Denken und Handeln
»Auch wenn einige meinen, dass unsere heutige Zeit von ›dem großartigen Traum, durch Geld zu Bedeutung zu gelangen‹ geprägt ist, so bleibt doch ein unerschütterliches und unangenehmes Gefühl, dass unsere Obsession, die kreativen Routinen zu optimieren und die Produktivität zu maximieren, uns vergessen lässt, wie wir in Verbindung bleiben mit dem erfreulichen Mysterium des Lebens.«
Maria Popova, Autorin
Vor ein paar Jahren boten wir am Wuppertal Institut, an dem ich damals arbeitete, eine Reihe von Seminaren darüber an, wie sich das Energiesystem in Richtung Nachhaltigkeit umbauen lässt. Als Teilnehmer*innen luden wir junge Entscheidungsträger aus ganz Europa ein, die in ihren jeweiligen Unternehmen, Kommunen, Regierungen und zivilgesellschaftlichen Organisationen gerade vor der Aufgabe standen, diesen Umbau strategisch mitzuorganisieren. Wir wollten ihren Blick auf die an sich einfache Tatsache lenken, dass wir alle unter bestimmten Bedingungen Entscheidungen treffen. Diese Bedingungen rahmen das, was wir für realistisch, möglich oder wünschenswert halten. Sie sind so etwas wie die Box, in der wir uns befinden, wenn wir im Alltag denken und handeln. In Innovationsprozessen ist es hilfreich, nicht nur kurz aus ihr rauszudenken und dann neue Ideen für neue kleine Veränderungen zu bekommen. Es ist auch sinnvoll, mal so weit herauszutreten, dass wir einen Blick auf die Box gewinnen. Vielleicht möchten wir ja sogar etwas an der Box selbst verändern?
Der Inhalt unserer Seminare war es, den Teilnehmer*innen dafür wissenschaftliche Erkenntnisse an die Hand zu geben und neue Blickwinkel aufzuzeigen. Wir wollten ihnen ermöglichen, ein besseres Verständnis dafür zu entwickeln, wie sich solche größeren Veränderungsprozesse geschickt anstoßen und geduldig verstetigen lassen. Gegen Ende, so zumindest mein Eindruck, brannten die meisten der Teilnehmer*innen darauf, an ihre Arbeitsplätze zurückzugehen und die neuen Ideen umzusetzen.
Das war die Stelle, an der wir vom »fiesen Montag« erzählten.
Der fiese Montag war für uns der Ausdruck für das Phänomen, das jede und jeder von Ihnen kennt, wenn Sie mit frischem Schwung von einer Veranstaltung oder einem Vortrag kommen, inspiriert und den Kopf voller Ideen, was Sie ab jetzt neu und anders machen können. Und dann finden Sie sich in derselben Organisation mit denselben Zielen, Abläufen, Gesprächen und Konferenzen wieder, und alles ist wie immer. Auf diesen Moment wollten wir die Seminarteilnehmer vorbereiten.
Darauf will ich auch Sie vorbereiten.
Wenn funktioniert hat, was ich mir wünsche und wofür ich dieses Buch geschrieben habe, dann sind Sie jetzt für einen Moment aus der Box ausgestiegen. Es kann sein, dass Sie die Welt, die uns umgibt, mit anderen Augen sehen. Es kann sein, dass Sie gewisse Geschichten nicht mehr glauben, andere Zusammenhänge erkennen und den Impuls zum Widerspruch spüren an Punkten, auf die sich bisher alle, auch Sie, einigen konnten. Wenn funktioniert hat, was ich mir erhoffe, haben Sie womöglich sogar Ideen bekommen, welche Schritte auf dem Weg in eine nachhaltige Zukunft zu gehen wären. Eine Zukunft, in der die Natur und die Menschen versöhnt sind. Eine Zukunft, in der all die großen und kleinen Treiber befriedet sind, die uns zu einer Lebensweise anregen, die heute weder das größte Glück für die größte Zahl bringt noch zulässt, dass sich die Lebensgrundlagen regenerieren, von denen Glück für uns alle abhängt. Eine Zukunft, in der wir wieder besser teilen können und gelernt haben, auch mal zufrieden zu sein mit dem, was ist.
