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Heute ist der große Tag gekommen: unser Konzert auf dem Maifest im übercoolen Gemeindehaus. Lu will natürlich noch mal jeden Song durchsprechen, obwohl alles völlig klar ist. »You Crashed my Horizon« soll ich am Ende flüstern statt laut singen, bei »Emergency Break« soll ich ihr nach dem zweiten Refrain eine Pause lassen für den Fall, dass sie sich traut, das Gitarrensolo zu machen. Falls sie sich nicht traut, wovon ich ausgehe, denn sie wollte es noch nicht mal mir vorspielen, klopft sie stattdessen einmal auf die Heizung, und ich weiß dann, dass ich doch weitersingen soll. Okay, hab ich verstanden. Und sie will unter keinen Umständen eine Zugabe.
Außerdem ist natürlich genau das eingetreten, was ich befürchtet habe. Lu konnte sich nicht für einen Bandnamen entscheiden und jetzt hat einer der Organisatoren auf ein Transparent geschrieben: »Luise und Charlotte singen Lieder (auf Englisch)«. Ich hab gar nichts mehr dazu gesagt, ich will es einfach nur noch hinter mich bringen.
Wann ist eigentlich bald? Ich hab Linus seit Freitagabend nicht mehr gesehen. Trotzdem bin ich innerlich verhältnismäßig ruhig, mal abgesehen von den Herzklopfattacken und Magenschmerzen, die mich alle paar Minuten überfallen, sobald ich an ihn denke. Ich weiß einfach, dass wir uns bald sehen werden. Glaube ich. Weiß ich. Oh Mann.
Lu hat mich in den letzten Tagen regelrecht gequält. Ständig wurde ich kritisiert: Da stimmt der Text nicht, dort stimmt der Ton nicht, und noch mal von vorne. Und von vorne und von vorne. Lu war zwischendurch wirklich verzweifelt. Ich auch. Vor allem, weil Lu sowieso viel besser singen kann als ich. Wir haben uns gestritten, und ich musste mich zusammenreißen, nicht zu explodieren, denn Lu denkt oft, dass sie alles besser weiß und der Rest der Menschheit nur aus hirnlosen Zombies besteht. »Warum singst du nicht selbst deine Songs, wenn du so genau weißt, wie sie klingen sollen?« Und: »Schreib einfachere Texte, dann kann ich sie mir auch besser merken!«, hab ich ihr an den Kopf geworfen. Ist eh schon schlimm genug, die ganze Zeit diese Depri-Texte zu singen. Ehrlich. Es gibt keinen Song von Lu, in dem das Wort Tod nicht vorkommt. Aber Lu denkt ja nicht ans Publikum und daran, dass man vielleicht ein bisschen Spaß haben könnte, wenn man zu einem Konzert geht. Was habe ich an sie rangetextet, wenigstens einen Song zu schreiben, zu dem man sich zumindest ansatzweise bewegen kann. Wenn wir Taschentücher statt Getränke verkaufen würden, könnten wir bestimmt viel Geld machen.
War aber alles völlig sinnlos. Verschwendete Energie. So ist sie eben. Ich glaube, dass sie am höchsten Punkt ihrer Verzweiflung mit mir ernsthaft effektivere Methoden erwogen hat, wie zum Beispiel den Einsatz eines Elektrohalsbandes, das man bei Hunden zur Erziehung einsetzen kann. Das geht so: Der Hund macht was falsch und der Besitzer bestraft ihn dafür mit einem Stromschlag, er muss einfach nur auf einen Knopf drücken und schon zuckt der Hund vor Schmerz zusammen und weiß: Ich muss was falsch gemacht haben!
Ich war mehrere Male kurz davor gewesen, alles hinzuschmeißen. Aber genau in diesen Momenten, als hätte Lu es gespürt, fing sie wieder an, mich zu loben und so begeistert Zukunftspläne zu schmieden, dass ich nicht mehr zurückkonnte. Ich war ja froh, dass sie überhaupt an die Zukunft dachte. Lange Zeit war das nicht so gewesen. Ich sagte mir: Dieses eine Konzert spielst du, dann hörst du auf.
