufen zurückgeworfen werden, von dem sie gekommen war. Und Verstappen war seiner Sache nicht dienlich, als er der Welt erzählte, wie er Lewis entthronen wolle und wie der „alte Mann“ die Formel-1 durch seine Dominanz zu einem langweiligen Sport gemacht habe – und dass er ihr Retter sei. Das hatte nur den Effekt, Hamilton noch entschlossener werden zu lassen, den achten Titel auf Kosten des jungen Aufschneiders zu holen.
Vor dem Großen Preis der Emilia-Romagna in Imola, des zweiten Grand Prix der Saison, war Max auf Krawall gebürstet. Er stellte sich als neuer König dar und setzte gleichzeitig den Mann herab, der bisher der größte Star der Formel 1 aller Zeiten gewesen ist. Verstappen sagte: „Die Formel 1 braucht einen richtigen Kampf, weil es in den letzten Jahren ein wenig langweilig war. Am Montag nach dem Rennen möchte man sich als Fan unbedingt auf das nächste Rennen freuen, weil zwei oder sogar drei Teams um den Sieg kämpfen. Ich denke, nachdem Lewis seine letzten sechs Meisterschaften gewonnen hat, in denen er vielleicht nicht so sehr kämpfen musste, und er jetzt siebenfacher Weltmeister und der erfolgreichste Fahrer der Formel 1 ist, will er diesen Kampf wirklich. Er hat bereits alles erreicht und viel mehr, als man sich je vorstellen kann. So viele Titel zu gewinnen ist sehr selten und wird sich nicht oft wiederholen. Aber er sagt: ‚Okay, ich nähere mich dem Ende meiner Karriere, und es ist schön zu sehen, dass jüngere Burschen auftauchen und es mir schwerer machen.‘ Und was mich betrifft, mache ich es ihm natürlich sehr gern schwerer.“
In der Tat war Lewis nie eine Mimose gewesen und schien eine derartige Herausforderung zu genießen. Er ließ sich denn auch nicht lumpen und tat Verstappen als keinen so großen Rivalen ab, wie es der Deutsche Sebastian Vettel für ihn gewesen sei – und er betonte, dass Max seinen Titel nur holen könne, wenn er selbst nicht abliefere, unabhängig von den Vorzügen der Autos. Hamilton meinte: „Max hat nicht den Hintergrund, den Seb hat, aber er hat offensichtlich die Chance, ein zukünftiger Champion zu werden – aber ob das jetzt oder später ist, hängt davon ab, wie ich meinen Job mache.“
Nach diesem Wortgefecht ging es in Imola zur Sache, und Max triumphierte, obwohl dieser Sieg durch den Anblick von Lewis neben ihm auf dem Podest, als Zweiter, getrübt wurde. Es war so gut wie sicher gewesen, dass der Champion außerhalb der Punkteränge landen würde. Der Sieg von Max war komfortabel – volle 22 Sekunden vor Lewis –, aber der Brite war doch Zweiter geworden, nachdem er zwischenzeitlich eine Runde in Rückstand lag, weil er in der 32. Runde beim Überrunden von Russell von der Strecke abgekommen war. Doch Fortuna war auf seiner Seite, als ein weiterer Crash, an dem Valtteri Bottas und George Russell beteiligt waren, das Geschehen stoppte und es Lewis ermöglichte, das Rennen an neunter Position wieder aufzunehmen. Aber er musste hart arbeiten, um sich in die Punkte zu manövrieren.
