8.

Ein paar Jahre, nachdem mir meine Mutter die Kompass-Geschichte und noch vier, fünf andere von ihren Auto-Erzählungen am Telefon oder in Hamburg auf der roten Rolf-Benz-Couch vorgelesen hatte, rief ich eine Lektorin bei Rowohlt an, von der ich wusste, dass sie Russisch konnte.

Mein Vater hatte sich eben erst mit seiner »Nutte« oder auch »Nazihure«, wie meine Mutter sie bis zum Schluss nannte, nach Othmarschen abgesetzt, in ein kleines Reihenhaus mit einer Fassade aus rotbraunen Klinkersteinen, überwachsen mit wildem Wein oder Efeu oder was auch immer, ich habe ihn dort nur einmal besucht. Und Mama, ohnehin schon ziemlich durcheinander und gelangweilt, hatte kurz vor der großen, aber völlig undramatischen Trennung auch noch aufgehört, an der Universität zu arbeiten, wo sie fast zwanzig Jahre die wissenschaftliche Assistentin eines tyrannischen DKP -Professors für Volkswirtschaft war, der sich bei den Weihnachtsfeiern nach zwölf Uhr immer gern an seine Zeit als »Schütze Arsch von Odessa«, wie er sagte, erinnerte oder auswendig aus Heinrich Bölls Frühwerk zitierte. Er schenkte meiner Mutter zum Abschied einen Strauß Rosen und die Monografie über sowjetischen Außenhandel, die sie für ihn zusammen mit zwei anderen Assistenten geschrieben hatte. Auf dem Deckblatt stand: »Für die kluge Aljona Grinbaum, das Licht unseres Instituts, die bestimmt bald besser Deutsch kann als wir alle zusammen!«

Jetzt saß meine Mutter also Tag für Tag auf dem großen roten Sofa, rauchte ihre langen, dünnen Kim -Zigaretten, blätterte in ihren russischen Büchern und legte stundenlang in der Küche Patiencen. Oder sie stand im Wohnzimmer am Fenster und betrachtete das riesige fensterlose schiefergraue Postgebäude gegenüber, das dort irgendwann in den Siebzigern hingestellt wurde, statt dieser drei herrlichen Stadtvillen, denen vorher nicht einmal der Krieg etwas anhaben konnte. In einer der Villen war in den fünfziger Jahren der Rowohlt Verlag gewesen, vor dem großen Umzug nach Reinbek. Das wusste ich schon als Schüler, weil ich früh anfing, durch die Antiquariate des Univiertels zu ziehen und dort Bücher zu klauen – und weil auf den Postkarten, die manchmal noch in den alten Rowohlt-Bänden steckten, damit Leser sie mit Wünschen und Beschwerden an den Verlag zurückschicken konnten, die Adresse Bieberstraße 14 stand. Schon wieder ein Zufall, der interessanter war, als ich es wollte, ich weiß.

Jedenfalls hatte meine Mutter gerade einen besonders schweren und ziemlich hartnäckigen Anfall von Katschmorian-Blues, wie sie mir bei unseren immer länger werdenden Telefongesprächen erzählte. Ich hörte ihr zu, guckte auf den Fernseher, der ohne Ton lief, oder spielte ganz leise Gitarre – und fragte mich, ob sie nicht jemanden anders zum Reden hatte. Statt aber für ein paar Tage zu ihr zu fahren, sie ein bisschen zu trösten und ihre Hand zu streicheln, um sie danach wieder mit ihrer Wut und ihrer Einsamkeit allein zu lassen, hatte ich bald eine bessere Idee, wie ich ihr helfen könnte, ohne für eine solche sinnlose Reise Zeit und Konzentration zu opfern. Einer meiner Paris-Bar-Freunde – ein sympathischer Deutscher, der manchmal sehr cholerisch sein konnte und schon mit Mitte zwanzig eine kleine Erfolgsstory als Autor einer Trilogie über einen halbmarokkanischen Privatdetektiv hinter sich hatte – erzählte mir, dass er mit der Tochter eines früheren Russlandkorrespondenten der Zeit auf die Odenwaldschule gegangen war. Sie arbeitete inzwischen beim Rowohlt Verlag und konnte angeblich Russisch. Und weil ich drei Jahre vorher mein erstes Buch veröffentlicht hatte und nichts und niemanden fürchtete, außer vielleicht einer unbekannten, tödlichen Krankheit, rief ich sie einfach an und fragte sie, ob sie sich nicht die Erzählungen meiner Mutter angucken könnte. Was ist, dachte ich, wenn sie ihr einen Vertrag gibt? Dann würde meine undisziplinierte Mutter endlich anfangen, wirklich zu schreiben – und hätte auch noch weniger Zeit, traurig zu sein und mit mir zu telefonieren.