Obwohl es erst Mitte Mai ist, duftet die Luft schon nach Sommer. Gestern war es kühl, heute ist es warm, ich weiß morgens schon gar nicht mehr, was ich anziehen soll. Ich bin auf dem Weg zu Lu. Um vier soll ich da sein. Die dritte Generalprobe in zwei Tagen. Lu will wahrscheinlich bis um acht proben und dann übergangslos mit dem Konzert beginnen – wenn ich schon völlig fertig bin, hat sie sich gerade mal warmgespielt.
Hinter mir nähert sich ein Auto. Das Geräusch des Auspuffs kommt mir irgendwie bekannt vor. Mein Herz hämmert. Mein Magen zieht sich zusammen. Ich verlangsame meinen Gang, traue mich aber nicht, mich umzudrehen, aus Angst, er könnte es doch nicht sein, und aus Angst, er könnte es sein und einfach an mir vorbei fahren.
Er ist es! Linus fährt langsam neben mir her, den Arm lässig im offenen Fenster aufgestützt. »Hey Charlie!«
»Hey«, sage ich cool.
»Wie geht’s?«
»Gut«, antworte ich und laufe wie ein aufgezogenes Uhrwerk weiter.
»Kannst du mal kurz stehen bleiben?«, ruft Linus. Er parkt das Auto und steigt aus. »Hast du’s eilig?«
»Warum?«
»Weil du so schnell gelaufen bist?«
»Ja, äh, nein«, stottere ich. »Wie man’s nimmt. Eigentlich nicht.«
»Soll ich dich ein Stück mitnehmen?«
Mitnehmen. Zu Fuß bin ich in einer Minute bei Lu. Mit dem Auto in zwanzig Sekunden.
»Ja«, sage ich. »Das wär toll.«
»Hast du heute noch was Wichtiges vor?« Seine Frage trifft es wirklich auf den Punkt. Wenn der wüsste. Den Teufel werde ich tun und ihm von dem Konzert erzählen. Dann will er vielleicht kommen und ich kriege vor Aufregung keinen Ton mehr raus. Ziemlich ungünstig wäre das für mich als Sängerin.
»Also nicht?«, fragt er und hält mir die Tür auf. Das hat noch nie jemand für mich getan. Ich merke, wie mir das Blut ins Gesicht schießt.
Wir fahren die Sedanstraße entlang, dann weiter auf die Bahnhofstraße, an der Videothek vorbei, da lungern wie immer irgendwelche Prolls rum, noch ein Stück weiter – halt, eigentlich sollte ich hier aussteigen. Das Gemeindehaus liegt längst hinter uns. Immer weiter. Noch weiter hinter uns.
»Ähm, warte mal, ich muss …«
Er unterbricht mich. »Ich würd dir gern was zeigen. Okay?«
Er will mir was zeigen? Mir allein?
Ich war sowieso zu früh dran und von dem stundenlangen Geprobe wird Lu nur noch aufgeregter. Falls das überhaupt möglich ist.
»Bisschen Zeit hab ich noch«, sage ich lässig.
Was hat er vor? Mittlerweile sind wir auf der Landstraße. Die Fenster sind offen und meine Haare flattern im Wind. Ich lasse sie ins Gesicht wehen und schiebe nur ab und zu eine Strähne, die sich in meinem Mundwinkel verfangen hat, aus dem Gesicht. Linus und ich tauschen einen Blick. Ich hoffe, dass er mein lautes Herzklopfen nicht hört. Er biegt in einen Feldweg ab und sagt dann, noch einen Blick auf mich werfend: »Ich hab ein Mädchen kennengelernt.«
Aber warum sitze dann ich im Auto?
»Sie ist blond.«
Aha.
»So blond wie ich?«, höre ich mich sagen.
Er nickt. »Sie hat grüngraublaue Augen mit einem dunklen Kreis um die Iris.«
»Ach, echt?«
»Sie ist total süß«, seufzt er und schaut mich an.
Er meint mich. Ich kann nicht glauben, dass mir das gerade passiert.
»Ich kann sie jetzt schon nicht leiden«, sage ich.
Das bin nicht ich, die da spricht.
»Ich glaub, sie mag mich auch.«
Ich bemerke, dass seine Nasenflügel sich ein bisschen weiten, wenn er sich freut.