Dieser zweite Platz und die schnellste Runde bedeuteten, dass Hamilton in der Gesamtwertung immer noch einen Punkt vor Verstappen lag, als die Teams von Imola abreisten. Nach dem Rennen sagte Lewis: „Das war nicht mein bester Tag, und ich habe das erste Mal seit langem einen Fehler gemacht. Aber ich bin dankbar, dass ich das Auto nach Hause bringen konnte. Es hat mir Spaß gemacht, durch das Feld zu pflügen. Es war wie in meiner Kindheit mit einem abgewrackten alten Go-Kart, als ich hinten anfing und durchs Feld musste.“
Lewis verlor nicht gern und setzte sich nun zum Ziel, die nächsten drei Rennen zu gewinnen. Wenn er es schaffte, würde er seinen Rivalen enorm unter Druck setzen. Sicher, es war mehr als wahrscheinlich, dass Max ihm bei diesen drei Grands Prix als Zweiter ins Ziel folgen würde, aber wie würde er es schaffen, mit dem Stress umzugehen? Einige Formel-1-Kommentatoren, darunter auch ich, waren der Ansicht, dass er Schwierigkeiten haben könnte. In früheren Saisonen war er bereits in Zwischenfälle verwickelt gewesen, die dazu führten, dass er Rennen nicht beendete; Zwischenfälle, die vermuten ließen, dass ihm die Pferde durchgehen, wenn die Dinge nicht in seinem Sinn laufen. Niemand behauptete, dass er kein brillanter Fahrer sei, aber er war auch dafür bekannt, Risiken einzugehen, die ihn mitunter teuer zu stehen kamen, sowohl mit Blick auf die Punkte als auch das Ansehen. Ein Teil des Problems war definitiv die Unzuverlässigkeit des Red Bull, aber in dieser Saison gab es keinen Raum, dem Auto die Schuld zu geben, wenn er nicht erfolgreich war.
Als die Fahrer nach Portugal und Spanien weiterzogen, lautete die Frage: „Kann Max Verstappen dem neuen Druck standhalten und der Mann sein, von dem erwartet wird, dass er gewinnt, wenn er alle Karten in der Hand hält?“ Das war für den niederländischen Helden eine völlig neue Situation, und es würde sich zeigen, wie stark er mental war, als ihn das größte Formel-1-Ass tatsächlich massiv unter Druck setzte.
In Portugal lieferten sich die beiden ein Katz-und-Maus-Spiel, bei dem sie sich beide mit hervorragenden Manövern überholten. Aber es war Lewis, der den Ruhm und den Sieg einheimste, denn er hatte einen kühlen Kopf bewahrt, als es darauf ankam. Max wusste, dass er geschlagen war, und wechselte für die letzte Runde die Reifen. Er wollte sich den Bonuspunkt sichern, den eine schnellste Runde mit sich brachte; aber er hat es dann vermasselt, weil er von der Strecke abkam. Damit hatte er einen kostbaren Punkt in der Fahrerwertung verloren und zeigte damit, dass er selbst sein schlimmster Feind sein konnte. Seine Hitzköpfigkeit hatte ihn wieder einmal aus der Bahn geworfen.
Verstappens Stimmung verbesserte sich keineswegs, als Nico Rosberg über Hamiltons weiteren bemerkenswerten Sieg sagte: „Was für ein phänomenales Rennen von Lewis. Max beginnt ein besseres Verständnis dafür zu bekommen, wie gut Lewis ist.“ Ein Kommentar, der Verstappen ärgerte. „Ich brauche Nico nicht dazu, um mir klarzumachen, wie gut Lewis ist“, knurrte er, als man ihm erzählte, was der ehemalige Champion gesagt habe, „ich weiß, dass er sehr gut ist – sonst gewinnt man ja nicht so viele Meisterschaften.“
Lewis war mit einem Punkt Vorsprung auf Max ins Wochenende gestartet, hatte diesen nun aber auf acht Punkte ausgebaut. Es war auch sein 97. Grand-Prix-Sieg, nur drei Siege fehlten, um die 100 vollzumachen in einem Sport, der seinen Gladiatoren körperlich und geistig das Äußerste abverlangte. Kurz darauf holte er sich den zweiten Sieg, als er in Barcelona triumphierte – sein fünfter Sieg in Folge beim Großen Preis von Spanien. Diese Statistik bedeutete ihm viel, weil sein Idol Ayrton Senna als Erster dieses Kunststück vollbracht hatte. Verstappen wurde unweigerlich Zweiter. Der Kampf um den Titel wurde zu einem spannenden Duell zwischen den beiden, sehr zur Freude vieler Fans und Analysten, die Max’ Meinung vertraten, dass Lewis’ Dominanz im letzten Jahrzehnt, obwohl er brillant gefahren sei, auf die Dauer zu Langeweile geführt habe.
