1.

»Hallo! Wer spricht da? Hier spricht Useppe. Wer spricht da?«

»Ja, ich bin’s! Hier spricht Mamma, ja. Was willst du mir sagen, Useppe?«

»Hallo! Wer spricht da? Hier spricht Useppe! Wer spricht da?

Hallo!«

»Tut mir leid, tut mir leid, Segnora« (schaltet sich die Stimme von Lena-Lena ein), »er wollte, dass ich die Nummer anrufe, und jetzt weiß er nicht, was er sagen soll!!«

Man hört Lena-Lenas unterdrücktes Lachen, begleitet von Bellas fröhlichem Gebell. Dann, nach einem kurzen gemurmelten Hin und Her am anderen Ende der Leitung, wird der Hörer schnell aufgelegt.

Gegen Ende des Winters war in Idas Wohnung ein Telefon installiert worden, und dies war der erste Anruf, den sie von ihm aus erhielt (sie hatte die Telefonnummer ihrer Schule der Pförtnerin und Lena-Lena anvertraut, beide aber ermahnt, nur in dringenden Fällen anzurufen …). Useppe konnte vor allem am Anfang der Versuchung dieses an der Wand befestigten sprechenden Dings nicht widerstehen, obwohl er sich im Umgang damit so ungeschickt anstellte wie ein Urwaldbewohner. Beim täglichen Klingeln (Ida rief jeden Tag um halb elf an, während der Pause) stürzte er, verfolgt von Bella, zum Apparat; aber auf Idas Worte fiel ihm normalerweise keine andere Antwort ein als: »Hallo! Wer spricht da? Hier spricht Useppe! Wer spricht da? …« und so weiter und so weiter. Die Einzige, die diese Nummer anrief, war Ida, und auch Useppe hatte sonst niemanden in Rom, den er hätte anrufen können. Einmal wählte er zufälligerweise eine Nummer aus zwei Ziffern, und es antwortete ihm die Zeitansage. Es handelte sich um eine Frauenstimme, und er bohrte hartnäckig nach: »Hallo, wer spricht da?«, während sie nur beharrlich wiederholte: »Elf Uhr und 41 Minuten!« Ein anderes Mal gab es einen Anruf frühmorgens, außerhalb der gewöhnlichen Zeit, aber das war jemand, der sich verwählt hatte; und der da am anderen Ende der Leitung ließ, wo doch er sich vertan hatte, seinen Ärger warum auch immer an Useppe aus! Mit der Zeit interessierte Useppe sich dann nicht mehr für dieses plumpe und unnütze Ding. Bei dem üblichen täglichen Anruf hörte Ida ein zaghaftes, ungeduldiges und beinah widerwilliges Stimmchen antworten »Jaaa …« (»Hast du etwas gegessen?« »Mm… jaaa!« »Geht es dir gut?« »Jaaa …«), um dann rasch aufzulegen: »Addio! Addio!«