»Wie kommst du darauf?«
Er zuckt mit den Schultern. »Männliche Intuition.«
»Wenn das eine Entführung ist, dann …« Ich spreche den Satz nicht zu Ende.
»Dann?«
»Findet sie es wahrscheinlich sogar auch noch romantisch.«
»Ach wirklich«, murmelt Linus. »Interessant.«
»Weißt du, was man zu einer Blondine sagen muss, um sie ins Bett zu kriegen?«
Oh Gott. Was rede ich da? Kann bitte jemand den ›Aus‹-Knopf drücken?
»Was denn?«
»Hallo.«
Linus schmunzelt, so würde ich es ausdrücken. Aber der Blick, den er mir danach zuwirft, treibt mir wieder die Röte ins Gesicht. Das darf doch nicht wahr sein. Jahrelang wurde ich so gut wie nie rot und jetzt ständig!
Inzwischen sind wir am Waldrand angekommen. Linus biegt auf einen holprigen Waldweg ab, er weicht geschickt ein paar Schlaglöchern aus, dann ist plötzlich der Weg zu Ende. Hier war ich noch nie.
»Wir sind da!«, sagt er.
Wo sind wir? Alles, was ich sehe, sind Bäume und ein riesiges Eisentor.
»Kommst du?«, fragt Linus. Seine Stimme ist dunkel und rau.
Das bin ich hier mit Linus, ich muss mir das immer wieder sagen, das passiert gerade wirklich.
Ich nicke und wir steigen beide aus. Als wir vor dem Tor stehen, sagt Linus: »Wir müssen klettern. Geht das?«
Ein drei Meter hohes Eisentor. »Klar«, sage ich. Ich schaffe das. Auch mit Kleid. Ich schiebe es kurzerhand etwas nach oben und greife nach den Eisenstäben. Linus hängt sich seine Tasche um die Schulter und klettert los. Ich hinterher. Als ich oben bin, ist er schon unten auf der anderen Seite und wartet. Ausgerechnet jetzt muss ich meine Beine obenrüber schwingen. Bloß nicht runterfallen. Geschafft. Den letzten Meter über dem Boden springe ich. Linus fängt mich auf, hält mich fest, einen Augenblick berühren sich unsere Körper, und ich spüre die Wärme, die von ihm ausströmt.
Wir laufen ein Stück weiter, links von uns steht ein größerer Schuppen, daneben eine kleine Holzhütte. Linus nimmt meine Hand und sagt, ich soll die Augen schließen. Er führt mich. Ich würde überall mit ihm hingehen.
»Augen auf.«
Ein See, versteckt im Wald! Ein Baggersee, um genau zu sein. Wir sind ganz allein hier.
»Der See gehört dem Vater von ’nem Freund von mir«, sagt er. Es gibt ziemlich viel Sand überall, kleine Hügel, das Ufer ist mit Schilf überwuchert. Sieht fast ein bisschen aus wie eine Mondlandschaft mit Grünanteil. Meine Füße sinken tief in den Schlamm am Ufer ein, ich sehe einen Fisch vorbeiblubbern durch das trübe Wasser. Auf der anderen Seite des Sees ist ein Kiesberg aufgeschüttet, anscheinend wird hier noch gearbeitet. Linus hat meine Hand losgelassen.
»Gefällt’s dir?«, fragt er und wirkt auf einmal unsicher.
Ich nicke und schaue ihn dabei an.
Da spüre ich Linus’ Finger meine Hand streifen, ganz sanft, wie ein Windhauch.
»Ich hab noch nie jemanden mit hierhergenommen.«
Wir schauen weiter auf den See.
»Das Wasser ist bisschen schlammig«, sagt er.
»Find ich nicht.«
»Und die ganzen Bagger und so sind ziemlich hässlich.«
»Findest du?«
»Eigentlich nicht.«
»Ich auch nicht.«
»Jetzt find ich den See gerade besonders schön«, sagt Linus ruhig.
»Danke«, sage ich. »Danke, dass du mich mitgenommen hast.«
Es ist warm. Keine Wolke am Himmel. Stille. Nur eine Hummel fliegt vorbei. Muss sich verirrt haben. Blumen gibt es hier eigentlich nicht.
