4.

Am 15. August, als Davide noch in Mantua war, geschah hier bei uns in Portuense ein Verbrechen. Santina, die alte Prostituierte, wurde von ihrem Zuhälter ermordet. Er selbst stellte sich wenige Stunden später der Polizei.

Davide erfuhr nichts davon, da sich niemand die Mühe gemacht hatte, es ihm mitzuteilen (sein sporadisches Abenteuer mit dieser Frau war quasi klandestin gewesen), und derzeit schaute er nicht einmal in die Zeitung. Sowieso wurde der Vorfall in den norditalienischen Zeitungen wahrscheinlich gar nicht erwähnt. In der römischen Presse dagegen erschien die Nachricht sogar mit Fotos von Santina und dem Mörder. Santinas Foto war schon älteren Datums, aber obwohl sie darauf frischer und voller und weniger hässlich als zuletzt aussah, zeigte ihr Gesicht schon diese stumpfe Ergebenheit eines Schlachttiers, die, von heute aus betrachtet, das Zeichen einer Vorbestimmung zu sein schien. Das Foto des Mörders war bei der Verhaftung im Polizeipräsidium aufgenommen worden; doch auch er wirkte jünger, als er war. Tatsächlich war er 32, sah darauf aber wie 22 aus. Dunkel, trotz des Feiertags unrasiert, mit niedriger Stirn und den Augen eines tollwütigen Hunds war er genau das, was man eine »Knastvisage« nennt. Er zeigte keinerlei besondere Regung, außer vielleicht, dass er auf seine sprachlose, starre Weise zu erklären schien: »Hier bin ich. Ich bin von allein gekommen. Ohne dass ihr mich festgenommen habt. Schaut mich an. Schaut mich nur an. Ich sehe euch sowieso nicht.«

Bei dieser Gelegenheit erfuhr man aus der Zeitung auch seinen Namen, den Santina nie jemandem verraten hatte. Er hieß Nello D’Angeli.

Das anscheinend nicht vorsätzliche Verbrechen war in Santinas Erdgeschoss begangen worden. Und es war mehr als eine Waffe zum Einsatz gekommen, was eben im Haus so vorhanden war: eine große Schere, das Bügeleisen und sogar der Putzeimer. Der Tod wurde allerdings auf einen anfänglichen Stich mit der Schere zurückgeführt, der die Halsschlagader der Frau durchtrennt hatte; der Mörder hatte aber noch weiter mit jedem Gegenstand, der ihm in die Hände fiel, gegen den leblosen Körper gewütet. Die Zeitungen sprachen von einem »mörderischen Blutbad«.

Am 15. August war es um diese Zeit (zwischen drei und vier Uhr nachmittags) rundherum menschenleer; und Nachbarn, die zu Hause Siesta hielten, hatten weder Schreie noch Streit gehört. Dennoch hatte es nicht lange gedauert, bis das Verbrechen entdeckt wurde, da der Schuldige sich keinerlei Mühe gegeben hatte, die Spuren zu verwischen. Sogar die Tür hatte er nur angelehnt, sodass von innen ein Blutrinnsal herausfloss und draußen die staubige Erde tränkte. Im Raum hatte das Blut eine große Pfütze neben dem Bett gebildet, der Vorleger und die Matratze waren vollgesogen, sogar die Wände waren bespritzt, und außerdem hatte der Mörder überall seine blutigen Fuß- und Fingerabdrücke hinterlassen. Santinas Körper lag auf dem Bett, nackt (vielleicht hatte sie, anders als bei ihren gelegentlichen Kunden, bei ihrem einzigen Geliebten eingewilligt, sich auszuziehen). Und obwohl man in der Gegend wusste, dass sich die Frau dank der Anwesenheit der Besatzungssoldaten immer noch ungewöhnlicher Beliebtheit erfreute, wurde weder zwischen ihrer Wäsche noch sonst in der Wohnung Geld gefunden. Nachdem man ihre Leiche fortgebracht hatte, entdeckte man ihre Handtasche unter der Matratze, wo sie sie gewöhnlich aufbewahrte; doch außer dem Personalausweis, dem Hausschlüssel und ein paar gebrauchten Straßenbahnfahrkarten enthielt sie nur etwas Kleingeld.