Den ganzen Winter war Useppe vom Grand Mal verschont geblieben. Am Tag nach seinem ersten Anfall im November hatte sich seine Mutter, diesmal allein, unverzüglich auf den Weg gemacht, um die Ärztin ins Vertrauen zu ziehen; und bei dieser Gelegenheit hatte sie ihr auch das Geheimnis ihrer eigenen kindlichen Unpässlichkeiten offenbart, das sie bislang noch niemandem verraten hatte, selbst ihrem Ehemann nicht: Und im Sprechen sah und hörte sie in allen Einzelheiten ihren Ausflug nach Montalto vor sich, als kleines Mädchen auf dem Esel, in Begleitung des Vaters, und die Untersuchung des befreundeten Doktors, der sie mit seinem Kitzeln zum Lachen gebracht hatte … Doch die Ärztin, in ihrer schroffen Art, reagierte kurz angebunden auf diese verworrenen Geständnisse und erklärte streng: »Neinsignora! Neinsignora! Es ist erwiesen, dass bestimmte Krankheiten nicht erblich sind! Man erbt höchstens eine Veranlagung, VIELLEICHT; aber das ist nicht erwiesen. Und es scheint mir sonnenklar, soweit ich es verstanden habe, dass ihr persönlicher Fall anders liegt. Bei Ihnen handelte es sich um gewöhnliche Hysterie; während wir es hier mit andersgearteten Phänomenen zu tun haben.« (»Ich habe gleich«, murmelte sie an dieser Stelle halb für sich, »etwas Seltsames in den Augen des Jungen gesehen.«) Abschließend schrieb sie Ida auf ein aus dem Rezeptblock gerissenes Blatt die Adresse eines Facharztes auf, der bei dem kleinen Kranken eventuell ein Elektroenzephalogramm machen könnte. Dieses abstruse Wort jagte Ida sofort einen Schrecken ein. Es ist ja schon bekannt, dass alles, was zu den unsichtbaren Bereichen der Elektrizität gehörte, in ihr ein ungeheures Misstrauen auslöste. Als kleines Mädchen versteckte sie sich verängstigt bei Blitz und Donner (wenn möglich, kroch sie unter den Mantel ihres Vaters); und noch jetzt, als Erwachsene, hatte sie Angst, Leitungen anzufassen, ja, selbst eine Glühbirne in die Halterung zu schrauben. Bei dem langen, bedrohlichen und nie zuvor gehörten Wort weiteten sich ihre Augen und richteten sich verstört auf die Akademikerin, fast als hätte diese vom elektrischen Stuhl gesprochen. Aber eingeschüchtert durch die unumstößliche Art der Ärztin, wagte sie es nicht, ihr Unwissen zu bekennen.

Kurz darauf brachten die Ereignisse um Ninnuzzu sie von jeder anderen Sorge ab; und danach verlor sich der geplante Besuch bei dem Spezialisten aus ihrem geistigen Blickfeld. In Wahrheit fürchtete sie die Diagnose des unbekannten Professors wie einen unanfechtbaren Urteilsspruch.

Der trügerische Verlauf von Useppes Krankheit bestärkte sie in ihrer defensiven Trägheit. Tatsächlich schien die namenlose Gewalt, die seit dem Herbst die Kräfte des Kleinen in Beschlag genommen hatte, von ihm abzurücken, fast erschöpft, nachdem sie ihn einmal niedergerungen hatte: Sie begleitete ihn nur noch klammheimlich und wurde in manchen Momenten ganz vergessen, als hätte sie beschlossen, es dabei bewenden zu lassen. Wenn es abends Zeit war, zu Bett zu gehen, flößte Ida ihm das übliche Beruhigungsmittel ein, er stülpte gierig die Lippen vor, wie ein Säugling nach der Mutterbrust; und fiel dann rasch in einen tiefen, ungestörten Schlaf, dem er sich auf dem Rücken liegend, die Fäuste geballt und die Arme ausgebreitet auf dem Kissen, reglos zehn Stunden oder mehr überließ. Von dem kleinen Biss in die Zunge geheilt, bewahrte er keine sichtbare Spur der Demütigung vom 16. November mehr. Nur wer ihn davor gekannt hatte, konnte vielleicht in seinen Augen (laut der Ärztin fast zu schön) eine neue, sagenhafte Andersartigkeit entdecken, wie sie vielleicht in den Augen der ersten Seefahrer nach der Überquerung unermesslicher, auf den Seekarten noch namenloser Meere zurückgeblieben war. Im Unterschied zu ihnen wusste Useppe aber weder vorher noch nachher etwas von seiner Reise. Aber vielleicht blieb ihm unwissentlich auf der Netzhaut ein umgekehrtes Bild haften, so wie man es von bestimmten Zugvögeln erzählt, die bei Tag, zusammen mit dem Sonnenlicht, ohne ihr Wissen immer noch den verborgenen Sternenhimmel sehen.