»Wollen wir uns kurz in den Schatten legen?«, fragt Linus und sucht einen der wenigen Bäume für uns aus. Er zieht sein T-Shirt aus, seine Haut ist glatt und leicht gebräunt, und ich muss mich zwingen, ihn nicht die ganze Zeit anzustarren. Er zieht ein Handtuch aus seiner Tasche, das nicht sehr groß ist, und breitet es längs auf dem Boden aus. Wir liegen Arm an Arm und Schulter an Schulter, die Ränder unserer Körper berühren sich. Wir haben die Augen geschlossen. Ich liege völlig reglos, ich fühle nur Linus’ Haut an meiner Haut, und ich weiß, dass ich mich immer nach ihm sehnen werde. Ich werde seine kantigen Ellenbogen anbeten, die Form seiner Nase, das Grün seiner Augen, seine dunkle Stimme, seine Hände, die in der Luft gestikulieren, wenn er etwas erzählt, und alles andere, das ich noch nicht von ihm kenne. Er hat mich als Einzige hierhergebracht. Linus bewegt sich leicht und stützt sich auf die Unterarme.
»Ich hab vorhin nicht ganz die Wahrheit gesagt. Ich war schon mal mit jemandem hier. Mit meinem kleinen Bruder.«
Mehr sagt er nicht. Aber der Klang seiner Stimme verrät mir, wie wichtig ihm sein Bruder ist. Ein Reiher fliegt über unsere Köpfe.
»Wie heißt er?«, frage ich.
»Levin.«
»Levin und Linus«, wiederhole ich.
»Er ist jetzt zwölf. Gehn wir ins Wasser?«, fragt Linus plötzlich und setzt sich auf.
»Ja«, sage ich.
Ohne nachzudenken, ziehe ich mein Kleid aus. Einfach so, ohne mich zu schämen. Slip und BH lasse ich an. Linus hat eine dunkelblaue Badehose unter seiner Jeans, wir laufen gemeinsam zum Ufer. Wir waten ein Stück durch den Schlamm, dann wird der Boden unter unseren Füßen etwas fester und ich lasse mich ins Wasser gleiten.
»Geht’s?«, erkundigt er sich.
»Ja«, sage ich.
»Wollen wir zu dem Kran schwimmen?«
Der Arm des Krans am anderen Ufer ragt in ungefähr zehn Meter Höhe weit in den See hinein.
»Und runterspringen?«, frage ich.
Überrascht wirft mir Linus einen Blick von der Seite zu. »Okay«, sagt er.
Wir klettern am Stahlgerüst des Krans nach oben, Linus vorneweg. Je höher wir steigen, desto unrealistischer wird mein erster Schätzwert von zehn Metern. Es sind mindestens zwanzig. Oben angekommen, hangelt sich Linus weiter auf den Arm des Krans, der, nun von oben betrachtet, doch mindestens dreißig Meter über dem Wasser schwebt. Ich richte meine Augen immer geradeaus und schaue nicht nach unten. Wenigstens kann man sich an den Streben gut festhalten und läuft nicht Gefahr, nach unten durchzurutschen und in den See zu fallen. Linus wartet auf mich am Ende des Krans. Ziemlich lässig sitzt er da – vierzig Meter über dem Wasser. Angst scheint er nicht zu haben.
»Du springst zuerst«, sagt Linus.
»Warum?«
Linus neigt den Kopf zur Seite und betrachtet mich nachdenklich. Das Wasser sieht aus wie eine Betonwand. Gefühlte fünfzig Meter mindestens. Ich klammere mich mit beiden Händen am Gerüst fest.
»Du musst nicht springen«, sagt er plötzlich.
Keine Ahnung, woher ich den Mut habe. Ich umfasse Linus’ Gesicht mit den Händen und küsse ihn auf den Mund.
Dann springe ich.
Ich tauche fast bis auf den Grund des Sees und schieße wie eine Rakete wieder nach oben. Linus’ Gesicht erscheint lachend in meinem vom Wasser verschwommenen Blickfeld. Und auf einmal spüre ich etwas, was ich schon lange nicht mehr gespürt habe – die Vollkommenheit des Augenblicks.