Dafür wurden bei der Festnahme viele mittlere und kleine Geldscheine bei ihm gefunden. Er hatte sie in seiner Brieftasche aus Krokoimitat verstaut, die wie immer ordentlich in der Gesäßtasche steckte; und sie waren zwar abgegriffen und schmutzig, wiesen aber keine Blutspuren auf. Dennoch erwiderte er auf die Frage, ob er sie der Frau abgenommen habe, auf seine hinterhältige und anmaßende Art: »So ist es.« Dabei hatte sie ihm das Geld in Wirklichkeit wenige Augenblicke, bevor er sie ermordete, eigenhändig gegeben. Aber ihm lag nichts daran, bestimmte nebensächliche Einzelheiten zu klären.

Abgesehen von der Brieftasche in der zugeknöpften Hosentasche waren alle seine Kleider und auch die Hände bis unter die Fingernägel mit Blut besudelt, teilweise schwarz und mit Staub und Schweiß vermischt. Er hatte sich nicht die Mühe gemacht, sich zu waschen, und meldete sich bei der Polizei in demselben Aufzug, den er schon seit dem Morgen trug: ein offenes, eher feines rosa Leinenhemd, um den Hals ein Kettchen mit einem grün emaillierten, vierblättrigen Kleeblatt, ausgebeulte Leinenhosen ohne Gürtel und Sommerschuhe an den nackten Füßen. Er sagte, nach dem Verbrechen sei er nicht zu sich nach Hause zurückgekehrt, sondern allein hinter der Via Portuense über die Wiesen in Richtung Fiumicino gegangen, dort habe er etwa eine Stunde geschlafen. In der Tat hatte er Reste trockener Halme im Haar. Es war halb acht Uhr abends.

Auf dem Polizeipräsidium kannten sie schon seinen derzeitigen Beruf als Zuhälter. Und die Erklärung für sein Verbrechen fiel den Beamten nicht schwer, sie nannten es klassisch, weil es typisch war: Die alte Nutte, die er ausbeutete, hatte ihm vielleicht einen Teil ihrer Einnahmen verweigert und das Geld versteckt (oder er vermutete es zumindest), obwohl nach seinem Gesetz alles ihm gehörte. Und er, in der Untersuchung als unmoralisch, erwerbsunfähig, unterdurchschnittlich intelligent und triebhaft bezeichnet, hatte sie so bestraft … Er selbst erleichterte den Ermittlern die Arbeit. Auf ihre (vorhersehbaren und naheliegenden) Fragen antwortete er wie schon anfangs in Bezug auf die Banknoten nichts anderes als: »So ist es«, »genau«, »so war es«, »es war, wie Sie sagen« …, oder auch bloß mit einem stummen Heben der Augenbrauen, was nach südlicher Manier eine Bestätigung bedeutet. Dabei zeigte er eine gleichgültige, finstere Trägheit, wie einer, der es, einer überflüssigen Anstrengung unterworfen, bequem findet, sich zumindest teilweise durch die induktive Logik der Ermittler entlasten zu lassen … Und zuletzt setzte er mit halb zynischer, halb schwachsinniger Lässigkeit widerspruchslos seinen Namen unter das Protokoll: D’Angeli Nello. Seine mit Schnörkeln versehene Unterschrift war so ausufernd, dass sie die ganze Breite des Blattes einnahm, wie die Unterschriften von Benito Mussolini und Gabriele D’Annunzio.

»Mord aus niederen Beweggründen.« Niedere Beweggründe hieß in seinem Fall nach Ansicht der Behörden Ausbeutung und Geldgier; doch Nello D’Angeli hätte sich viel mehr seiner wahren Beweggründe geschämt, wären sie ihm nur bewusst gewesen.

Dass ein junger Mann eine alte Hure ausbeutet, war für ihn normal; aber nicht, dass er sie liebt. Und doch, die unannehmbare Wirklichkeit war diese: dass er auf seine Weise in Santina verliebt war.

