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Ich hab’s geschafft. Zwei Nachmittage lang hing ich am Telefon, auf der Suche nach einem Label für Lu. Überhaupt mal jemanden ans Telefon zu kriegen war schon fast ein Ding der Unmöglichkeit. Vor lauter Verzweiflung war ich kurz davor, die Sekretärin von Anti-Tone-Records zu bestechen, schließlich habe ich es aber durch meine Hartnäckigkeit geschafft. Ich habe zehn Minuten Zeit, den Produzenten Adrian Hover von Lu zu überzeugen. Zehn Minuten und keine Sekunde mehr, hat die Sekretärin gesagt. Den Termin gab es allerdings nur am Mittwochvormittag, ich muss also die Schule schwänzen. Kein Problem für mich. Im Entschuldigungenfälschen bin ich ziemlich gut.
Um zehn Uhr steige ich in den Regionalzug in die Stadt, eine halbe Stunde Fahrt liegt vor mir, in der ich noch mal alles durchgehen kann. Der Zug ist ziemlich voll, und auf der Suche nach einem freien Platz muss ich an Frau Rose vorbei, unserer Nachbarin, die mich neugierig anschaut und sich bestimmt fragt, warum ich nicht in der Schule bin. Endlich finde ich einen freien Platz, sogar am Fenster. Ich taste in meiner Tasche zum hundertsten Mal nach der CD und vergewissere mich, dass ich sie wirklich dabeihabe. Frau Rose sitzt nicht weit weg von mir und linst ständig zu mir herüber, meine Güte, ist die penetrant! Wahrscheinlich rennt sie später zu meinen Eltern und verpetzt mich. Soll sie doch. Ich schaue aus dem Fenster, eigentlich ist unsere Gegend ganz schön, grün und hügelig, fällt mir heute zum ersten Mal so richtig auf.
Schon als ich eingestiegen bin, sah es nach Regen aus, jetzt verfinstert sich der Himmel so schnell, als würde jemand das Bild vorspulen. Die ersten Tropfen fallen schon. Toll. Ich werde klatschnass bei Anti-Tone-Records ankommen, einen Regenschirm hab ich natürlich nicht dabei. Mit verschmierter Wimperntusche, triefenden Haaren und nassen Klamotten werde ich bestimmt total überzeugend sein. Ich schaue aus dem Fenster. Ein wahres Naturspektakel fliegt draußen an mir vorbei. Wolken ziehen sich zusammen, bilden dicke, dunkle Klumpen, da ist schon der erste Donner, dann ein Blitz. Es schüttet. Die Tropfen trommeln wie wütende kleine Fäuste auf die Fensterscheibe. Ich schaue fasziniert aus dem Fenster, wieder ein Blitz, so hell, gleißendes Licht, auf einmal verdunkelt sich der Himmel und eine dichte graue Wolke schwebt neben dem Zug her, das sieht schön aus, denke ich noch, wie Rauch, und genau in diesem Moment spüre ich einen heftigen Schlag auf meinem Kopf.
Ich krieg keine Luft mehr. Meine Kehle brennt. Meine Augen tränen. Es ist dunkel. Ich liege auf dem Bauch, den Kopf zur Seite gedreht, auf einem harten Boden, direkt vor einer Betonwand. Mein ganzer Körper tut weh, mein Kopf hämmert. Ich will die Hand heben und nach der Wunde am Kopf tasten, aber es geht nicht. Scheiße, ich kann meine Hände nicht bewegen. Auch nicht meine Beine. Ich bin gelähmt. Wo bin ich? Wie lange lieg ich schon hier? Das Letzte, woran ich mich erinnern kann, ist, dass ich im Zug war und mich jemand von hinten attackiert hat. Angst kriecht wie ein kleines giftiges Tier in mich hinein. Was passiert hier, warum kann ich mich nicht rühren? Um nicht durchzudrehen, konzentriere ich mich nur auf den kleinen Finger meiner rechten Hand. Ich befehle dem Finger, sich zu bewegen. Immer wieder. Endlich gehorcht er mir. Jetzt die anderen Finger. Geschafft. Mit der Hand streiche ich vorsichtig über den Boden neben mir. Er fühlt sich kühl und feucht an, ich spüre Erde durch meine Finger rieseln. Um mich herum knackt und prasselt es. Es riecht verbrannt. Ich sehe rötlichen Feuerschein über die Mauer flackern. Was ist hinter mir?
Ich zähle bis drei, dann hebe ich den Kopf unter größter Anstrengung wenige Zentimeter vom Boden, stütze mich mit den Armen ab und richte mich dann ganz langsam auf. Ich drehe den Kopf und schaue hinter mich in den Raum. Es brennt, alles ist voller Feuer! Mich überfällt Panik und ich schnappe nach Luft. Mein Herz pocht so stark, dass ich das Gefühl habe, jemand hämmert von innen gegen meine Rippen. Doch plötzlich spüre ich, wie alles ganz ruhig wird, der Ton schaltet sich förmlich ab und alle Gedanken auch, bis auf einen: Ich muss hier raus! Beherrscht von diesem einen Gedanken, steht mein Körper wie von selbst auf, meine Augen suchen nach einem Ausgang. Alles ist voller Qualm, ich kann kaum etwas erkennen. Der Raum scheint nicht sehr breit, aber lang zu sein. Keine Fenster. Alles deutet darauf hin, dass es ein Keller ist. Die Hitze brennt sich in meine Haut, Rauch verstopft meine Lungen. Ich reiße ein Stück Stoff von meinem Rock, sammle das letzte bisschen Spucke in meinem Mund, befeuchte damit den Fetzen und binde ihn mir als Schutz um Mund und Nase. Mit den Händen taste ich mich an den Wänden entlang, sie sind überraschend kühl. Der Raum ist voller Regale, die fast alle lichterloh brennen. Gerade kracht eins zusammen und wird von den Flammen in rasendem Tempo aufgefressen. Jeder Atemzug ist eine Qual. Hier muss es doch irgendwo einen Ausgang geben! Aber ich finde ihn nicht. Die Flammen breiten sich immer mehr aus. Wo ist die verdammte Tür?