Linus und ich umarmen uns und ziehen uns dabei wieder in die Tiefe. Unter Wasser haben wir die Augen geöffnet, Linus sieht auf einmal ganz anders aus, wie ein schillernder Fisch mit Haaren.
»Wie war’s?«, fragt er, als wir wieder auftauchen.
»Schön.«
»Ich meine den Sprung!« Linus lächelt verschmitzt.
»Ich auch!«, kontere ich. »Oder was dachtest du? Etwa das?«
Ich schwimme auf ihn zu und küsse ihn.
»Warte mal, ich bin mir nicht ganz sicher, kannst du das noch mal machen, bitte?«
Ich küsse ihn erneut, diesmal etwas länger. »Und?«
»Hm. Ich bin mir immer noch nicht ganz sicher.«
»Ich hab fast das Gefühl, du nutzt die Situation aus!«
»Das würde ich nie tun!«
»Schade«, sage ich und kraule los. Ich kann ziemlich gut schwimmen, weil meine Eltern mich schon als Kind in den Schwimmverein gesteckt haben. Sie dachten, Vereinssport sei gut für ein Einzelkind wie mich.
Wir lassen uns auf dem kleinen Handtuch von der Sonne trocknen. Sand klebt an unseren Beinen und an der unteren Hälfte des Rückens. Das Handtuch reicht nur für unsere Oberkörper. Ich spüre Ameisen über meine Füße krabbeln. Aber ich will mich nicht bewegen. Ich will nur Linus neben mir spüren.
Auf einmal richtet er sich auf und sagt: »Das gibt’s doch nicht!«
»Was denn?«
Linus zeigt auf mein Muttermal auf dem Knie. »Ich hab genau an der gleichen Stelle auch ein Muttermal. Guck mal.«
Er hebt sein Knie hoch und es stimmt. Unsere Muttermale haben sogar fast die gleiche Form. Ein bisschen wie ein Gartenzwerg.
Linus streicht mit der Hand über mein Muttermal, ich bekomme Gänsehaut.
»Charlie?«
»Ja?«
»Warum, glaubst du, sind wir seit Jahren aneinander vorbeigelaufen und jetzt auf einmal hier zusammen?«
Weil du mich vorher nicht wahrgenommen hast.
»Ich weiß nicht«, sage ich.
Linus schweigt. Nach einer Weile drehe ich den Kopf in seine Richtung.
»Schicksal?«, frage ich und sehe, wie seine Augen kurz heller schimmern.
»Ja, vielleicht.«
»Aber in Wirklichkeit war alles von mir geplant. Traust du mir das zu?«
»Ich trau dir ganz schön viel zu.«
»Ich dir auch.«
Wir schauen uns in die Augen. Ich hab mal gelesen, dass der Mensch den ganzen Tag damit beschäftigt ist, zu entschlüsseln, was wirklich hinter den Worten des anderen steckt. Wir sagen so viel und meinen was ganz anderes. Plötzlich muss ich an Jakob denken. Bei ihm hatte ich nie das Gefühl, er würde seine Gedanken hinter einer Maske verstecken. Er trug sie offen im Gesicht. Manchmal erschreckend offen. Jakob war wahrhaftig. Und Linus erinnert mich an ihn.
Linus dreht einen Joint. Er raucht ihn an, dann zieht er mich zu sich heran, er bläst den Rauch in meinen Mund, ich atme tief ein, was von ihm in mich strömt, die Wirkung ist verblüffend stark. Ich spüre es in meinem Kopf, mein Blut rauscht durch die Adern, ich muss mich hinlegen. Aber als ich die Augen schließe, sehe ich nur bunte Blitze auf mich zurasen. Ich öffne die Augen und fixiere Linus, sein Anblick beruhigt mich.
»Alles okay?«, fragt er.
»Ziemlich stark, das Zeug.«
»Gras. Hab ich aus Amsterdam mitgebracht. Hier, trink was.«
Er gibt mir eine Flasche Wasser. Ich trinke durstig.
