15.

Martha Neustadts Mutter Jeanette war ein elternloses jüdisches Mädchen, das im Krieg von einem schwäbischen oder vielleicht auch von einem hessischen Ministerialbeamten versteckt wurde, das weiß ich nicht mehr genau. So lange sie von ihm noch nicht schwanger war, schlug er sie fast jede Nacht mit einem abgeschnittenen Gartenschlauch auf den Bauch oder auf den Rücken und holte sich dabei einen runter. Nachdem Martha geboren wurde, machte er weiter, wo er angefangen hatte. Jeanettes Unglück endete erst, als er am letzten Kriegstag ein paar Stunden zu früh am Rathaus seiner Stadt eine weiße Fahne aufhängte, um die schnell vorrückenden Amerikaner zu begrüßen, worauf er von seinem Vorgesetzten erschossen wurde.

Als Kind und später auch noch als junge Erwachsene musste Martha Neustadt – Mamas Nachbarin aus dem zweiten Stock, richtig – immer bei ihrer Mutter Jeanette im Bett schlafen. Die Mutter umarmte sie dabei fest von hinten und blies ihr oft stundenlang ihren heißen, unregelmäßigen Atem in den Nacken oder ins Ohr. Manchmal wachte die Mutter auf und schrie kurz, mit einer tiefen, nicht ganz menschlichen Stimme, danach schlief sie wieder ein, aber Martha blieb bis zum Morgen wach.

Damals lebten die beiden noch in der schwäbischen oder hessischen Stadt, in der Jeanette aufgewachsen war, und wo sie im Bett des sadistischen NSDAP -Mannes den Weltuntergang überlebt und 1943 oder 1944 Martha geboren hatte. Die Leute aus ihrem alten Viertel, die am Ende des Kriegs fast alle verstanden hatten, dass Hitler nur ein entlaufener Patient aus einem Irrenhaus war, freuten sich, als sie kurz nach der Ankunft der amerikanischen Soldaten Jeanette – nun mit einem Kinderwagen – auf ihren Straßen, in den Parks und Geschäften wiedersahen. Sie waren meistens sehr freundlich zu ihr, sie fragten sie, wie es ihr ging und ob sie ihr helfen könnten. Nach ihren Eltern fragte sie niemand, keiner wollte wissen, wo sie während des Kriegs war. Und sie selbst wollte auch nichts wissen. Es war ihr egal, was aus den Möbeln, der Sammlung barocker Stiche ihres Vaters oder aus dem Bechstein-Klavier geworden war, auf dem sie viele Jahre Unterricht gehabt hatte, und ihre Eltern, die angeblich in Theresienstadt oder in Auschwitz gelandet waren, suchte sie auch nie.

Irgendwann im Sommer 1945 – es war der heißeste Sommer seit Jahren – lag Jeanette im Schwimmbad der Stadt auf einer großen, noch ganz leeren Wiese und las in der freundlichen Vormittagssonne ein Buch, das sie in der Wohnung ihres bösen Beschützers gefunden hatte, wo sie immer noch wohnte. Neben ihr lag das Baby auf einer Decke und schlief. Manchmal sah sie es kurz hasserfüllt an, aber dann schüttelte sie – wie jemand, der einen unangenehmen Gedanken verscheuchen will – heftig den Kopf und las weiter. Plötzlich tauchte über ihr der Schatten eines Mannes oder einer Frau auf, das wusste sie nicht, weil sie minutenlang weiterlas und hoffte, dass der Schatten wieder verschwinden würde. Aber er bewegte sich nicht und sagte schließlich mit einer tiefen Frauenstimme: »Wir wissen genau, von wem dein dreckiger Wechselbalg ist. Hau ab, solange du noch Zeit hast!« Dann zog sich der Schatten wieder zurück. Jeanette hob erst Minuten später vorsichtig den Kopf. Die Wiese war leer, und sie merkte, dass ihre Beine so heftig zitterten, als gehörten sie nicht zu ihr. »Es wäre besser, er hätte mich damals mit seinem Gartenschlauch totgeschlagen«, flüsterte sie, »dann müsste ich nicht mehr hier sein.«