In seinem gesamten früheren Leben hatte er nie etwas Eigenes besessen. Er war in öffentlichen Heimen für verlassene Kinder und Jugendliche aufgewachsen. Als er klein war, gaben ihm die Nonnen in seiner Einrichtung einmal im Jahr, zu Weihnachten, einen Stoffbären, der ihm nach den Feiertagen wieder weggenommen und bis zum nächsten Jahr in einen Schrank eingeschlossen wurde. Einmal bekam er unterm Jahr solche Sehnsucht nach dem Bären, dass er ihn heimlich herausholte, nachdem er das Schrankschloss aufgebrochen hatte. Wenige Minuten später wurde er entdeckt und zur Strafe mit einer Bürste geschlagen; am folgenden Weihnachten wurde ihm der Bär vorenthalten und blieb eingeschlossen.

Von da an hatte er sich angewöhnt, ein bisschen zu stehlen. Die Strafen waren unterschiedlich und auch seltsam: abgesehen von Schlägen ließ man ihn stundenlang knien, beim Essen gab man ihm alle Speisen in einem Napf zusammengemischt, brennende Zeitungen schwenkend lief man hinter ihm her und drohte, ihm Feuer unter dem Hintern zu machen, und einmal ließ man ihn sogar seine eigene Scheiße auflecken. Da er als notorischer kleiner Dieb galt, wurde er manchmal auch für Diebstähle bestraft, die er gar nicht begangen hatte. Er war kein nettes oder aufgewecktes Kind, niemand verteidigte ihn; und nie bekam jemand Lust, ihn zu liebkosen. Als er größer wurde, geschah es zuweilen, dass ein anderer Junge aus dem Heim, ein ausgesetztes Kind wie er, zu ihm ins Bett schlüpfte, ihn streichelte und ihm auch Küsschen gab oder versuchte, sich mit ihm zurückzuziehen. Er hatte aber gehört, das sei nicht normal; und da er Wert darauf legte, ein normaler Junge zu sein, wehrte er diese Zärtlichkeiten wütend mit Fäusten ab. Seine Faustschläge waren schon eisenhart, und die anderen fürchteten sich davor. Später misstraute er immer den angeblichen Freunden, weil er vermutete, sie seien anormal.

Um die 20, aus dem Heim entlassen, hatte er aus eigenem Antrieb seine Mutter aufgesucht. Diese, ursprünglich Tochter eines Schafhirten (sie kam aus dem Inneren Siziliens, und die Großeltern stammten aus Albanien), hatte als junges Mädchen den gleichen Beruf ausgeübt wie Santina; doch jetzt lebte sie mit einem Mann und den drei noch kleinen Kindern, die sie von ihm hatte. »Ich behalte dich zum Schlafen und Essen da«, sagte sie zu Nello, »unter der Bedingung, dass du arbeiten gehst, um die Familie zu unterstützen.« Er fing mit Erdarbeiten an, doch die Mutter ließ ihm nicht einmal das Geld für seine Zigaretten und warf ihm außerdem ständig vor, für das bisschen, was er verdiene, esse er zu viel. Eines Tags ging er, obwohl sie seine Mutter war, mit Fäusten auf sie los und ließ sich dann nie mehr blicken. Einige Monate später hatte es ihn schließlich nach Rom verschlagen.

In jenen Jahren geriet er an ein Hündchen, das vielleicht einmal weiß gefleckt war, aber vor Räude und Dreck schwarzgrünlich aussah. Er hatte es in einem Erdloch entdeckt, ganz lahm von Steinwürfen und Stockschlägen, und hatte es, man weiß nicht wie, durch seine ureigene Fürsorge wieder zum Leben erweckt: So gehörte es ihm in doppelter Hinsicht. Er hatte es Fido genannt und nahm es überall mit hin. Allerdings bezahlte er keine Hundesteuer. Und folglich kam eines Tags ein Bediensteter der Gemeinde und beförderte Fido mit einer Art Harpune direkt in einen Lieferwagen, in dem schon viele andere Hunde saßen: Von dort fuhren sie alle, einschließlich Fido, zum Schlachthof.

Von da an machte sich Nello D’Angeli jedes Mal, wenn er einem Hund oder einer streunenden Katze begegnete, einen Spaß daraus, sie zu quälen, bis sie krepierten.

Zu arbeiten zog er nicht in Betracht. Er lebte von kleinen Diebstählen in den Tag hinein, ohne sich je mit anderen Dieben zu verbünden. So vegetierte er am Rand auch dieser Gesellschaft dahin; und da er von Natur aus nicht sehr schlau war, landete er recht häufig im Gefängnis Regina Coeli, wo er mit Pausen viele Monate des Jahres verbrachte. Als er dann Santina kennenlernte, lebte er in den Zwischenzeiten teilweise auf ihre Kosten.