»Als ich klein war, hab ich immer mit einem Freund geredet, den nur ich sehen konnte. Er hieß Freddie Fuchs, und weißt du was? Das mache ich manchmal immer noch.«
»Dann warst du als Kind nie allein.«
»Jetzt bist du bei mir.«
Und du bei mir.
»Ich pass auf, dass dir nichts passiert«, sagt er.
»Ich weiß«, flüstere ich und schließe die Augen.
Die Blitze sind weg. Ich beruhige mich langsam, mein Puls wird wieder normal. Als ich die Augen aufschlage, liegt Linus neben mir und schläft. Jetzt kann ich ihn in aller Ruhe betrachten. Jede Kleinigkeit. Er hat sieben hellbraune Sommersprossen im Gesicht. Der Pickel auf der Nase hat sich in einen blassen roten Punkt verwandelt. Keine Brusthaare. Seine Finger sind kurz und kräftig. Linus schlägt die Augen auf.
»Und?«, fragt er.
Was meint er?
»Ich hab dich vorhin auch angeschaut, als du geschlafen hast.«
»Und?«, frage ich leicht verunsichert.
Linus streicht eine Haarsträhne aus meinem Gesicht. »Du siehst aus wie aus einer anderen Zeit.« Sein Mund nähert sich meinem und er flüstert: »Ich finde dich wunderschön.«
Dann küsst er mich. Das ist unbeschreiblich. Und dauert lange. Aber trotzdem zu kurz.
Linus legt den Arm um meine Hüfte, als wir in der Dämmerung zum Tor zurücklaufen. Wir klettern rüber, Linus fängt mich auf und drückt mich noch mal fest an sich. Die Art, wie er mich anschaut. Wie er mich anfasst …
Es gibt Tiefseefische, die wachsen nach der Paarung zusammen. Richtig tief unten im Meer ist es nämlich sehr selten, dass Männchen und Weibchen sich überhaupt treffen. Das Männchen dockt am Weibchen an, sie werden zu einem Blutkreislauf, sie teilen dieselbe Nahrung, sie können nicht mehr ohne den anderen sein.
Im Auto macht Linus Musik an. Während er nach vorne auf die Straße schaut, kann ich ihn von der Seite unauffällig betrachten. Seine Haare fallen ihm ins Gesicht. Er streicht sie zurück. Diese Geste ist mir schon vertraut.
Viel zu schnell sind wir bei mir zu Hause angekommen. Gleichzeitig beugen wir uns zueinander, ich atme Linus’ Geruch ein, er riecht nach See und ein bisschen nach Zitrone. Ich vermisse ihn jetzt schon.
»Bis bald«, flüstert er in mein Ohr, und diesmal weiß ich, dass bald bestimmt bald sein wird.
Linus wartet, bis ich an der Haustür bin, ich drehe mich noch mal zu ihm um und winke, dann fährt er weg. Erst jetzt bemerke ich den dunklen Schatten neben der Tür, der auf mich zukommt. Ich schalte schnell die Außenbeleuchtung an. Es ist Lu. Oh nein. Das Fest. Unser Auftritt.
Fassungslos steht Lu vor mir. »Wo warst du?«
Ich kriege vor Scham keinen Ton raus.
»Was ist denn passiert?«, fragt sie mit belegter Stimme. »Warum bist du nicht ans Telefon? Warum sagst du nichts?«
Lu starrt mich mit großen Augen an. »War das eben Linus?«, fragt sie auf einmal mit großer Klarheit.
Ich nicke. »Es tut mir total leid! Ich hatte mein Handy nicht dabei!«
Ich mache einen Schritt auf sie zu, doch die Enttäuschung in ihren Augen hält mich davon ab, sie zu berühren. Ich spüre, wie sie sich innerlich von mir zurückzieht, ich kann in ihrem Gesicht lesen, wie unsere Freundschaft sich auflöst, nichts mehr davon übrig bleibt, nur ein kläglicher Haufen Enttäuschung, und vielleicht auf immer verloren ist.
»Tröste mich nicht«, faucht sie. »Denn ich bin untröstlich.«
Dann dreht sie sich um und rennt weg. Es ist, als hätte jemand Beton in meinem Bauch ausgegossen, der sich innerhalb von Sekunden verhärtet.