Es war Verstappen, der früh in Führung ging und das Feld 59 Runden lang anführte, aber Hamilton hatte erneut das letzte Wort, überholte ihn in Runde 60 und fuhr als Erster ins Ziel, mit einem Vorsprung von 15 Sekunden auf seinen Rivalen. Danach sagte ein gut gelaunter Lewis schelmisch: „Ich habe heute viel über Max gelernt, vielleicht mehr als in allen anderen Rennen zusammen. Ich war [die meiste Zeit des Rennens] relativ dicht an ihm dran und habe viel über sein Auto gelernt und viel darüber, wie er es benutzt. Das war in dieser Hinsicht also ein gutes Rennen.“
Lewis weigerte sich, näher darauf einzugehen, hatte aber einige hervorragende Neuigkeiten für seine Fans. Er habe nicht vor, aufzugeben, auch wenn er sich den achten Titel sichere! Nein, er wolle bei Mercedes weitermachen und so schnell wie möglich einen Deal mit Chef Toto Wolff abschließen. Die reichlich späte Unterzeichnung des Vertrags für die laufende Saison habe seinem eigenen Stresslevel nicht gutgetan, gab er zu. Er sagte gegenüber Reportern: „In diesem alten Hund steckt noch etwas Leben. Ich würde sagen, dass ich bewusster mit meinem Körper umgehe. Ich fühle mich super. Mit dem Vertrag wollen wir nicht so verbleiben wie im Januar und Februar. Das hat meinen Winter ruiniert, und ich bin sicher, es war auch nicht hilfreich für Toto. Es fühlte sich nicht so an, als hätten wir eine lange Pause. Es wäre toll, früher etwas unter Dach und Fach zu bekommen.“
Viele Leute hatten geglaubt, Lewis würde sich aus dem Rennsport zurückziehen, wenn er den achten Titel gewonnen hätte, aber jetzt wurde in der Boxengasse plötzlich spekuliert, dass er vielleicht zehn Titel erreichen wolle, bevor er Schluss mache. Aber vorerst zählte nur, das dritte Rennen in Folge zu gewinnen, das er anvisiert hatte. Und der Veranstaltungsort war ideal. Monaco: einer von Lewis’ Lieblings-Grands-Prix, aber nur, wenn er die Pole Position holte und einen guten Start hatte. Der Grund dafür war einfach: In den engen Gassen von Monte Carlo war ein Rennen mit gewagten Überholmanövern nahezu unmöglich. Wenn man sich die Pole holte und das Auto keine Panne hatte, war einem der Sieg fast sicher.
Charles Leclerc war im Qualifying brillant und hat sich seinen Start von der Pole Position im Ferrari redlich verdient. Sein Team war zuversichtlich, dass er das Rennen gewinnen könnte, aber in einer grausamen Wendung des Schicksals bekam er Probleme mit der linken Antriebswelle, als er seinen Platz auf der Pole einnehmen wollte. Er konnte deshalb nicht starten, und sein Platz blieb leer. Somit war Verstappen, der im Qualifying der Zweitschnellste war, sozusagen auf der Pole Position, obwohl er vom zweiten Startplatz aus ins Rennen ging. Das war ein schwerer Schlag für Hamilton, der nach einem enttäuschenden Qualifying als Siebter startete und vor einer schweren Aufgabe stand. Er wusste jetzt genau, dass die Chancen für den Niederländer günstig standen, und Max raste ins Ziel, um seinen ersten Monaco-Grand-Prix zu gewinnen – tatsächlich war das sein erster Podestplatz im Fürstentum. Lewis konnte nur den Platz erzielen, von dem er gestartet war – Rang sieben –, und dieses enttäuschende Ergebnis bedeutete auch, dass Verstappen einen weiteren ersten Platz eingefahren hatte, der ihn in der Fahrerwertung auf eine Gesamtpunktzahl von 105 Zähler brachte – Lewis hatte 101 –, womit er in Führung lag. Zwar war es eine knappe Führung, aber sie hatte ihre psychologische Wirkung nicht verfehlt. Lewis’ einziger Trost war, dass er sich nach dem Wechsel auf weiche Reifen einen Extrapunkt für die schnellste Runde sicherte. Zwar hatte er erwartet, dass Verstappen ihn nach der offensichtlichen Verbesserung des Red Bull stark unter Druck setzten würde, aber es half nicht, dass Mercedes strategische Entscheidungen verbockte – diesmal durch einen verpatzten Boxenstopp. Sie mussten sich in dieser Saison auch noch weitere Fehler zuschreiben lassen. Doch Lewis war bereit für den Kampf: Es war das erste Mal seit seinen Duellen mit Nico Rosberg, dass er derart gefordert wurde. Es motivierte ihn, er wollte auf die Probe gestellt werden, um zu beweisen, dass er der Beste war – und dafür und für noch viel mehr sorgte der furchtlose Verstappen.