Seit ich Marthas – und Jeanettes – Geschichte kannte, musste ich oft an Martha denken, meistens, während ich in Hamburg war oder wenn ich nach einem Besuch bei meiner Mutter wieder nach München oder nach Berlin zurückkam. Ich dachte an ihre weiße Bluse, die sie so weit offenließ, dass man den Ansatz ihrer flachen schönen Brüste sehen konnte, an diese roten, glühenden Wangen eines ewigen Mädchens, an den erschrockenen Ausdruck in den schwarzen Augen, an die oft scheinbar gefügig geöffneten Lippen, die immer ein bisschen feucht waren. In Hamburg traf ich sie praktisch jedes Mal – weil sie jahrelang abends mit ihrer eigenen Flasche Rotwein zu meiner Mutter runterkam und erst ging, wenn sie leer war. Sie guckte mit meiner Mutter fern, sie spielten manchmal Backgammon oder Mama versuchte ihr beizubringen, wie man Patiencen legte. Oder sie unterhielten sich über Mamas russische Dichter, die Martha auch alle kannte, über Mamas Erzählungen und literarische Pläne, über die böse Jeanette, wegen der Martha lange keine Jüdin sein wollte, über die Nelly-Sachs-Loge – und über Marthas eigenen Roman, den sie schon mit Anfang zwanzig angefangen hatte zu schreiben.

Von dem Wein – meine Mutter trank natürlich nie mit – wurden Marthas rote Wangen im Lauf des Abends seltsamerweise nicht noch röter, sondern bleicher, bis sie ganz weiß waren. Dann stand sie jäh auf und ging, ohne Aufwiedersehen zu sagen, wieder zu sich nach oben in den zweiten Stock. Wenn ich da war, blieb sie aber oft noch ein bisschen länger. Zuerst wollte sie kaum mit mir sprechen, später antwortete sie mir in immer längeren, gewundeneren Sätzen, wenn ich sie etwas fragte, und rutschte auf dem riesigen Sofa, auf dem wir zu dritt nebeneinander saßen, langsam zu mir. Plötzlich rutschte sie erschrocken wieder weg, und als sie merkte, dass ich das merkte, kam sie noch näher. Vor dem Einschlafen – hinten, in meinem alten Zimmer, in dem neuen breiten Gästebett, das noch meine Eltern zusammen für die vielen Besucher gekauft hatten, die eine Zeitlang immer aus Russland zu ihnen kamen – fiel mir wieder Marthas weiße Bluse ein. Ich dachte an ihre helle, mit nervösen roten Flecken bedeckte Haut, an die Schläge, die sie von ihrer Mutter und ihre Mutter von ihrem deutschen Sadisten bekommen hatte, und dann wollte ich Martha auch verprügeln und dabei mit ihr schlafen.

Wann Jeanette Neustadt angefangen hatte, Martha regelmäßig mit einer abgeschnittenen Wäscheleine zu schlagen, weiß ich nicht genau. War es an dem warmen Tag im Juli oder August 1945, als Jeanette im Schwimmbad ihrer Stadt daran erinnert wurde, dass das nicht mehr ihre Stadt war? Hingen die Schläge mit Jeanettes wiederkehrenden Depressionen zusammen? Oder begann sie erst ihre Tochter zu misshandeln, als Martha nicht mehr mit ihrer Mutter in einem Bett schlafen wollte?

Viele Jahre später – sie waren inzwischen nach Hamburg umgezogen, wo Martha studierte und Jeanette den ganzen Tag zu Hause saß und auf sie wartete – schlug Martha zurück. Nur ein einziges Mal und auch nur leicht, fast zu vorsichtig, aber das reichte, damit Jeanette sie endlich in Ruhe ließ. Als Jeanette am nächsten Tag zu ihr sagte, das hätte sie früher tun sollen, damit sie selbst endlich damit aufhörte, hätte Martha sie am liebsten blau und grün geprügelt. Stattdessen stand sie vom Küchentisch auf, an dem sie wie jeden Abend schweigend zusammen kalte Brote mit Leberwurst, Käse und klein geschnittene Gewürzgurken aßen. Sie ging zu ihrer Mutter, nahm sie in den Arm und sagte: »Mutter, kannst du bitte ein einziges Mal im Leben weinen?« Aber Jeanette schüttelte nur stumm den Kopf. Ein paar Monate später fuhr am Eppendorfer Baum ein verwirrter Greis mit seinem Mercedes auf den Bürgersteig und beendete damit Jeanettes Qualen. Und auch die von Martha, zumindest ein wenig.