Dann sehen Sie auf, und die Welt ist noch die alte. Die Menschen, mit denen Sie auf die eine oder andere Weise zu tun haben, sind es auch, und womöglich wollen sie gern alles so lassen, wie es ist.
Das ist dann Ihr fieser Montag.
Wie verändern wir nun eine neu gedachte Welt?
Nach allem, was Sie in diesem Buch gelesen haben, werden Sie mir hoffentlich zustimmen, dass sie verändert werden muss. Weiterzumachen wie bisher ist keine Option, weil es zu radikalen und wenig einladenden Konsequenzen führt. Denn auch wenn wir gar nichts verändern, verändert sich viel – nur nicht zum Guten. Unser Wirtschaftssystem steht nicht still, bis wir uns weitere dreißig Jahre darum gestritten und schließlich geeinigt haben, welche minimalen Veränderungen wir uns leisten wollen – sofern sie unser blindes Wirtschaftswachstum nicht stören. Wir alle sind ein Teil vernetzter Systeme, in denen nichts ohne Effekt ist, ob wir wollen oder nicht, ob wir etwas anders machen oder nicht. Das bedeutet aber auch, dass wir die Chance haben, den Veränderungen eine bewusste Richtung zu geben. Genau genommen haben wir nicht nur die Chance, sondern auch die Verantwortung dazu. Wir alle können jeden Tag Teil der Veränderung sein, die wir uns für die Welt wünschen, auch wenn sich diese Veränderung erst einmal klein und wenig anfühlt.
Natürlich wird die Welt noch keine andere, nur weil Sie ein Buch gelesen haben. Natürlich auch nicht, nur weil ich eins geschrieben habe. Ich bin weder Regierungschefin eines großen Industrielandes, noch bin ich Vorstandsvorsitzende eines multinationalen Konzerns, und ich vermute, Sie sind es auch nicht. Aber selbst wenn doch, dann würden allein diese Macht und dieser Einfluss nicht ausreichen, um unsere Systeme wieder auf gesunde Füße zu stellen. Denn auch die mächtigen und einflussreichen Menschen, das höre ich in Gesprächen, suchen nach verbindlichen Regeln, die zum einen den Umschwung von Innovationen und Investitionen anleiten können und zum anderen das Vertrauen erwecken, längerfristig wirksam zu bleiben. Gesellschaftsvertrag habe ich das in diesem Buch genannt. Diese Form von zukunftsorientierter Verantwortungsübernahme für das Gemeinwohl sollten wir als Bürger*innen dieser Republik einfordern – und auch selbst anbieten.
Denn Demokratie heißt ja nicht immer auf den Wahltag warten oder erst eine Regierung oder einen Konzern führen müssen, bevor wir etwas in diese Richtung tun können. Das zeigt uns ja auch die Praxis, dass, nur weil jemand Regierungschef*in oder Konzernlenker*in ist, er oder sie nicht automatisch etwas tun. Es geht nur mit vielen, die ernsthaft wollen, und das bedeutet, dass es auf jeden ankommt. Es fängt damit an, dass wir uns die erwähnte Box mal gründlich anschauen und darüber nachdenken, was sinnvoll und zielführend ist und nach welchen Glaubenssätzen, Routinen und Modellen wir den nächsten Schritt aus den vielen möglichen Schritten auswählen.
Im Kapitel über die neue Realität, in dem ein Astronaut vom Weltall aus das erste Foto von unserem Planeten schoss, habe ich gezeigt, wie wichtig es ist, welches Bild wir Menschen uns von einer Sache machen. Es bestimmt darüber, wie wir uns dieser Sache nähern, sie behandeln, in welche Beziehung wir uns zu ihr setzen. In unseren Bildern davon, wie wir die Erde sehen, ihre Natur, wie wir Menschen sind oder nicht sind, wozu Fortschritt dient, wofür man Technik einsetzt und was einem gerecht erscheint, liegt die Deutungshoheit darüber, was in der Welt möglich ist und was nicht.
Meine Einladung war es, einige dieser Bilder zu hinterfragen.