Hamilton hatte die Chance, im nächsten Rennen in Aserbaidschan die Führung in der Fahrerwertung zurückzugewinnen, als der vorn liegende Verstappen fünf Runden vor Schluss durch einen Reifenplatzer ausschied. Frustration dann aber auch bei Lewis – er verbremste sich in der ersten Kurve in der vorletzten Runde, kam von der Strecke ab und wurde nur 15. Welch ein vernichtender Abschluss des Wochenendes in Baku. Die Lücke war da gewesen, aber er hatte es verpatzt. Um sein Elend angesichts dieser verpassten Gelegenheit noch zu verschlimmern, war Verstappen beim folgenden Grand Prix in Frankreich wieder in Hochform, gewann und ließ Lewis mit fast drei Sekunden Rückstand als Zweiten hinter sich. Nachdem Lewis nur wenige Wochen zuvor die Fahrerwertung angeführt hatte, lag er jetzt zwölf Punkte hinter Max. Und Mercedes lag 37 Punkte hinter Red Bull in der Konstrukteurswertung, weil Valtteri Bottas weiterhin Mühe hatte, seiner Rolle gerecht zu werden, im Gegensatz zu Sergio Pérez, der sich für Verstappen als viel zuverlässigerer Copilot erwies als Bottas für Hamilton.
Und es kam noch schlimmer. Der Niederländer gewann die nächsten beiden Grands Prix – beide in Österreich –, wobei Hamilton im ersten Rennen Zweiter und im zweiten Rennen Vierter wurde. Am Ende des Wochenendes lag Max mittlerweile bei massiven 32 Punkten Vorsprung in der Gesamtwertung. Verstappen hatte drei Grands Prix in Folge gewonnen, und einige Pole Positions und schnellste Runden gingen ebenfalls auf sein Konto.
Mercedes und sein Fahrer Nr. 1 hingen in den Seilen, um einen Boxbegriff zu verwenden, und die Gespräche in der Boxengasse und in der Fleet Street, Synonym für die britische Presse, gingen alle in die gleiche Richtung: Sollte Verstappen am 4. Juli in Silverstone triumphieren, könnte dies zumindest für diese Saison das Ende von Lewis’ Hoffnungen auf den achten Titel bedeuten. Angenommen, es verblieben noch 13 Rennen, könnte das Ruder noch herumgerissen werden, aber was würde passieren, wenn man die Saison aufgrund von Covid erneut verkürzte?