Das alles – und noch viel mehr – wusste ich von meiner Mutter, die mir immer wieder von Martha erzählte. Als sie mich dann auch noch eines Tages gebeten hat, Marthas Manuskript zu lesen und ihr mit einem Verlag zu helfen, merkte ich gleich beim ersten Durchblättern, dass es das Buch ihres Lebens sein sollte, so wie es viele ein Leben lang schreiben. Martha hatte mir fast dreihundert eng bedruckte Seiten mit der Post geschickt, außerdem steckte in dem Kuvert aus braunem dicken Papier eine Postkarte mit Munchs Schrei, auf deren Rückseite sie geschrieben hatte: »So wird es mir gehen, wenn du mir sagst, dass ich es vergessen soll, lieber Mischa! Bitte, hilf mir. P.S. Suhrkamp vielleicht?« Nein – leider nicht. Martha erzählte in den gleichen langen, gewundenen Sätzen, die ich von unseren Gesprächen in der Bieberstraße kannte, von einer jüdischen Frau aus der Provinz, die so geworden war, wie sie wurde, weil in Deutschland zwölf Jahre lang Gileads Armee an der Macht war. Die langen Sätze endeten oft im Nichts, kein Kapitel war wirklich zu Ende geschrieben, die Prügelszenen, auf die ich mich sogar ein bisschen gefreut hatte, waren nur vorsichtig angedeutet.

»Es gefällt mir sehr gut«, sagte ich zu Martha, als wir viele Wochen, vielleicht auch erst zwei, drei Monate später telefonierten.

»Ich dachte schon, es hat dir nicht gefallen«, sagte sie nach einer kurzen Pause, wobei ihre brüchige, leise Stimme so klang, als würde sie gleich völlig versagen, »und dass du mich gar nicht mehr anrufen würdest.«

»Doch, natürlich«, sagte ich.

»Das glaube ich dir nicht.«

»Warum nicht?«

»Erzähl mir, was dir am besten gefallen hat.«

Am liebsten hätte ich gesagt: Nicht einmal die Stellen mit dem verrückten Nazi! Aber stattdessen sagte ich: »Das klingt alles wie ein großes, böses Märchen. Das ist es ja auch bestimmt gewesen.«

Martha dachte eine Weile nach. »Du hast es gut«, sagte sie plötzlich völlig zusammenhanglos, »du hast eine zärtliche Mutter.«

»Ja, das stimmt.«

»Die immer für dich da war –«

»Ich kenne tatsächlich jemanden bei Suhrkamp«, unterbrach ich sie schnell, statt ihr zu widersprechen, was ich eigentlich hätte tun sollen, »es ist einer von diesen alten Typen, die noch bei der Hitlerjugend waren und darum alles besser machen wollen. Dem schicke ich dein Manuskript. Du wirst sehen, das wird super.«

»Danke«, sagte sie noch leiser als davor und legte auf.

Nachdem ich kurz reglos, ohne an etwas zu denken am Schreibtisch gesessen hatte, klappte ich Marthas Manuskript zusammen, schob es mit der Munch-Postkarte in den braunen Umschlag und warf alles in den Papierkorb. Dann wählte ich die Nummer meiner Mutter und sagte zu ihr, dass ich Martha nicht helfen könne. »Doch, das musst du, mein Sohn«, sagte Mama ernst und erschrocken, »sie hat den bösen Blick. Mach es für mich, bitte. Sie wird mir sonst sehr schaden.«

Als ihr eigenes Buch erschien, fragte mich meine Mutter, was mit Suhrkamp sei, sie hätten sich doch schon längst bei Martha melden müssen.

»Keine Ahnung«, sagte ich, »ich werde noch mal fragen.« Das war natürlich gelogen.