9
Ich werde von Nirvana geweckt. Noch im Halbschlaf schaue ich auf die Digitalanzeige von meinem Radiowecker: 5:55. Normalerweise springt er um sieben an. Ich kann mich nicht erinnern, dass ich ihn gestern Abend umgestellt habe. »Smells like teen spirit«. Jakobs absolutes Lieblingslied.
»Hello, hello, hello, how low? Hello, hello, hello, how low? – With the lights out, it’s less dangerous – Here we are now, entertain us …«
Es trifft mich wie ein Schlag. Plötzlich steht es mir glasklar vor Augen, alles fügt sich zu einem Bild zusammen. Ich versteinere innerlich, als ich begreife: Obwohl wir geschlafen haben, hat es sich nicht angefühlt wie ein Traum. Deshalb konnte ich Lu zuerst nicht glauben. Ich habe alles so erlebt, als wäre ich wirklich da gewesen. Und jetzt kommt’s. Das Gleiche hat Jakob damals in der Nacht auch gesagt. Auf einmal erinnere ich mich an alles, wie konnte ich es nur vergessen! Zwei Monate später war er tot. Jedes Detail seines Traums hat sich erfüllt. Sogar, dass Nirvana im Auto lief. Und jetzt passiert mir das Gleiche. Uns. Lu hatte den gleichen Traum. Jakobs Traum war eine Prophezeiung. Und unser Traum ist auch eine. Wir werden im Feuer sterben, jemand wird uns umbringen. Krass. Der Radiowecker hat mich mit Nirvana geweckt. Ich sollte mich daran erinnern. Das ist ja noch krasser. Jakob hatte nur zwei Monate zwischen Traum und Tod. Zwei Monate.
Plötzlich werde ich ganz ruhig, mein Puls wird immer flacher, ich spüre ihn schon gar nicht mehr, als ich wie ferngesteuert an mein Handgelenk fasse. What the fuck soll ich denn jetzt tun? Erst mal aufs Positive konzentrieren, das hilft immer.
Wie toll, nie wieder Zahnarzt. Ich muss auch nicht sofort alles meinen Eltern beibringen. Zur Schule muss ich eigentlich auch nicht mehr. Ich kann täglich zwei Packungen Zigaretten rauchen und endlich essen, so viel und was ich will. Ich muss nicht zur Beerdigung meiner Eltern. Linus… – mein Gott, daran kann ich jetzt nicht denken. Eigentlich habe ich mir noch nie Gedanken darüber gemacht, wie es ist, alt zu sein. Ich stelle mir das so vor, dass ich eines Tages in den Spiegel schaue und über mein faltiges Gesicht erschrecke und denke: Das soll ich sein? Dieser Schock bleibt mir erspart. Ich werde aber auch nie heiraten und mein Kind im Arm halten. Scheiße, ich schaff’s nicht, nur die Vorteile zu sehen. Ich will nicht sterben!
Ich krieg die furchtbaren Bilder nicht aus dem Kopf. Lus schmerzverzerrtes Gesicht. Den Geruch von verbranntem Holz und Gummi, die Hitze und die Angst, nicht mehr atmen zu können und zu ersticken. Ich sehe den Mann mit dem Helm vor mir. Das begreife ich einfach nicht. Jakob hatte nur einen Unfall, wir aber werden umgebracht. Jemand will uns töten. Wer soll dieser Mann sein? Im Innern gehe ich die Liste unserer möglichen Feinde durch. Und dann muss ich eingestehen, dass ich so was wie Feinde nicht habe und Lu erst recht nicht. Also ist es jemand, den wir uns erst zum Feind machen werden? Was wird in den nächsten Wochen passieren?
Rastlos laufe ich in meiner Wohnung umher. Da fällt mir auf, dass es ganz still ist. Das Radio läuft nicht mehr, hat sich von allein ausgeschaltet. Wieder schaue ich auf die Uhr. Eine Stunde ist vergangen! Kommt mir vor wie fünf Minuten.
Was mache ich jetzt? Immer schön flach durchs Höschen atmen, würde Hanna sagen. Okay. Als Erstes muss ich mit Lu sprechen.