Der Druck war groß – in mehr als einer Hinsicht –, als sich die Rivalen zum britischen Grand Prix in die Startlöcher begaben, der eines der folgenschwersten und aufregendsten Rennen seit Jahren werden sollte. Die Veranstaltung war auch als Versuchsballon für eine Innovation in der Formel 1 ausgewählt worden – das Sprint-Qualifying, um die Startaufstellung für das Hauptrennen des Grand Prix am Sonntag zu bestimmen. Für drei Rennen in dieser Saison würde die traditionell schnellste Runde im letzten Qualifying gestrichen und durch ein 100-Kilometer-Rennen mit einer voraussichtlichen Dauer von 30 Minuten ersetzt. Die Startaufstellung für das Sprintrennen würde wiederum durch die Qualifying-Ergebnisse am Freitag bestimmt. Die Pole und der Rest der Startaufstellung am Sonntag wurden nun also durch den Sprint entschieden, mit der weiteren Neuerung, dass den drei Erstplatzierten Meisterschaftspunkte zuerkannt würden: drei für den Sieger, zwei für den Zweitplatzierten und einen für den dritten Platz.
Ziel war es, die Events vor dem Sonntag aufzupeppen, um eine neue Generation jüngerer Fans auf die Rennstrecken zu locken und einen Anreiz zum Kauf von Sky-TV-Formel-1-Paketen zu schaffen. Der Gedanke von Liberty Media, die Anfang 2017 die Formel 1 übernommen hatte, bestand darin, dass jüngere Fans mehr Nervenkitzel wollten und ein Mini-Rennen die nötige Spannung bieten könne, um sie zu fesseln. Ein Wagnis, über das die Traditionalisten unweigerlich entsetzt waren. Aber die Idee war sicher einen Versuch wert; vor allem, wenn das Hauptziel erreicht wurde – und, wer weiß, die Neuerung könnte sogar so aufregend sein, dass auch die ursprünglichen Gegner Gefallen daran fänden …
Lewis wurde die Pole Position in seinem Heim-Grand-Prix verwehrt, weil Max die 17-ründige Premierenveranstaltung sehr zu Lewis’ Leidwesen gewann. Lewis wurde mit 1,4 Sekunden Rückstand Zweiter, Valtteri Bottas Dritter. So hatte Max schon vor dem Main Event seine Tabellenführung um einen weiteren Punkt ausgebaut, denn er bekam für seinen Sieg im Sprint drei Punkte, Lewis dagegen nur zwei.
Das Publikum und die Fernsehzuschauer haben den Sprint mehrheitlich dann doch genossen. Konsens war, dass diese Neuerung dem Wochenende weitere Würze verleihe und dass das Publikum aufgrund des zusätzlichen Wettbewerbscharakters viel mehr in den Bann gezogen werde als beim traditionellen Qualifying, bei dem die Fahrer um Startplätze kämpften, indem sie separat auf die Strecke geschickt wurden.
Lewis fuhr am Sonntag bei strahlendem Sonnenschein in der Startaufstellung hinter Max ein Rennen, das er gewinnen musste, um seine Hoffnungen auf die Meisterschaft wiederzubeleben. Der Druck war groß, aber Hamilton schien sein übliches Zen-ähnliches Selbst zu sein, bevor er ins Cockpit sprang. An der Oberfläche ruhig und sicher, aber was ging wirklich in ihm vor? Würde sich der Druck auf seine Leistung auswirken, jetzt, wo so viel auf dem Spiel stand? Seit Jahren war er in der Position, nicht mehr wirklich um die Meisterschaft kämpfen zu müssen. Oder stand Verstappen jetzt doch noch stärker unter Druck, weil viele von ihm erwarten, dass er Weltmeister würde, weil er alle Chancen dazu besaß? In der neunten Kurve der ersten Runde wurden die Antworten geliefert.