Unsere Welt neu zu denken ist für mich wie ein Befreiungsschlag. Selbst wenn wir das Förderband der endlosen Extraktion nicht sofort stoppen können – denn das wäre eine sehr abrupte und wenig wünschenswerte Entwicklung –, so können wir doch die Klarheit, die Kreativität, den Mut und das Vertrauen entwickeln, einen regenerativen Zyklus daraus machen zu wollen. Dazu braucht es nicht wenige Mächtige, dazu können wir alle einen Beitrag leisten. Deshalb ist dieses Buch auch voll von »Wir«-Formulierungen.
Selbst wenn Sie an vielen Stellen nicht mit mir übereinstimmen, so sind wir in den vernetzten Systemen doch alle auch in unseren sich widersprechenden Meinungen verbunden. Wir können uns darüber fürchterlich anbrüllen, wütend werden und einander richtig viele Beschimpfungen an den Kopf werfen. Diesen Trend können wir ja jetzt schon beobachten. Oder aber wir entscheiden uns dazu, voneinander zu lernen, ehrlich zu benennen, was uns wirklich wichtig ist, wo wir bereit sind zu teilen, was wir meinen, wenn wir bestimmte Konzepte ansprechen. Vielleicht erscheint es Ihnen albern, aber so in etwa lernen es unsere Kinder in der Kita. Dabei geht es gar nicht darum, sich nicht zu streiten. Es geht darum, in den Positionen das Ich im Wir wieder etwas kleiner werden zu lassen.
Je energischer jemand behauptet, dass irgendetwas alternativlos sei, umso genauer sollten Sie es hinterfragen. Und mit genau meine ich genau. Lassen Sie sich nicht mit schnellen Antworten, wilden Zahlenkonstrukten, möglichst komplizierten Abkürzungen und Jargon abspeisen. Auch nicht mit Antworten wie »da spricht ja ein warmes Herz«. Ihr Nachfragen ist eine Rückkopplungsschleife, es schafft eine Irritation, ist Anlass zum Nachdenken, hat einen Effekt. Je nachdem, welche Rückkopplungsschleifen in einer Gesellschaft wirken, ändert sich die Richtung ihrer Entwicklung. Selbst wenn Sie in dem Moment noch keine befriedigende Antwort bekommen, so haben Sie doch eine Wirkung hinterlassen. Und diese Wirkungen können wir, das sollten wir uns alle ins Bewusstsein bringen, bewusst einsetzen.
In Krisenzeiten die Box zu hinterfragen, die Schublade, aus der heraus wir denken und handeln, bringt Klarheit darüber, welche Teile der Box auch anders aussehen könnten. Und je stärker die Box ins Wackeln gerät, umso mehr macht das neu Denken auch Mut. Und den brauchen wir heute in großen Mengen.
In einer demokratischen Gesellschaft sind wir nicht nur auf den Mut der Politik angewiesen, sondern auch auf den der Bevölkerung, ihr den Rücken zu stärken. Eine riesige Aufgabe wird es sein, mit der Gewohnheit zu brechen, alles und jedes in Geld umzurechnen und diesem Mittel zum Zweck dann den Thron in unserer Werttabelle einzuräumen. Wenn es etwas gibt, was in den Diskussionen über die tiefen Treiber der nicht nachhaltigen Entwicklung zu wenig Aufmerksamkeit bekommt, dann ist es die Finanzialisierung unserer Welt und unserer Beziehungen. Es gibt so viele andere Möglichkeiten, Arbeitsteilung, Kooperation, Wertschöpfung und Wertschätzung zu organisieren und auszudrücken. Eine Monokultur bringt uns auch hier in ziemlich fragile Zustände. Damit liegt die zentrale Aufgabe für eine Nachhaltigkeitsgesellschaft nicht mehr nur in den Umwelt-, Entwicklungs- und Sozialministerien, sondern im Finanzministerium und Wirtschaftsministerium. Sie haben ja zurzeit die Hoheit über all die Zahlen und Konzepte, mit denen die Wände der Box aufgebaut sind.
Dazu kommt der Mut der Konsument*innen, Kaufentscheidungen so auszurichten, dass die Unternehmen, die schon heute die Innovationen für morgen entwickeln, sich halten und durchsetzen können. Der Mut der Medien, differenzierter über Ziele und Wirkungen von Gesetzen und die Facetten von wirtschaftlichem Erfolg zu berichten. Der Mut von Konzernen, in ihren Bilanzierungen auch soziale und ökologische Wertschöpfung aufzunehmen, und der Mut von Investor*innen, diese Art der Wertschöpfung voranzustellen. Der Mut von Bürgermeister*innen, die ihre Städte mit den Bürger*innen planen, und schließlich der Mut von Bildungsminister*innen wie Schulleiter*innen, jene Wissensinhalte in die Schulen und Lehrbücher zu bringen, die uns die Klarheit, die Kompetenzen und den Mut vermitteln, die das 21. Jahrhundert braucht.