Für Ida äußerte sich ein solches Zeugnis in Useppes Augen nur in der Farbe. Ihre Mischung aus dunklem Türkis und hellem Azur war, falls das überhaupt möglich ist, noch unschuldiger geworden und fast unergründlich in ihrer doppelten Tiefe. Eines Tages, als sie unvermutet in die Küche kam, fand sie ihn still auf dem Herdabsatz sitzen, und ihre Blicke begegneten sich. Dabei sah sie in Useppes Augen eine unglaubliche, kindliche und unsagbar qualvolle Erkenntnis, die ihr bedeutete: »Du weißt es!«, nichts weiter, über alle logischen Fragen und Antworten hinaus.

Im Februar wurde Lena-Lena von einer Strumpfflickerin eingestellt, weshalb sie auf ihre Besuche und Abstecher in die Via Bodoni verzichten musste. Aber um auf Useppe aufzupassen, gab es ja jetzt Bella, die vollauf genügte.

Vorbei war für Bella die Zeit der täglichen Steaks und der Bäder im Schönheitssalon und all der anderen verschiedenen Annehmlichkeiten, die sie zur Zeit von Ninnarieddu genossen hatte: der sie sogar regelmäßig gebürstet, gekämmt und auch eigenhändig massiert und ihr Augen und Ohren zart mit feuchter Watte geputzt hatte und so weiter. Beim Fressen musste sie sich jetzt im Allgemeinen mit Pasta und Gemüse begnügen, abgesehen von einigen Extrahäppchen, die Useppe für sie von seinem Teller fischte (ohne dass Ida es groß mitbekam). Und ihre Reinigung bestand ausschließlich in einer Form von Trockenbädern, die sie während der Spaziergänge auf ihre ganz persönliche Art nahm, und zwar so: Sie wälzte sich im Staub und schüttelte sich dann so beängstigend, als imitierte sie einen Wirbelsturm. Übrigens war ihr ihre persönliche Methode lieber als die Luxusbäder mit Kernseife und heißem Wasser, die sie nie sonderlich gemocht hatte.

Ziemlich schwer fiel es ihr allerdings, mit dem winzigen Raum von ein oder zwei Zimmerchen zurechtzukommen, sie, die doch Reisen, Ausflüge und das Leben auf der Straße gewohnt war und noch davor (in ihrem atavistischen Leben) die unendlichen Weideflächen Asiens! In diesem Winter, eingesperrt in der Via Bodoni, musste sie sich an manchen Tagen sogar damit behelfen, ihre Bedürfnisse auf Kartonstücken und Zeitungsfetzen zu erledigen. Sie brachte aber gern jedes Opfer, nur um Tag und Nacht in Useppes Nähe zu sein.

Selbst bei ihrer Suppenkost hatte sie mit gutem Willen sehr bald ihre robuste Gestalt und ihre gesunde Muskulatur wiedergewonnen. Ihr schneeweißes Fell wirkte jetzt aber ziemlich schwärzlich, war struppig und voller Knoten. Und obwohl sie noch immer ihr versilbertes Halsband mit der Aufschrift »Bella« trug, wurde sie von einigen Bengeln aus der Nachbarschaft Schmuddelfell genannt. Man sah sie oft damit beschäftigt, sich wegen ihrer Flöhe zu kratzen, und sie roch ziemlich nach Hund. Ihr Gestank haftete sogar Useppe an; sodass Hunde manchmal schnüffelnd um ihn herumliefen, vielleicht weil sie sich fragten, ob nicht auch er eine Art Welpe sei.

Sie (die Hunde) waren, kann man sagen, Useppes einziger Umgang. Freunde oder Gefährten seinesgleichen besaß er nicht mehr. Mit dem ersten Anzeichen der schönen Jahreszeit waren Bella und Useppe den meisten Teil des Tags unterwegs; und anfangs hatte Ida sich in ihren freien Stunden dazu gezwungen, sie zu begleiten. Sie musste jedoch gleich zugeben, dass sie auf ihren dünnen und geschwächten Beinen unmöglich mit den beiden Schritt halten konnte. In der ersten Minute hatte sie sie bereits aus den Augen verloren und fand sich um mindestens einen halben Kilometer im Rückstand. Kaum waren sie aus dem Haustor ins Freie getreten, sah sie die beiden sofort lospreschen, hüpfend und springend, dem Unbekannten entgegen; und auf ihre lauten Rufe hin antwortete Bella von fern mit fürsorglichem Gebell: »Alles in Ordnung. Mach dir keine Sorgen und geh nach Haus. Ich pass schon auf Useppe auf! Ich halte mit Leichtigkeit Herden von hundert, zweihundert, dreihundert Vierbeinern zusammen! Und du traust mir nicht zu, auf ein Menschlein achtzugeben?«