Im Rennen um die Führung war Max der Favorit, doch plötzlich wurde er in voller Fahrt mit 290 Stundenkilometer aus der Copse-Kurve in den Reifenstapel katapultiert, als Hamilton ihn touchierte. Zum Glück haben die Sicherheitsbarrieren ihren Job gemacht, und Verstappen stieg gut durchgeschüttelt, aber glücklicherweise nur leicht verletzt aus dem Auto. Er war jedoch aus dem Rennen, und Hamilton gewann den britischen Grand Prix und meldete sich damit im Kampf um den Titel zurück zu einem Zeitpunkt, als viele Experten ihn bereits abgeschrieben hatten. Er erhielt eine Zeitstrafe von zehn Sekunden für die Kollision mit Max, weil die Rennkommissare ihn zwar als Verursacher ansahen, sein Handeln aber angesichts der milden Strafe wohl nicht als lebensgefährlich einstuften. Aber er hatte noch viel zu tun, als das Rennen endlich wieder begann. Zwei Runden vor der Ziellinie lag er noch hinter dem Führenden Charles Leclerc zurück, konnte diesen dann aber überholen und seinen achten britischen Grand-Prix-Sieg einfahren. Ironischerweise raste Lewis just in der Copse-Kurve an Leclerc vorbei, genau dort, wo er und Verstappen sich ins Gehege gekommen waren.
Der Sieg bedeutete, dass er den Rückstand im Kampf um den Titel auf nur mehr acht Punkte verkürzte. Lewis gab seine Sicht der Dinge in seinem Funkruf an das Mercedes-Team zum Besten. Er sagte: „Es war meine Linie, ich habe ihm Platz gelassen.“ Dennoch war es ein brillantes Ergebnis, das 140.000 Zuschauer ins Schwärmen brachte. Meine Meinung zu diesem Crash ist, dass beide Fahrer dazu beitrugen: Beide waren entschlossen zu gewinnen, wobei Hamilton mehr zu verlieren hatte, wenn Verstappen im schnelleren Red Bull davonkam. Dennoch bin ich nicht der Meinung, dass Lewis absichtlich auf Max zielte, um ihn aus dem Rennen zu katapultieren. Jeremy Clarkson, Experte und ehemaliger Top-Gear-TV-Moderator, brachte es auf den Punkt. Er sagte: „Niemand war schuld. Es war ein Rennunfall.“
Für mich war das der Beweis, dass Hamilton seinen Kampfgeist nicht verloren hatte. Auf keinen Fall wollte er vor Verstappen kapitulieren, und schon gar nicht bei seinem Heim-Grand-Prix. Seine Entschlossenheit und Aggressivität zeigten, wie heiß er war, vor seinen Fans zu gewinnen, und dass er sich nicht länger von Max unter Druck setzen ließ. Seine Aggressivität war ein Signal für seinen größten Rivalen, wie viel es ihm weiterhin bedeutete, die Nummer 1 zu sein. Er war zurück – und mit Nachdruck –, als er seinen 99. Grand-Prix-Sieg einfuhr.
Natürlich war Lewis’ Sieg umstritten, und es gab viele Diskussionen darüber, wer im Recht und wer im Unrecht sei. Es war hauptsächlich Lewis, der die Kritik abbekam, denn er hatte das Hinterrad seines Rivalen touchiert. Red-Bull-Chef Christian Horner sagte: „Das ist kein echter Sieg. Einen Kollegen ins Krankenhaus zu bringen und ein Auto zu schrotten, dafür eine lächerliche Sanktion zu erhalten und trotzdem den Grand Prix zu gewinnen fühlt sich nicht wirklich nach Bestrafung an. Es war eine Verzweiflungsaktion von Lewis.“
Horner behauptete auch, Lewis habe Max in Lebensgefahr gebracht: „Seine Handlungen haben die Sicherheit eines anderen Fahrers gefährdet, und das ist für mich inakzeptabel. Jeder Grand-Prix-Fahrer weiß, dass eine Aktion in dieser Kurve – einer der schnellsten in der Formel 1 – ein überaus großes Risiko darstellt. Er hat Max in der Innenseite der Copse-Kurve am Rad touchiert, einer der schnellsten dieser Meisterschaft, mit voller Pulle bei 290 Stundenkilometer. Man kann sich ausrechnen, welche Konsequenzen das nach sich zieht. Es ist enttäuschend für einen siebenfachen Weltmeister, dass er eine so verzweifelte Aktion nötig hat und einen Mitfahrer ins Krankenhaus bringt. Das war ein Amateurfehler, ein Akt der Verzweiflung. Wir hatten großes Glück, dass niemand ernsthaft verletzt wurde. Ich verstehe nicht, wie Lewis mit einem Sieg zufrieden sein kann, für den man einen Kollegen ins Krankenhaus bringen musste.“