Ich verliere die Orientierung. Mir ist so heiß. Auf einmal schießt mir ein neuer Gedanke durch den Kopf: Das ist eine Falle. Jemand will, dass ich hier verbrenne.
Aber ich gebe nicht auf, ich muss ja irgendwie hier reingekommen sein. Weiter, immer weiter. Meine Augen tränen, ich muss husten, das Husten muss aufhören, sonst ersticke ich. Ich versuche an was anderes zu denken, um mich abzulenken, an was Schönes, ich denke an Linus und atme unter Schmerzen weiter. Was ist das da hinten? An der Kopfseite des Raumes kann ich etwas erkennen, das aussieht wie eine … ja, eine Tür! Für einen Moment spüre ich mich wie erlöst, mein Körper läuft einfach weiter, noch fünf Meter, noch vier Meter, noch drei … Plötzlich packt etwas mit eisernem Griff mein Bein. Vor Schock bleibe ich reglos stehen, traue mich nicht, mich zu bewegen. Wie von selbst blendet sich der Ton wieder ein, ich höre das laute Prasseln des Feuers, meinen eigenen keuchenden Atem und eine Stimme, die heiser flüstert: »Charlie, hilf mir!«
Lu?
»Was machst du hier?«, krächze ich verwirrt.
»Was?«, fragt Lu etwas lauter. »Ich kann dich nicht verstehen.«
Ich reiße mir den Stoff vom Gesicht. »Was machst du hier?«
Lus Körper bebt. »Mein Bein ist eingeklemmt.«
»Bist du verletzt?«
Sie liegt halb unter einem Regal, ihr Bein ist eingequetscht. Ich versuche, das schwere Teil wegzuschieben, Lu stöhnt vor Schmerzen, ich schaffe es nicht! Ich schaue wieder nach vorne zur Tür, nur noch ein paar Meter, dann wären wir gerettet. Da steht plötzlich, wie aus dem Nichts, ein Mädchen in der Tür. Feuerschein erhellt für einen Moment ihr Gesicht, ich sehe ihre schreckensgeweiteten Augen, ihre schwarzen Haare, die in alle Richtungen abstehen, sie ist groß und dünn, ihre Piercings glänzen im Feuerschein. Sie schreit uns was entgegen, aber ich kann sie nicht verstehen. Ich schreie zurück: »Hilf uns!« Sie macht irgendwelche Zeichen mit den Händen, und ich brülle, so laut ich kann: »Wir müssen hier raus, verdammt noch mal!« Doch das Mädchen verschwindet einfach durch die Tür und lässt uns allein.
»Scheiße!«, schreie ich verzweifelt. »Warum hilfst du uns nicht?« Ich stelle mich hinter Lu, packe sie unter den Armen und ziehe mit letzter Kraft, so fest ich kann, an ihrem Oberkörper. Ihr Fuß gleitet wie durch ein Wunder aus dem Gummistiefel, der unter dem Regal stecken bleibt. Wir haben’s geschafft! Es stinkt nach verbranntem Gummi. Tolle Schuhe für ein Feuer, schießt es mir noch durch den Kopf, da legt sich ein riesiger Schatten auf uns.
Ich drehe mich ruckartig um. Ein Mann steht in der Tür. Sein Gesicht ist verborgen hinter einem Helm, das getönte Visier runtergeklappt. Seine schwarze Lederjacke wirkt wie eine Kampfrüstung. Mein Herz rast. Der Mann blockiert die Tür. Ich kann kaum mehr atmen. Ich verschlucke mich, kriege noch mehr Rauch in die Lungen. Der Mann kommt auf uns zu, ich will Lu hochziehen, die krümmt sich vor Schmerzen und hält ihr Bein umklammert, der Mann schubst mich zurück, ich wehre mich, will ihn festhalten, aber er macht sich los, schlägt und schubst mich erneut, zurück ins Feuer. Ich komme einfach nicht gegen ihn an, er ist zu stark. Durch den dichten Rauch sehe ich, dass der Mann auch Lu zurückdrängt in die Flammen. Ein bisschen Kraft hab ich noch. Ich muss Lu helfen. Doch der Mann hat auf einmal ein Stück brennendes Holz in der Hand, er versperrt mir den Weg und treibt mich wieder zurück. Ich japse nach Luft, aber es gibt keine mehr. Ich huste mir die Seele aus dem Leib. In meinem Kopf ist nichts mehr, nur noch Leere und Rauch. Ich lasse mich auf den harten Boden fallen, mein Kopf prallt gegen Beton, es wird dunkel und still um mich herum. Der Mann in der Lederjacke zerrt an mir, ich weiß, er wird gleich zuschlagen … Dann ist es, als würde jemand in mir den Lichtschalter ausknipsen. Ich sterbe. Wir sterben.