Er war nicht richtig hässlich, aber auch nicht hübsch. Er war ein bäuerlicher Typ, gedrungen, düster, abweisend, und gefiel den Mädchen im Allgemeinen nicht. Dennoch, hätte er gewollt, hätte er eine vom Alter her passendere und weniger hässliche Frau als Santina finden können; doch er hielt sich instinktiv von der Jugend und der Schönheit fern, wie ein Tollwütiger, der zu beißen fürchtet. Seine einzige Frau war Santina.

Was sie verband, war das Geld. Da er sie aber in Wirklichkeit liebte, diente ihm sein Interesse am Geld unbewusst mehr als Vorwand, um ihr nahe zu sein. Er hatte nur sie auf der Welt, wie auch Santina außer ihm sonst nichts hatte. Nur dass sie, trotz ihrer geringen Intelligenz, in der Lage war, ihre Liebe zu erkennen; während er die seine nicht erkannte.

Jedes Mal, wenn er bei ihr erschien, sagte er als Erstes finster und drohend: »Wo hast du das Geld?« Und sie übergab ihm ohne Zögern alles, was sie besaß, und bedauerte nur, dass es nicht noch mehr war. Hätte sie ihm das Geld verweigert oder ihn vielleicht beschimpft, wäre ihm die Sache normaler vorgekommen. Aber wie konnte sie ihm in ihrer Einfachheit überhaupt irgendetwas abschlagen? Nur für ihn ging sie noch auf den Strich; und ebenfalls nur für ihn lief sie in mageren Zeiten hierhin und dorthin und arbeitete als Wäscherin, Pflegerin und Zugehfrau. Wäre es nur um sie gegangen, hätte sie sich sterben lassen, wie manche herrenlosen Tiere, wenn sie alt werden.

Und er hing unter dem Vorwand des Geldes tatsächlich an ihrer Person: gerade an ihrem alten, reizlosen Körper, der sich ihm auf seine grobe Art sanft und – seltsamerweise – unerfahren hingab, als hätte sie in all ihren Berufsjahren die Praxis noch immer nicht gelernt; er hing an ihrem melancholischen Lächeln, an ihrem Geruch nach Elend. Wenn sie im Krankenhaus lag, brachte er ihr Orangen; und wenn sie erwischt und im Frauengefängnis der Mantellate festgehalten wurde, schloss er sich in seiner gemieteten Baracke ein, im Dunkeln, da ihm selbst die Farben des Tags Übelkeit verursachten. Sah er sie dann wieder frei, war sein erstes Gefühl Wut; und er empfing sie mit bösen Worten.

Manchmal, wenn er sie schroff verließ, nachdem er ihr das Geld abgenommen hatte, schlenderte er noch weiter in der Nähe ihres Erdgeschosszimmers herum, wie ein armer herrenloser Hund, der nicht weiß wohin. Dieses Erdgeschoss war sein Zuhause. Er behielt immer seine eigene Mietwohnung in der Baracke in Trionfale: Doch zuletzt, als Santina etwas besser verdiente, ging er immer häufiger abends zum Schlafen zu ihr. Wenn sie Kunden hatte, blieb er draußen, warf sich auf den mit Abfall übersäten Boden und wartete, bis sie fertig waren. Er empfand keinerlei Eifersucht, da er wohl wusste, dass die anderen Männer für sie nicht zählten. Sie gehörte ihm, ihrem einzigen Herrn. Was sie kaufte, war immer für ihn. Für sich selbst gab sie nichts aus, abgesehen von dem, was sie von Berufs wegen brauchte, wie ab und zu ein Wannenbad in der öffentlichen Brauseanstalt oder eine Dauerwelle. Und da das Geschäft zurzeit florierte, leistete sie sich den Luxus, ihm Geschenke zu machen: zum Beispiel die Brieftasche aus Krokoimitat oder ein paar erlesene Leinenhemden oder ähnlich feine Sachen. Auch das vierblättrige, emaillierte Kleeblatt mit dem Kettchen hatte sie ihm geschenkt.

