19.

An einem grellen, sonnigen Frühlingstag im April 2007 las meine Mutter in Hamburg in der Nelly-Sachs-Loge aus ihrem Buch. Das war fünf oder sechs Monate nach ihrem Auftritt in Berlin im Literaturhaus, aber diesmal war ich nicht da. Später schickte sie mir – zusammen mit einem Artikel aus dem Hamburger Abendblatt, in dem sie sehr diplomatisch für ihren »unermüdlichen, langen Vortrag« gelobt wurde – ein paar Fotos von Martha und ihr vor dem Café Abigail, dessen Fenster hinter ihnen in der Frühlingssonne so schön glänzten, dass ich es fast bereute, dass ich nicht gekommen war. Mama war natürlich vorher beim Friseur gewesen, sie war ausnahmsweise sehr stark geschminkt und trug den wuchtigen braunen Pelz, den sie vor dreißig Jahren aus Odessa mitgebracht hatte. Auf den Bildern wirkte sie noch kleiner und wehrloser als sonst, weil die riesige Martha neben ihr einen ihrer langen, dünnen Arme um Mamas Schultern gelegt hatte und sie so immer weiter herunterzudrücken schien.

»Hast du meinen Brief mit den Fotos bekommen?«, sagte Mama, als sie mich ein paar Tage später anrief.

»Es tut mir leid«, sagte ich, »mir geht es zur Zeit nicht gut.«

»Immer noch die Hände?«

»Ja.«

»Aber du warst doch schon bei so vielen Ärzten.«

»Ja.«

Sie schwieg. Dann sagte sie weich: »Vielleicht solltest du mit einer anderen Sorte von Ärzten sprechen, Mischa. Und schrei mich jetzt nicht gleich an. Es gibt Leute, denen hilft das.«

Ich dachte wütend daran, wie ich ihr in den letzten Monaten immer wieder vergeblich von der Sache mit den Händen erzählt hatte – von den erst ganz leichten Schmerzen, über die ich mich aber gleich so erschrocken hatte, dass ich zu einem Orthopäden ging, der mir den Rat gab, ein paar Wochen nicht den Laptop zu benutzen, damit es nicht noch schlechter wurde. Und er schickte mich zu einer Physiotherapeutin, die meine Unterarme in Schlamm legte, sie viel zu grob massierte und mir Horrorgeschichten über Leute mit den gleichen Beschwerden erzählte. Meine Mutter hatte sich das alles immer stoisch angehört, sie sagte aber nie: »Soll ich kommen?« Sie sagte immer nur: »Ich würde dir so gern helfen, wenn ich nur irgendwie könnte!« Schließlich sagte sie, dass alles gut wird, worauf ich erwiderte, es könnte ja auch noch schlechter werden, und dann sagte sie eigentlich nichts mehr. Nur einmal seufzte sie und stieß aus: »Warum habe ich dich nicht ein bisschen fröhlicher geboren?«

Die Lesung in der Nelly-Sachs-Loge, wegen der sie mich eigentlich angerufen hatte, war nicht besonders gut gelaufen. Es waren nur zwanzig oder dreißig Leute gekommen, und es wollte hinterher fast niemand ein Buch kaufen. »Die Hälfte waren die neidischen Weiber aus unserem Haus«, sagte meine Mutter mit einem leisen, ungewöhnlich giftigen Kichern ins Telefon, »und die hatten mein Buch ja schon alle von mir bekommen.« Martha, die meine Mutter persönlich und schon ein ganzes Jahr vorher eingeladen hatte, stellte sich am Anfang direkt vor sie auf die kleine Bühne und redete fast so lange, als wäre das ihre eigene Lesung. Das Buch meiner Mutter erwähnte sie nur mit ein paar Sätzen. Lieber sprach sie über die Loge, mit der sie an die jüdische Geschichte des Grindelviertels erinnern wollte, wie sie sagte, und dabei kam sie schnell zum »erstaunlichen« Salon von Rahel Varnhagen, ihrer »Schwester im Geiste«, die im Berlin des 18. Jahrhunderts so mutig war, offen ihre Meinung zu sagen und auch sonst nicht mehr so mittelalterlich verkleidet herumzulaufen und vor den Männern herumzubuckeln wie die anderen Jüdinnen damals.

»Was heißt hier ›mittelalterlich‹?«, sagte meine Mutter jetzt zu mir.

Ich dachte kurz nach. »Wo war eigentlich ihr Mann, als sie das sagte?«, sagte ich.

»Erik?«

»Ja, der lange, dünne Erik.«

»Er saß in der ersten Reihe und nickte.«

»Ich glaube, das muss der Dibbuk ihres Nazivaters gewesen sein, der aus der kleinen Marthale gesprochen hat«, sagte ich, und wir lachten.