Notgedrungen vertraute Ida schließlich Useppe ganz Bella an. Ihr sicheres Gefühl sagte, dass ihr Vertrauen nicht verkehrt war: Und was hätte sie im Übrigen auch tun sollen? Die Ausflüge mit Bella waren die einzige Abwechslung für den Jungen. Das Grammophon war nach der Katastrophe mit der Swing-Platte für immer in die Ecke gewandert, um dort zu verstauben. Ähnlich wie Bella irrte inzwischen auch Useppe unruhig in der Enge der kleinen Zimmer umher wie eine gequälte Seele, sodass Ida es nicht einmal mehr morgens wagte, ihn in der Wohnung einzusperren, wie schon im Winter. Gewöhnlich verließen die beiden nach dem täglichen Anruf der Mutter sofort das Haus: zumal Bella rasch gelernt hatte, das Klingeln des Apparats als Signal zum freien Ausgang zu erkennen. Und sobald sie es hörte, begann sie gewaltige Sprünge zu machen, begleitet von lautem Jubelgebell und kleinen, zufriedenen Niesern.

Aber pünktlich zur Essenszeit (als steckte eine Präzisionsuhr in ihrem Bärenkopf) lieferte sie Useppe wieder zu Hause ab.

Anfangs entfernten die beiden sich nicht allzu weit von der Via Bodoni. Ihre Säulen des Herakles waren auf der einen Seite der Lungotevere, auf der anderen die Hänge des Aventin und ein bisschen weiter weg die Porta San Paolo (es versteht sich von selbst, dass Bella Useppes Schritte in jedem Fall vom bedrohlichen Gebäude des nahegelegenen Schlachthofs weglenkte …). Noch heute erinnert sich vielleicht der eine oder andere Bewohner in Testaccio, dass er dieses Pärchen hatte vorbeilaufen sehen: ein großer Hund und ein kleiner Junge, immer allein und unzertrennlich. An bestimmten Orten von besonderer Bedeutung, zum Beispiel auf der Piazza dell’Emporio, wenn dort ein Karussell aufgebaut wurde, oder auf dem Monte Testaccio, wo mitunter eine umherziehende Familie kampierte, blieben die beiden stehen, mit einem doppelten, berauschenden Herzklopfen, wobei man sah, wie der Junge auf seinen Beinchen wippte und der Hund fieberhaft mit dem Schwanz wedelte. Doch kaum zeigte von der anderen Seite jemand, dass er die beiden bemerkt hatte, zog sich das Kind eiligst zurück, und der Hund folgte gehorsam. Der Frühling ergoss schon eine Flut von Geräuschen, Stimmen und Betriebsamkeit ins Freie. In den Straßen und aus den Fenstern hörte man Namen: »Ettoree! Marisa! Umbè! …« und bisweilen auch »Nino! …« Bei diesem Namen löste sich Useppe von Bella und lief verklärt und mit bebenden Lidern ein paar Schritte in eine unbestimmte Richtung. Und Bella spitzte ein klein wenig die Ohren, fast als spürte sie einen kurzen Augenblick lang diesem wunderbaren Ruf nach, obwohl sie doch wusste, dass es absurd war. Sie verzichtete darauf, dem Kind nachzulaufen, und begleitete es, reglos wartend, von ihrem Platz aus mit einem verzeihenden, wissenden Blick. Wenn dann Useppe gleich darauf beschämt zurückkam, empfing sie ihn mit diesem selben Blick. Es gab nicht wenige Ninos und Ninettos im Viertel; und Useppe wusste das genau.