Und sie wusch und bügelte seine Wäsche und Hosen, kochte ihm auf ihrem kleinen Gaskocher Pasta und Fleisch und überraschte ihn mit amerikanischen Zigaretten.

… Da kommt der Schatten eines Unbekannten aus der Tür im Erdgeschoss. Man hört es von innen plätschern. Er streckt sich, steht auf und geht auf die Tür zu:

»Wo ist das Geld?!«

Und nachdem er es an sich genommen hat, könnte er, wenn er wollte, einfach gehen: Sie verlangt von ihm keine Gegenleistung. Doch stattdessen, genau wie Säuglinge, nachdem die Mutter sie gestillt hat, fängt er an zu gähnen und wirft sich auf das schmale Bett, als erwarte er ein Wiegenlied.

Sie geht derweil geschäftig bei ihren Vorbereitungen hin und her, holt die Makkaroni aus dem Küchenschränkchen, die Zwiebeln, die Kartoffeln … Er richtet sich auf einem Ellbogen auf und mustert sie mit scheelen Blicken:

»Jesus Maria, bist du hässlich! Hast Beine und Arme wie Stecken und einen Arsch, der aussieht wie zwei weichgeklopfte Ochsenviertel!«

Sie antwortet mit keinem Wort, geht ein wenig beiseite, mit ihrem passiven, unsicheren, schuldbewussten Lächeln …

»Was machst du überhaupt? Was manschst du da zusammen?! Mir dreht’s schon den Magen um, Jesus Maria, bei diesem Zwiebelgestank. Komm auf die Decke, dann seh ich dich wenigstens nicht …«

So geht das fast jeden Abend. Die verzehrende Sehnsucht, die ihn zu ihr hinzieht, ist ihm unbegreiflich. Und wo er sich auch aufhält, immer fühlt er wieder das Bedürfnis nach ihrem Körper. An manchen Abenden lässt er sich vor Hass nicht bei ihr blicken; sie aber macht ihm am nächsten Tag keine Vorwürfe. Im Sommer sitzt sie manchmal bei Sonnenuntergang auf der Schwelle und wartet auf ihn; und wenn sie ihn kommen sieht, leuchten ihre trägen, naiven Augen vor spontaner, fast ekstatischer Dankbarkeit. Sie lächelt ihr scheues Lächeln und sagt:

»Nello!«

Nur das. Sie steht auf und geht mit ihren großen Füßen vor ihm her in das dunkle, kühle, kleine Zimmer.

»Wo ist das Geld?!«

Würde sie ihn irgendwann einmal davonjagen, würde er sie weniger hassen. Santinas Anwesenheit in seinem Leben ist wie der rötliche Fleck einer Krankheit, der sich ausbreitet.

Die Menschen streben von Natur aus nach einer Erklärung der Welt, in die sie hineingeboren sind. Das unterscheidet sie von allen anderen Arten. Jedes Individuum, selbst das am wenigsten intelligente und auch der niedrigste Paria, erklärt sich von Kindheit an die Welt auf irgendeine Weise. Und danach lebt es und passt sich an. Ohne diese Erklärung würde es wahnsinnig. Bevor Nello D’Angeli Santina begegnete, hatte er sich seine Erklärung zurechtgelegt: Die Welt ist ein Ort, an dem alle Nello D’Angelis Feinde sind. Seine einzige Möglichkeit, sich gegen sie aufzulehnen, seine Normalität, um sich anzupassen, ist der Hass. Jetzt ist Santinas Existenz ein Fremdkörper, durch den seine Welt auf den Kopf gestellt wird, sein stumpfer Geist dreht sich im Leerlauf.

Manchmal im Schlaf überkamen ihn Albträume, in denen Santina ihm immer weggenommen wurde. Er träumte, eine Truppe deutscher Soldaten hätte das Erdgeschoss umstellt und schleifte sie zu einem Lastwagen, die Maschinenpistolen im Anschlag; oder Krankenpfleger im weißen Kittel kamen mit einem Sarg, angeführt von einem Kommissar, hoben Santinas Kleid hoch, sagten: »Sie hat die Pest«, und trugen sie im Sarg davon. Dann schrie und tobte er im Schlaf und erwachte voll Hass auf Santina, als sei alles ihre Schuld. Eines Nachts fand er sie beim Aufwachen neben sich im Bett, schlafend, und fiel mit blutunterlaufenen Augen über sie her: »Verfluchtes Weib, steh auf!«, schrie er. Und während er auf sie eindrosch, war ihm, als befinde er sich in einer riesigen Schlägerei, bei der er selbst mit Faustschlägen zu Tode geprügelt wurde.

