13
Ich habe so gut geschlafen wie schon lange nicht mehr. Morgens bleibe ich im Bett liegen, meine Eltern sind zur Arbeit, ihr Kind ist ja fast wieder gesund. Ich bin allein und kann in Ruhe darüber nachdenken, was ich alles mitnehmen werde. Klamotten. Das ist klar. Geld. Meinen Ausweis. Fotos von Lu und meinen Eltern. Meinen Laptop, Handy. Das Aufladegerät nicht vergessen. Einen Schlafsack. Und mein Beauty-Case. Ich schmiere Brote, packe Äpfel und Kekse ein, als würde ich zu einem Picknick gehen. Ich schreibe meinen Eltern einen Brief.
Liebe Mama, lieber Papa,
bitte sucht mich nicht. Wenn Ihr den Brief findet, bin ich schon weit weg. Ich kann Euch nicht sagen, warum. Bitte glaubt mir einfach, dass es lebenswichtig ist. In spätestens drei Monaten bin ich wieder da. Ich gehe mit Linus, aber ich gehe nicht wegen Linus. Ich rufe Euch an.
In Liebe,
Eure Charlie
Ich habe lange überlegt, was ich schreiben soll. Ob ich ihnen die Wahrheit sagen soll. Aber das klingt alles viel zu verrückt, sie würden mir nicht glauben. Linus ist der Einzige, der mir glaubt.
Wie immer, wenn ich verreise, habe ich viel zu viel Gepäck dabei. Ich schleppe den Koffer runter auf die Straße, ich schaue mich ein letztes Mal um und weiß, ich tue das Richtige.
Frau Rose liegt in ihrem Liegestuhl. Ihr Mund steht einen Spalt offen, sie scheint zu schlafen. Einem plötzlichen Impuls folgend, lasse ich meinen Koffer stehen, klettere über den Zaun, gehe auf Frau Rose zu, beuge mich zu ihr runter und schlinge die Arme um sie. Meine Nase liegt an ihrem Hals, sie riecht so, wie alte Leute riechen, ein bisschen muffig. Ich streiche ihr vorsichtig übers Haar. Es fühlt sich an wie Stroh, so trocken ist es. Auf einmal bin ich unsagbar traurig. Frau Rose öffnet die Augen und schaut mich verwundert an. Ich nehme ihre alte Hand in meine, sie ist kühl, obwohl die Sonne scheint. Da sagt Frau Rose leise: »Jetzt geh schon!«, und lächelt wehmütig.
Ich nicke ernst und schweren Herzens verlasse ich den Garten, schnappe mir wieder meinen Koffer. Die Rollen quietschen auf der Straße. Ich werde von den Nachbarn beobachtet. Schatten huschen hinter Gardinen. Herr Kamuff, unser neugierigster Nachbar, ruft mir zu: »Du fährst weg?«
»Jaha«, rufe ich zurück, als wäre es völlig normal, dass ich meinen roten Koffer hinter mir durch die Gegend schleppe.
Anstrengend. Mir ist heiß. Ich trinke einen Schluck aus der Wasserflasche, dann gehe ich weiter.
Ich bin einige Minuten zu früh an der Bushaltestelle. Erst mal verschnaufen. Ich streiche mir die Haare aus dem Gesicht, halte sie mit einer Hand zu einem Pferdeschwanz zusammen und kühle so meinen verschwitzten Nacken. Und dann sehe ich plötzlich das schwarze kastenförmige Auto näher kommen. Wie in Zeitlupe lasse ich die Hand sinken, die Haare klatschen unverhältnismäßig laut auf meinen Rücken. Ein schwarz gekleideter Mann im Anzug sitzt am Steuer, sein Gesicht kann ich nicht erkennen. Die Scheiben sind mit gerafften lilafarbenen Gardinen verhängt. An mir ist noch nie ein Leichenwagen vorbeigefahren. Mein Herz klopft. Auf einmal erinnere ich mich an die Brandblasen, die hatte ich völlig vergessen. Schnell schaue ich auf meinen Arm. Weg. Keine mehr da. Auch keine Narben. Hab ich sie mir in meinem Fieberwahn nur eingebildet? Ich setze mich auf meinen Koffer. Wie gut, dass ich von hier fortgehe. Der Gedanke beruhigt mich. Alles wird gut, sage ich mir.
Ein Bus kommt näher und hält. Der Busfahrer schaut mich auffordernd an, ich schüttle den Kopf, dann schließen sich die Türen wieder und fast beleidigt gibt der Busfahrer Gas. Wo werden Linus und ich heute Abend sein? Wo werden wir übernachten? Im Auto? Ich stehe wieder auf, schaue auf die Uhr, es ist schon nach drei. Bestimmt kommt er gleich. Ein junger Typ nähert sich hektisch, die Jeans hängt ihm halb vom Hintern runter. Während er immer wieder denselben Mädchennamen schreit – »Babsi! Babsiii!« – und sich dabei suchend in alle Richtungen umschaut, zieht er ständig seine Hose hoch. Bringt aber nix. Er steuert mich an und brüllt, als wäre ich schwerhörig: »Babsi gesehn?«
»Nee.«
»Babsiiii!«, kräht er noch lauter und läuft weiter.
Es ist schon halb vier und Linus ist nicht da. Ich rufe ihn an. Sein Handy ist aus. Ich werde unruhig und tipple von einem Fuß auf den anderen. Warum kommt er nicht? Das Handy? Immer noch aus. Es ist was passiert. Trotz der Hitze wird mir ganz kalt auf einmal, ja, ich bin mir sicher, dass Linus etwas passiert sein muss. Halb fünf. Schon wieder ein Bus, derselbe wie vorhin. Ich stehe mutterseelenallein an der Haltestelle und der Busfahrer rauscht einfach an mir vorbei. Als wollte er mich dafür bestrafen, dass ich vorhin nicht eingestiegen bin. Ich halte es nicht länger aus, ich ziehe wieder meinen Koffer hinter mir her und laufe zu Linus nach Hause. Keiner da. Auch das Auto ist weg. Linus hatte einen Autounfall und ist im Krankenhaus. Das muss es sein. Fast schon panisch renne ich, so gut es mit dem blöden Koffer im Schlepptau geht, zu mir nach Hause. Ich verfluche mich, dass ich so viel eingepackt habe.
Mein Brief liegt ungelesen auf unserem Küchentisch. Ich telefoniere alle Krankenhäuser in der Gegend ab. Kein Verletzter in Linus’ Alter ist irgendwo eingeliefert worden. Ein Glück.
Ich setze mich hin. Einen Moment zur Ruhe kommen. Und da ist er wieder, der Gedanke, den ich aus meinem Kopf verbannt habe. Linus hat mich sitzen lassen. Er hat es sich anders überlegt und ist einfach nicht gekommen. Nein, vielleicht hat er einen Grund. Einen guten Grund. Gleich wird es an der Tür klingeln, Linus wird verschwitzt vor mir stehen und außer Atem sagen, dass er eine Autopanne hatte, sein Akku leer war und er nicht wusste, wie er mich erreichen soll. Während ich daran denke, schießen mir die Tränen in die Augen. Weil ich weiß, dass es nicht wahr ist. Linus hat es sich anders überlegt. Er kommt nicht mit. Aber warum?
In der ganzen schrecklichen Ungewissheit ist mir eine Sache völlig klar: Allein werde ich nirgends hingehen. Nicht ohne Linus. Dann lieber zu Hause bleiben und sterben.