Das schöne Frühlingswetter, sehr früh in diesem Jahr, wurde drei Tage lang vom Schirokko verdorben, der Massen von Wolken und staubige Regengüsse mit sich brachte, in einer schmuddeligen, warmen Luft, die nach Wüste roch. An einem dieser Tage erlitt Useppe einen zweiten Anfall. Die Familie war gerade mit dem Essen fertig, und er, der wenig und widerwillig gegessen hatte, war in Gesellschaft von Bella in der Küche geblieben, während Ida sich auf dem Bett ausgestreckt hatte. Kurz darauf verhielt sich Bella aufgeregt und bang, wie manche Tiere, wenn sie ein Erdbeben oder eine andere Naturkatastrophe vorausahnen. Sie lief unaufhörlich von der Küche ins Schlafzimmer, sodass die entnervte Ida sie scheltend fortjagte. Es war drei Uhr nachmittags. Vom Hof drangen nur wenige Geräusche herauf (ein Radio und ein paar Stimmen aus dem Fahrradkeller), dann vernahm man aus dem aufgedunsenen, schmutziggrauen Himmel einen Donner ohne Regen und von der Straße das Heulen einer vorbeifahrenden Sirene. Doch kaum waren diese Geräusche verklungen, vernahm Ida aus der Küche einen gedämpften Dialog, bei dem Useppe trällernd abgerissene Sätze vor sich hin zu stammeln schien, mit einem verängstigten, stotternden Stimmchen, und Bella ein inniges Winseln von sich gab, zwischen Fürsorge und Panik. Es geschah häufig, dass die beiden sich miteinander unterhielten, doch heute wurde Ida, als sie sie hörte, von einer unbestimmten Angst gepackt, die sie in die Küche eilen ließ. Useppe, noch auf den Beinen, bewegte sich mit unsicheren Schritten, als geisterte er in einem Halbduster umher, und Bella umrundete ihn mit der Miene einer armen, hilflosen Amme, die nach einem Heilmittel sucht. Bei Idas Erscheinen lief sie fast flehentlich auf sie zu. Und diesmal sah Ida den ganzen Ablauf der Demütigung mit eigenen Augen, von dem Moment an, in dem das Grand Mal seinen Schrei ausstieß und sich wie ein mörderisches Raubtier auf den kleinen Useppe stürzte.

Die verschiedenen Phasen folgten so rasch aufeinander, dass Ida fast keine Zeit blieb, sich ihrer eigenen Regungen gewahr zu werden, und wie das erste Mal fand sie sich auf Knien neben Useppe wieder, der bei ihren Rufen bereits wieder zu sich zu kommen schien. Und auch, wenn ihr in eben diesem Augenblick, aus ihrem tiefsten Inneren heraus, eine unmissverständliche Botschaft begreiflich machte, dass ihr Söhnchen gezeichnet war, so nahm sie sie nicht wahr. Die einzige spürbare Gewissheit, die ihr gegenwärtig ausreichte, bestand darin, dass der böse Eindringling, der zum zweiten Mal in ihr Haus gekommen war, um ihr das Kind zu stehlen, seinen eigenen dunklen Gesetzen folgend nicht zauderte, es ihr zurückzugeben.

Als Useppe nach einem tiefen Seufzer mit seinem verklärten Lächeln die Augen wieder aufschlug, waren sie diesmal zu zweit, um ihn zu empfangen: hier seine Mutter und dort Bella Schmuddelfell. Diese leckte ihm einmal die Hand und dann die Nase, aber ganz zart, um ihn nicht zu stören. Und während der ganzen Dauer seines tiefen Schlafs, der folgte, lag sie am Fußende seines Bettes.