Nie schlief er, auch nur kurz, ohne zu träumen. Und seine Träume, ob Santina darin auftauchte oder nicht, waren unweigerlich trüb und unruhig. Am 15. August, als er nach dem Verbrechen auf der Wiese eindämmerte, träumte er, dass er auf eben dieser Wiese auf ein Erdloch zuging. Es war weder Tag noch Nacht, es herrschte eine nie gesehene, glanzlose Helle; und unten in dem Erdloch lag Santina mit weit aufgerissenen Augen, sie war hinuntergefallen und rührte sich nicht mehr. Er stieg zu ihr hinab, nahm sie auf den Arm, trug sie herauf und zog sie nackt aus, damit sie wieder zu sich kam. Und sie lag da unter ihm auf der Wiese, der weiße, entkräftete Körper nur Haut und Knochen, mit ihren kleinen, mageren, schlaffen Brüsten einer alten Frau. Ganz langsam öffneten sich ihre Augen in dem Gesicht, das wieder Farbe bekam, und dabei hob sie die Hand und bewegte den Finger, als machte sie einen Scherz. Und während sie versuchte, ihre Zahnlücke zu verbergen, wiederholte sie mit ihrem gewohnten Lächeln:

»Es ist nichts … Es ist nichts …«

Und er fühlte sich zum ersten Mal in seinem Leben froh und voll Vertrauen. Als er in der untergehenden Sonne erwachte, sah er wieder die Blutflecken auf seinem rosa Hemd und erinnerte sich sofort an alles. Nun gab es kein Zuhause mehr, wo er hätte hingehen können.

Eines der vielen Dinge, die er schon lange zu hassen begonnen hatte, war die Freiheit. Er war nie frei gewesen. Erst die Heime, dann der kurze Aufenthalt bei seiner Mutter mit dieser täglichen Zwangsarbeit, und schließlich Regina Coeli, wo er ein und aus ging. Wie schon in seiner Kindheit im Nonneninstitut waren auch später die Straftaten, die man ihm zur Last legte, nicht immer von ihm begangen worden. Als Gewohnheitsdieb bekannt, wurde er häufig verhaftet, obwohl er nichts getan hatte, einfach auf Verdacht. Und auf diese Weise fühlte er sich, auch wenn er frei herumlief, wie eine Kanalratte, die erwartet, vom ersten, der sie sieht, verjagt zu werden, sobald sie sich auf der Straße zeigt. Die provisorische Freiheit ist das schlimmste von allem. Und er ging, ohne weiter darüber nachzudenken, schnurstracks zur Polizei, um sich anzuzeigen. Er war nun 32, und mit seinem Mord konnte er sicher sein, im Gefängnis alt zu werden. Das war jetzt sein einziges Zuhause.

Früher als er es Nino geschrieben hatte, kehrte Davide in den ersten Septembertagen nach Rom zurück. Wie gewohnt kam er ohne Vorankündigung und pilgerte vergeblich von einer möglichen Adresse Ninos zur anderen, ohne ihn anzutreffen. Zuletzt wagte er sich in die Via Bodoni; doch noch bevor er sich in der Pförtnerloge erkundigen konnte, hörte er ein Stimmchen rufen: »Carlo! Carloo!« Er war den Namen schon nicht mehr gewohnt, erkannte aber gleich Useppe, der ihm in Gesellschaft eines großen weißen Hunds vom ersten Hof aus entgegenkam. Er wartete auf seine Mutter, die gleich herunterkommen sollte. Und lebhaft, wenn auch mit leichtem Bedauern, den Besucher enttäuschen zu müssen, verkündete er: »Carlo! Nino ist gestern weg! Mit dem Luuzeug, und er hat gesagt, dass er bald zurückkommt, mit einem anderen Luzeug!« Obwohl Useppe nun schon fünf Jahre alt war, verdrehte er manche Wörter und Konsonanten, besonders wenn er übermäßig lebhaft oder aufgeregt war, immer noch wie ein kleines Kind.