Danach erzählte sie mir, immer noch lachend, wie Martha einfach nicht aufhören wollte zu reden. Nach der Varnhagen-Story ging es um ihre Mutter, die sie mit zitternder Stimme eine »wahre Überlebende« nannte, es ging um Marthas Traum, die zerstörte Portugiesische Synagoge am Bornplatz wiederaufzubauen, um ihren eigenen Roman, der angeblich bald bei einem sehr großen Verlag erscheinen werde – dem »wichtigsten Verlag Deutschlands!«

»Als sie endlich fertig war«, sagte meine Mutter, »waren die meisten schon eingeschlafen. Die anderen schliefen ein, als ich gelesen habe.«

»Das glaube ich nicht«, sagte ich.

»Du hast doch gesehen, was im Abendblatt stand.«

»Ja, Mama.«

»Na also.«

Ich dachte jetzt – war mir langweilig oder hatte ich langsam genug von Mamas literarischen Leiden? – an die junge Deutsche, die ich vor ein paar Wochen im Literarischen Colloqium bei einer Diskussion über W.G. Sebald und seine falschen Emigrantengeschichten kennengelernt hatte. Sie machte dort ein Praktikum, aber vielleicht war sie auch als Zuhörerin da, das habe ich nicht genau verstanden. Sie hatte fast gewalttätig lange, rot lackierte Fingernägel, ein bisschen zu dünne Beine, dunkelbraune glänzende lange Haare und lauter unverständliche Ansichten, wenn es um Literatur und Politik ging. Wenn wir miteinander schliefen, weinte sie manchmal danach, aber nicht, weil es ihr nicht gefallen hätte. Und sie lachte über jeden meiner Witze. Leider wollte meine neue Bekannte nicht oft mit mir zusammen sein, aber wenn sie zu mir kam, blieb sie gleich zwei oder drei Tage, und das gefiel mir auch nicht.

»Warum bist du nicht nach Hamburg gekommen? Was bist du für ein Sohn?«, sagte meine Mutter plötzlich. Es klang nicht so, als ob sie sich nur über mich lustig machte.

Ich hatte mich während unseres Gesprächs ans Fenster meines Arbeitszimmers gestellt und einem riesigen grauen Raben, der die gleichen spöttischen Gesichtszüge wie der junge Leonid Utjesssow hatte, dabei zugesehen, wie er unten auf der Kantstraße von einem Auto zum anderen hüpfte und ab und zu klug und frech zu mir hochsah. Eigentlich wollte ich noch weiter an die schöne Deutsche denken – ich hatte mir gerade vorgestellt, wie sie mit dem nackten Rücken vor mir auf dem Badezimmerboden kniete –, und als ich jetzt Mamas Stimme und Vorwürfe im Telefon hörte, reagierte ich zuerst nicht, weil ich weiter versuchte, das schöne Badezimmerbild festzuhalten. Am liebsten hätte ich zu ihr gesagt: Und wann warst du das letzte Mal bei mir, Mama? Aber stattdessen erzählte ich ihr noch einmal, schon fast mechanisch, von meinen Händen und von den extremen Katschmorian-Gefühlen, die ich deshalb hatte. Und die vielleicht auch schon vorher da waren und mich in Wahrheit krank gemacht hatten.

»Ich glaube, ich hätte in München bleiben sollen«, stieß ich aus, überrascht von den eigenen Worten, »dort ging es mir besser.«

»Du hast alles vergessen, maltschik «, erwiderte meine Mutter. »Weißt du nicht mehr, wie dir dort einmal monatelang schwindlig war und die Ärzte nichts fanden?«

»Doch«, sagte ich, und ich dachte daran, dass sie damals auch nicht zu mir gekommen war.

»Ich weiß, was du jetzt denkst«, sagte sie.

»Was?«

»Dass ich Martha nicht mehr ins Haus lassen sollte.«

»Ja, das stimmt«, log ich. Gleichzeitig drehte sich die Nackte auf dem Badezimmerboden zu mir um – und es war Martha.

Ich habe den Brief mit den Fotos von Mama und Martha und dem Artikel über ihre misslungene Lesung im Abigail noch irgendwo. Ich habe ihn vor ein paar Wochen lange gesucht, damit ich daraus zitieren kann, aber leider habe ich ihn nicht gefunden. Wahrscheinlich liegt er bei dem Kompass meines Großvaters, der ja auch schon vor Jahren verschwunden ist. Es wäre wirklich sehr interessant für mich, diesen Brief mal wieder zu lesen, denn natürlich habe ich mich schon oft gefragt, warum Mama ihn mir damals geschickt hat, während sie so viele andere Briefe an mich für immer in ihrem Sekretär versteckte. In ihnen ging es sehr viel um mich, denke ich gerade, und vielleicht wollte sie mich nicht mit zu viel Aufmerksamkeit verwöhnen.

»Wir hätten in Odessa bleiben sollen«, sagte meine Mutter, bevor wir auflegten, »dort ginge es dir wirklich viel besser.«

»Meinst du?«

»Ja, natürlich«, sagte sie, »und mir auch. Mir sowieso. Ich bin sicher.«

Der Rabe sprang vom Dach eines kleinen gelben Sportwagens auf die Straße, aber bevor ihn ein riesiger weißer LKW überrollen konnte, machte er einen Satz zur Seite und flog in den abendlich roten Berliner Frühlingshimmel.