Auch bei seinem ersten Erwachen spätabends fand Useppe die beiden neben sich: Bella und seine Mutter, eine auf jeder Seite. »Useppe!«, empfing ihn Ida, und Bella begrüßte ihn mit einem so dezenten, bebenden Bellen, dass es beinah einem Blöken glich. Useppe hob ein wenig den Kopf und sagte: »Der Mond!« Tatsächlich hatte der Schirokko sich gelegt und einer frühlingshaften Tramontana Platz gemacht, die fast schon den ganzen Himmel reingefegt hatte, an dem man hoch oben den Mond ziehen sah, frisch und nackt, wie nach einem Bad. Derselbe Mond, den man von der Wohnung in San Lorenzo aus vorbeiziehen sah, damals, als Useppe ihn noch Tärn oder Balbe nannte, wie er (je nach dem) auch brennende Lampen, bunte Luftballons, ja, sogar Blechdosen oder den Speichel auf dem Boden Tärne oder Balben nannte, wenn das Licht sie nur ein ganz klein wenig zum Glänzen brachte. (Damals kroch er noch auf allen Vieren und verwechselte manchmal Erde und Himmel.)

Ida konnte es sich nicht leisten, schon wieder in der Schule zu fehlen; am nächsten Morgen achtete sie beim Hinausgehen jedoch darauf, die Wohnungstür, wie schon im Winter, doppelt abzuschließen. Die Hand wurde ihr schwer bei dieser Tat, die ihr wie ein Zeichen für Useppes Beeinträchtigung erschien. Sie hatte ihn noch schlafend zurückgelassen, in das Kissen geschmiegt, mit Bella, die zu Füßen des sommier döste. Als sie Ida hinausgehen hörte, hob sie leicht den Kopf, mit einem kleinen beruhigenden Schwanzwedeln (»Geh nur, geh. Ich passe auf Useppe auf.«). Kurz vor elf rief Ida ihn wie gewöhnlich an.

Drei oder vier Klingelzeichen, dann das gewohnte, tägliche Stimmchen:

»Hallo, wer spricht da? Hier spricht Useppe! Wer spricht da?«

»Ich bin’s: Mamma! Geht es dir gut?«

»Ja« (im Hintergrund Bellas übliches Gebell).

»Hast du den Milchkaffee getrunken?«

»Ja …«

Der gleiche Dialog wie immer, doch heute glaubt Ida in der Stimme ein Zittern zu hören. Zur Beruhigung muss sie sich sofort rechtfertigen:

»Ich habe abgeschlossen«, erklärt sie ihm hastig, »weil du gestern etwas Fieber hattest. Aber sobald du gesund bist, darfst du wieder mit Bella raus!«

»Ja … ja …«

»Also es geht dir gut? Sei schön brav … Vor eins bin ich zu Hause! …«

»Ja … Addio. Addio.«

Alles schien normal zu sein, so als wäre diese Sache nicht geschehen, weder gestern noch sonst jemals. Nur dass bei Ida der Verdacht blieb, in seiner Stimme dieses gewisse Zittern gehört zu haben … Auf dem Heimweg kaufte sie zum Mittagessen einen Nachtisch: zwei Stückchen Gebäck mit Creme-Füllung, eins für ihn und eins für Bella. Und sie bemerkte, wie er strahlte, weil sie auch an Bella gedacht hatte.

Von seinem gestrigen Fieber war ihm nichts mehr anzusehen, er war nur noch ein bisschen blass und geschwächt: mit einer gewissen Lustlosigkeit und dem Bedürfnis nach Ruhe, was ihn zum Glück von Idas Verrat, die Tür verriegelt zu haben, abzulenken vermochte. Am Vormittag hatte er sich offenbar mit Malen vergnügt: Auf dem Küchentisch lagen alle seine Buntstifte und ein randvoll mit Zeichnungen bedecktes Blatt … Während Idas Abwesenheit war jedoch ein Missgeschick passiert, und er verkündete es ihr mutig, mit einem drollig scheuen Lächeln:

»… Du, Mà, Bella hat auf das Geschirrtuch gekackt.«

Tatsächlich war Ida das Tuch morgens auf den Boden gefallen, und Bella hatte vernünftigerweise davon Gebrauch gemacht, vielleicht in der Annahme, es liege zu ihrer Verfügung dort … Ein beachtlicher Gestank stieg noch immer aus dem Ausguss auf, wo Useppe den Lappen eingeweicht hatte, nachdem er das Gröbste pflichtbewusst ins Klo entsorgt hatte. Und Bella stand bei dieser Szene etwas abseits, mit der betrübten Miene einer Sünderin, ohne eigentlich zu verstehen, welche Sünde sie begangen hatte … Aber Ida brachte nicht einmal den Mut auf, Useppe wie üblich zurechtzuweisen: Man sagt ein Bedürfnis verrichten! Kacken ist ein hässliches Wort! (das er, mit anderen, von seinem Bruder Nino geerbt hatte). Sie glaubte vielmehr, aus seinen Worten einen Vorwurf herauszuhören, weil sie ihn zusammen mit Bella eingesperrt hatte. »Macht nichts!«, versicherte sie rasch, »das Tuch war schon schmutzig.« Und Useppe, der schon Schelte für Bella befürchtet hatte, war sofort erleichtert.

Bei der Zeichnung, die noch auf dem Tisch lag, handelte es sich um eine Arabeske aus Kreisen, Spritzern und Spiralen, grün, türkis und gelb; und er selbst erklärte Ida stolz: »Das sind die Schwalben!«, und wies mit der Hand auf seine Modelle, die vor dem Fenster durch die Luft schossen. Ida lobte die Zeichnung, die sie, obwohl sie ihr unverständlich blieb, wirklich wunderschön fand. Doch nachdem er ihr erklärt hatte, was darauf zu sehen war, zerknüllte er das Blatt in seiner Faust und warf es in den Müll. Zu diesem Ende bestimmte er alle seine Zeichnungen. Und wenn Ida protestierte, zuckte er mit den Schultern und machte ein verächtliches und trauriges Gesicht (wenn möglich rettete sie die Blätter heimlich aus dem Abfalleimer und brachte sie in einer ihrer Schubladen in Sicherheit).

Alles verlief wie immer. Aber irgendwann am frühen Nachmittag, während Bella ein Schläfchen machte, überraschte Ida Useppe, wie er nicht weit von ihr entfernt im Flur auf dem Boden hockte, den Rücken an der Wand. Auf den ersten Blick wirkte er einfach mürrisch; aber als sie sich zu ihm wandte, bemerkte sie, dass er weinte, sein kleines Gesicht verschlossen wie eine Faust, verzogen und voller Falten. Als er zu ihr aufschaute, brach er jäh in trockene Schluchzer aus. Und mit der Bestürzung eines Tierchens sagte er verzweifelt:

»Ach Mà … walum?«

In Wirklichkeit schien diese Frage sich nicht an die anwesende Ida zu richten, sondern eher an irgendeinen abwesenden, grausamen und unerklärlichen Willen. Ida hingegen glaubte wieder, er mache ihr den Vorwurf, ihn hinterrücks in der Wohnung eingeschlossen zu haben; doch in den folgenden Tagen musste sie sich eingestehen, dass diese Erklärung nicht ausreichte. Die Frage: Walum? war für Useppe zu einer Art Kehrreim geworden, der ihm zu jeder Zeit und überall über die Lippen kam, vielleicht aus einer unbeabsichtigten Regung heraus (sonst hätte er sich bemüht, das Wort richtig auszusprechen, mit R). Manchmal hörte man, wie er es monoton vor sich hinsagte: »Walum? Walum walum walum walum??« Doch auch wenn sie den Eindruck eines Automatismus erweckte, hatte diese kleine Frage einen hartnäckigen und herzzerreißenden Klang, eher animalisch als menschlich. Sie erinnerte nämlich an die Stimmen ausgesetzter Kätzchen, an Esel, die mit verbundenen Augen den Mühlstein drehen, Zicklein, die für das Osterfest auf den Karren verfrachtet werden. Man hat nie in Erfahrung gebracht, ob all diese unbenannten und unbeantworteten Walums an einen Bestimmungsort gelangen, vielleicht an ein unverwundbares Ohr jenseits aller Orte.