Davide gähnte oder seufzte, als er von Ninos Abreise erfuhr, sagte aber nichts dazu. Stattdessen ermahnte er den Kleinen halblaut: »Ich heiße nicht Carlo. Ich heiße Davide …« »Vàvide … ja!«, verbesserte sich Useppe, ein wenig beschämt wegen des Fehlers von vorher. Pflichtschuldig begann er von vorn: »Vàvide! Nino ist gestern weg. Mit dem Lugzeug …« und so weiter und so weiter.

Unterdessen sprang der Hund freudig um den unbekannten Besucher herum und begrüßte ihn zutraulich und voll Sympathie. Und dann bellte er ihm zum Abschied noch nach, während Davide, der keinen Grund mehr hatte zu bleiben, schon zum Haustor zurückging. »Ciao, Vavideee!«, rief Useppe ihm nach und zappelte fröhlich mit Händen und Füßen. Und als Davide sich umwandte, um ihm zu winken, sah er, wie das Kind das große Tier am Halsband an sich zog, als hielte es ein Pferdchen am Zügel zurück; und wie der Hund sich zwischen seinen ungebärdigen Sprüngen alle Augenblicke umdrehte, um ihm über Wangen und Nase zu lecken, und wie das Kind hüpfend seinen großen Kopf umarmte. Es war klar, dass zwischen den beiden eine vollkommene, wunderbare Eintracht herrschte. Davide bog um die Ecke der Via Bodoni.

Er war die ganze Nacht in einem alten Wagon dritter Klasse mit Holzsitzen gereist; und zudem hatte er sich wegen des großen Andrangs nicht ausstrecken können, sodass er an seinem Eckplatz zusammengekauert, das Gesicht halb in einem geliehenen Kopfkissen verborgen, recht und schlecht vor sich hingedöst hatte. Er hörte es Mittag schlagen, doch obwohl er seit dem Vortag nichts gegessen hatte, verspürte er keinen Appetit. Und nachdem er den Ponte Sublicio überquert hatte, eilte er fast im Laufschritt durch die Porta Portese, um Santina aufzusuchen. Wenn Nino nicht da war, hatte er in Rom sonst keine Bekannten.

Die Tür zum Erdgeschoss war angelehnt; und draußen an der Schwelle stand ein Paar Pantoffeln. Eine verschwitzte Frau mit nackten, verkrüppelten Füßen hantierte drinnen mit mehreren Eimern; sie drehte sich kaum um und sagte kurz angebunden und zurückhaltend, Santina wohne nicht mehr hier. Es war Schirokkowetter, schwül und wolkig. Davide verspürte großen Durst und sehnte sich verzweifelt danach, sich irgendwo im Schatten zu verkriechen. Doch das einzige Lokal, das er dort in der Nähe kannte, war eine kleine Osteria, aus der Radiolärm tönte. Eine Samba-Platte mit Gesang und dröhnendem, rhythmischem Schlagzeug. An einem der beiden Tische saßen zwei Gäste, der andere war frei; und der junge Mann, der an den Tischen bediente, musste neu im Lokal sein, Davide erinnerte sich nicht, ihn je gesehen zu haben, die wenigen Male, die er hier vorbeigeschaut hatte. Trotzdem versuchte er, ihn nach der Signora Santina zu fragen. Der junge Mann war ratlos, da Santina dort weniger unter ihrem Namen als vielmehr unter einem leicht abfälligen Spitznamen bekannt war, den sie ihren großen Füßen verdankte. »Aber ja, das Trampel«, mischte sich ein Gast vom anderen Tisch ein, »die vom 15. August …« »Es hat auch in der Zeitung gestanden«, bemerkte der andere Gast mit einem Seitenblick auf Davide. »Ach die!«, sagte der Kellner. Und träge, mit knappen, aber ausdrucksvollen Worten teilte er Davide Santinas schlimmes Ende mit. Zuletzt fuhr er sich mit der flachen Hand über den Hals, um mit dieser Geste besser zu verdeutlichen, wie man ihr die Gurgel durchgeschnitten hatte.