»Wie lange schreibt Ihre Mutter?«, sagte die alte Mitschülerin meines Paris-Bar-Bekannten, nachdem ich mich vorgestellt hatte. Sie musste ungefähr so alt sein wie ich, und sie klang ein bisschen erschrocken.

»Ich glaube«, sagte ich, »sie schreibt schon sehr lange.«

»Dann haben Sie ja Ihr Talent von ihr.«

»Von meinem Vater nicht.«

»Wir waren früher in Moskau«, sagte sie, »fünf oder sechs Jahre. Aber dann ging mein Vater nach Washington, und ich musste aufs Internat.«

»Sie hat ab und zu eine Geschichte geschrieben. Also immer, wenn sie Zeit hatte. Es sind zusammen vielleicht fünfzig oder sechzig Seiten, mehr nicht, sie hat sie mir alle vorgelesen.«

»Sie waren bestimmt auf einer ganz normalen Schule«, sagte sie plötzlich geistesabwesend, als hätte sie mir nicht zugehört.

»Schule Nr. 103, Odessa, dann Kaiser-Friedrich-Ufer-Gymnasium in Hamburg.«

»Ich war in Moskau auf so einer schrecklichen Diplomatenschule, und wie es auf der OSO war, können Sie sich ja vorstellen. Das hat Ihnen Emil bestimmt tausendmal erzählt.« Sie kicherte, nicht verrückt, eher selbstironisch, aber trotzdem war mir dieses hohe, reißende Geräusch peinlich. Dann sagte sie: »Es gibt ganz oft Leute, die ein Leben lang ein einziges Buch schreiben und nie fertig werden. Damit muss man sich abfinden.«

»Emil?«

»Ach so, Entschuldigung«, sagte sie, »seit er schreibt, hat er sich einen arabischen Vornamen zugelegt. Abdil ist doch arabisch, oder?«

»Meinem Vater hat meine Mutter ihre Geschichten auch vorgelesen«, sagte ich, »und er findet sie auch sehr gut. Obwohl sich die beiden eigentlich hassen.«

Die Rowohlt-Frau antwortete lange nicht, dann seufzte sie leise.

»Ich finde«, sagte ich, und ich war ganz ehrlich, »das Russisch meiner Mutter klingt wie das Russisch von Zwetajewa oder Tschechow oder so.«

»Wissen Sie, wie er überhaupt auf die Idee mit seinem komischen Detektiv gekommen ist?«, sagte sie.

»Nein, keine Ahnung.«

»Er ist in der zwölften für ein paar Monate abgehauen, weil er in Frankfurt eine marokkanische Freundin hatte. Sie war viel älter als er. Und dann war es wieder zu Ende, und er musste zurück in die OSO . Der Arme.«

Jetzt schwieg ich, weil ich nicht mehr wusste, was ich sagen sollte.

»Ich würde mich freuen«, sagte die Lektorin plötzlich laut, mit einer völlig veränderten, klaren Stimme, »wenn Ihre Mutter mir bald ihre Geschichten schicken könnte. Sie soll sie aber nicht vorher übersetzen lassen, bitte. Sie darf sie auf keinen Fall übersetzen!«

Sechs Monate später hatte meine Mutter einen Vertrag – sieben Tausend Euro, Abgabe im Frühjahr oder Herbst 2003 –, und ich hatte für eine Weile meine Ruhe.