Aber Lewis war anderer Ansicht. Er sagte: „Es ist ein normales Duell gewesen. Als ich jünger war, verhielt ich mich vielleicht nicht so aggressiv wie Max, aber doch ziemlich aggressiv. Ich bin jetzt viel älter. Ich weiß, dass es ein Marathon ist, kein Sprint, ich habe einen besseren Überblick darüber, wie ich an meine Rennen herangehe. Aber wir befinden uns in einem Wettstreit, und wenn Max sehr aggressiv war, musste ich meistens nachgeben, um einen Unfall zu vermeiden. Ich war wirklich zufrieden mit meinem Täuschungsmanöver – nach links, dann nach innen und in die Lücke. Zum Glück konnte er sie nicht schließen, aber leider kam die Aggression von seiner Seite, und wir kollidierten. Es ist bedauerlich, aber es ist ein Rennunfall, und diese Dinge passieren eben. Ich denke, wir müssen auf der Strecke die beste Balance finden, in gegenseitigem Respekt, damit wir ohne Kollisionen weiter Rennen fahren können.“
Horner behauptete auch, es sei kein „echter“ Sieg gewesen. Aber Lewis schlug noch einmal zurück und sagte: „Er fühlt sich echt an. In meinem Team arbeiten 2000 Leute unglaublich hart, es geht nicht nur um mich. Ich sagte bereits, dass ich nicht möchte, dass so etwas in einem Rennen passiert. Es ist für uns alle wichtig, dass sich die Gemüter beruhigen. Ich bin mir sicher, dass die Emotionen hochkochen, und ich weiß, wie es ist, in dieser Position zu sein.“
14 Tage darauf kamen die Formel-1-Teams in Ungarn an, einer von Lewis’ Lieblingsstrecken, auf der er ebenfalls achtmal gewonnen hatte und auf der er den heißen Kampf mit Max fortsetzte, denn keiner der beiden war gewillt, nachzugeben. Erneut hatte die britische Legende dort die Nase vorn und erhielt einen kräftigen mentalen Schub im Kampf um den Titel. Nachdem er nur drei Rennen zuvor noch 32 Punkte Rückstand auf Max hatte, gelang es Lewis in Ungarn, die Führung in der Fahrerwertung mit acht Punkten Vorsprung auf Max zu übernehmen. Es war eine bemerkenswerte Wendung, mit der der Formel-1-Zirkus in die Sommerpause ging. Sie zeigte, zu welcher Hochform Lewis aufgelaufen war – und wie viel ihm der Gewinn dieses achten Titels bedeuten würde. Er wollte es nicht länger hinnehmen, dass ihn der junge Recke auf der Strecke schikanierte. Der „alte Kerl“, wie Lewis manchmal im Red-Bull-Lager genannt wurde (aber natürlich nur hinter vorgehaltener Hand), drehte die Uhr zurück.
Lewis wurde in Ungarn Dritter hinter Überraschungssieger Esteban Ocon und dem Zweitplatzierten Sebastian Vettel, landete dann aber auf dem zweiten Platz, nachdem Vettel wegen eines Kraftstoffverstoßes disqualifiziert worden war. Verstappen landete nach einer neuerlichen Kontroverse abgeschlagen auf dem neunten Platz, nachdem er diesmal Opfer eines Treffers von McLarens Lando Norris geworden war, der den Red Bull beschädigte.
Lewis war mittlerweile zuversichtlich, dass er die Herausforderung durch den Niederländer nun meistern und ein weiteres Kapitel in seiner bemerkenswerten Geschichte schreiben könnte. Aber ungeachtet dessen, wie die Saison endet, seine Gesamtstatistik zu diesem Zeitpunkt hatte gezeigt, was wir, seine Fans, bereits wussten: Der Brite ist der größte Formel-1-Pilot aller Zeiten. Der Champion der Champions …