Die Erfahrung von Selbstwirksamkeit ist das beste Mittel, um in einer Krise von reaktivem Abwehren auf aktive Lösungsgestaltung zu schalten. Und wenn wir unsere Selbstwirksamkeit so ausleben, dass sie auf Verständigung und Kooperation angelegt ist, dann kommen auch weitere wirksame Menschen schneller in Schwingung, als Sie sich das vielleicht jetzt träumen lassen.
Wenn wir die Teilnehmer unseres Seminars entlassen haben, gaben wir ihnen immer drei Ratschläge mit, bevor sie in ihr altes Arbeitsumfeld zurückkehrten, um es zu verändern.
Bleiben Sie freundlich und geduldig, aber bleiben Sie dran. Wenn Sie nicht weiterkommen, treten Sie noch mal zurück, schauen auf die Box und prüfen, ob nicht auch ein anderer Ansatz möglich ist. Es gibt viele Eintrittspunkte, um die Veränderung anzustoßen, sie können bei der Vision, der Sprache, den Zahlen, den Anreizen, den Abläufen, der Gestaltung von Büros oder der Kultur des Miteinanders liegen. Auch Vorträge von außenstehenden Experten, Beispiele von erfolgreichen Vorreitern oder neue Allianzen sind ein beliebtes Mittel.
Suchen Sie sich Mitstreiter. Ich verspreche Ihnen, wenn Sie sich outen, werden es viel mehr sein, als Sie bisher denken. Finden Sie eine Sprache und einen Umgang oder gleich neue Organisationsformen, die ausdrücken, wohin Sie möchten. Je mehr die Alltagsgeschichten sich von den alten Begriffen lösen, umso klarer sichtbar wird die neue Richtung. Es wird immer mehrere Wege geben, das Umbauen der Boxen hat Platz für viele Held*innen. Wertschätzung für unterschiedliche Fähigkeiten und Beiträge ist genauso wichtig, wie die positiven Geschichten des Gelingens zu teilen und zu verbreiten und die Arme zu öffnen, wenn Dinge schiefgegangen sind.
Und lassen Sie sich vom fiesen Montag nicht runterziehen. Die Woche hat mehr Tage als nur diesen einen. Deshalb ist es so wichtig, freundlich zu sich selbst zu sein und Erkenntnisse aus der Psychologie und der Glücksforschung zu beherzigen: Der eigene innere Antrieb für eine Sache ist ein zuverlässigerer Motor als die Bestätigung und der Zuspruch von außen. Ist das Problemempfinden nicht schon weit verbreitet und ausreichend groß, bleibt dieser Zuspruch von außen anfangs oft klein, gerade bei großen Veränderungsprozessen wie Boxen umbauen. Dieses Gefühl kenne ich jedenfalls sehr gut. Konzentrieren Sie sich auf das, was in Ihrer Macht liegt, und kümmern Sie sich nicht zu sehr um das, was nicht in Ihrer Macht liegt – inklusive fieser Reaktionen aus dem Umfeld auf das, was Sie tun. Bleiben Sie in Kontakt mit Ihrer ursprünglichen Intention. Für mehr können Sie nicht Verantwortung übernehmen, aber das ist schon eine ganze Menge. Und ganz wichtig zum Schluss: Füttern Sie Humor und das Lachen, die dürfen niemals untergehen. Zukunft machen ist Leben verbringen!
Und natürlich kann niemand sagen, wie genau die Welt aussehen wird, die entsteht, indem wir alte Konzepte und Geschichten loslassen. Aber wenn wir bei unseren Entscheidungen der gesunden Dosis Eigennutz noch die Gesundheit des Ganzen zur Seite stellen, wird aus der Tyrannei der kleinen Schritte schnell eine andere Geschichte: Die Summe des Ganzen ist mehr als seine Teile.