Davide spürte bei der Nachricht keinerlei besondere Regung. Ihm schien sogar, als habe er soeben eine natürliche, bereits bekannte Sache vernommen, wie etwas, das schon in einem früheren Leben vorgekommen war, oder wie bei einem Buch, in dem man schon die letzten Seiten überflogen hat, bevor man die anderen Kapitel liest. Er hatte inzwischen mehr als die Hälfte seines Liters getrunken; und mechanisch kaute er an dem Brötchen, das er zum Wein bestellt hatte. Er war in völlige Gleichmütigkeit versunken; aber seine Sinne waren verwirrt durch die Müdigkeit, sodass er, obwohl es rundum keine Bäume gab, ein gewaltiges Zirpen von Zikaden oder Insekten hörte. Der Radiolärm störte ihn, er musste hier raus. Er fragte die Anwesenden, ob sie in der Nähe ein Zimmer wüssten, das sofort zu vermieten sei … Und die zuckten die Schultern, als der Junge nach kurzem Nachdenken sagte: »Sie vermieten wieder … dort … Bei der Verkrüppelten … wo die da gewohnt hat …«, präzisierte er nach einer Pause, er hatte offenbar Skrupel, Santinas Erdgeschoss direkt zu erwähnen. Allerdings brachte er den Vorschlag zweifelnd, unschlüssig, zögerlich vor. Denn in der Tat, obwohl es in Rom an günstigen Wohngelegenheiten mangelte, war es nicht leicht, jemanden zu finden, der sich mit einem derart, und zwar erst gestern, gezeichneten Zimmer zufriedengab.

Davide verließ die kleine Osteria. Draußen fand er denselben bedeckten Himmel wieder, denselben Schirokko, dieselbe Schwüle wie zuvor, zusammen mit diesem absurden Gezirpe … Hastig lief er zu dem Erdgeschoss, fast in Panik, mittlerweile könne auch diese letzte mögliche Zuflucht verschwunden sein. Diesmal war die Tür geschlossen, aber ein paar Jungen, die dort herumlungerten und mit mäßig neugieriger Gleichgültigkeit sein Suchen verfolgten, kamen ihm zu Hilfe und riefen von unten nach der Besitzerin. Es war dieselbe Frau mit den verkrüppelten Füßen, die er vorher mit dem Eimer dort drinnen gesehen hatte. Und mit wütender Eile bezahlte er sie, nahm den Schlüssel an sich, verkroch sich in seiner Behausung und ließ sich aufs Bett fallen. Das bekannte Zimmerchen, in dem noch Santinas Geruch hing, nahm ihn an diesem Tag auf wie ein vertrautes und beinah liebevolles Nest. Es war kühl und schattig. Und Davide fürchtete sich nicht vor Gespenstern. Er hatte vielmehr von allein gelernt, dass die Toten nicht antworten, nicht einmal, wenn man sie ruft. Kein Mittel hilft, nicht einmal, sie zu bitten, sie möchten sich als leere Täuschungen zeigen, auch nur als reine Halluzination.

Santinas persönliche Habe, von niemandem eingefordert, war der Wirtin als Erbe geblieben, sodass die Einrichtung des Raums in etwa dieselbe war wie zuvor. Das Bett, mit einer dunkleren Farbe frisch gestrichen, war dasselbe, man hatte nur die Matratze und die Decke ausgewechselt. Es war jetzt eine von diesen harten, mit türkischen Arabesken bedruckten Decken aus Zwirnstoff, die man bei fliegenden Händlern kaufen kann. Anstelle des alten Bettvorlegers lag jetzt ein anderer da, noch abgetretener und schäbiger. Das Tischchen, der kleine Küchenschrank, der Sessel und die Heiligenbilder waren gleichgeblieben, ebenso die Vorhänge, frischgewaschen und daher noch mehr verblasst. Die Blutspuren an den Wänden hatte man unter weißen Kalkflecken versteckt, während die auf dem Sessel, so gut es ging ausgerieben, mit dem schmutzigen Muster verschwammen.

Am Abend, als die Luft etwas frischer wurde, gelang es Davide, seinen Koffer abzuholen, den er an der Stazione Termini abgegeben hatte. Und er schickte Nino einen Brief (wie gewöhnlich adressiert: postlagernd Rom), um ihm seine römische Adresse mitzuteilen und ihn wissen zu lassen, dass er, Davide, in der Stadt war und darauf wartete, ihn gleich bei seinem nächsten Besuch in Rom wiederzusehen.