23.

Als ich diese Erzählung im Sekretär meiner Mutter fand und sofort las – sie hieß Neue Freunde  –, erinnerte ich mich das erste Mal seit Jahren wieder an die Silvesterkatastrophe 1977, nach der sich für mich so viel verändert hatte, was mir aber erst im Lauf der Jahre klar wurde. Meine Mutter hatte die Sache genauso erzählt, wie sie passiert war. Aber sie hatte nicht erwähnt – oder es absichtlich weggelassen –, dass ich, »der Sohn« aus der Geschichte, wegen der fürchterlichen Neujahrsparty den meisten Menschen in meinem neuen Land nie mehr wirklich getraut habe, auch wenn das vielleicht ungerecht war. Ich ging nach der Schule wieder allein nach Hause, ich saß allein in den Kaffeestuben am Grindelberg, wo es immer so fremdartig nach Karottenkuchen, Polenta und billigem holländischem Tabak roch, ich las auf Russisch Babel und die Zwölf Stühle und verachtete die jungen Deutschen an den Nebentischen mit ihren fleckigen Hesse- und Verena-Stefan-Bändchen. Ich hatte auch keine Lust mehr, solche Mädchen zu berühren, die zusammen mit ihren Jungs unsere Wohnung und unsere geliebte Bieberstraße verwüstet hatten, ich wollte nicht bei ihnen übernachten und mit ihren ernsten Familien am Sonntagmorgen frühstücken.

Lieber stand ich nächtelang allein und schlecht gelaunt im Billardzimmer der Bierstube Gantz in der Grindelallee, legte irgendwann mein Markstück unter die Bande, wartete, bis ich dran war, um gegen den letzten Gewinner zu spielen und so lange weiterzumachen, bis ich gegen einen anderen verlor. Dann war es meistens schon zwei oder drei Uhr nachts, und ich konnte ins Bett gehen. An der Ecke Bornstraße und Grindelhof musste ich, ohne mich mit den Händen abzustützen, mit gespreizten Beinen über einen einsamen Absperrpfosten springen, das hatte ich mit mir selbst so ausgemacht. Ging alles gut, verschwand meine Traurigkeit schnell, und ich schlenderte, neugierig auf den nächsten Tag, durch die Nacht nach Hause, wo Mama auf dem roten Sofa saß und auf mich wartete. Als ich sie fragte, warum sie immer noch wach war, legte sie ihr Buch weg und ging, ohne mir einen Vorwurf zu machen, ins Bett.

Eigentlich springe ich noch immer über den schiefen Poller in der Bornstraße Ecke Grindelhof – wenn ich einen traurigen Emigrantenroman nach dem anderen schreibe, wenn ich in einem Interview mal wieder etwas Respektloses über Novalis oder Handke sage, wenn ich bei einem Abendessen oder in der Paris Bar – vorne rechts auf der Lederbank für die Stammgäste – einem Menschen, den ich noch nie vorher gesehen habe, mit sechs, sieben Fragen so tief in die Seele eindringe, wie es nicht einmal seine besten Freunde tun würden. Dabei frage ich mich oft, ob es auch diesmal wieder gut gehen wird und ich keine Ohrfeige kriegen werde – aber bisher ist noch nie etwas passiert.

Neulich saß ich zum Beispiel in einer halbleeren Wohnung ganz oben in dem DDR -Turm am Hackeschen Markt mit ein paar Leuten von der FAZ , und wir redeten bei Peking-Ente und Wantansuppe vom Restaurant Jolly am Kupfergraben darüber, wie wenig sie damit einverstanden waren, was sie selbst schrieben. Ich hörte ihnen kaum zu und erinnerte mich an die amerikanische Türkin von der Max-Hetzler-Galerie – langes Vogelgesicht, sehr kleine Brüste –, mit der ich einige Monate vorher in diesem Haus ein paar flüchtige Küsse getauscht und ewig darüber geredet hatte, warum sie von Berlin so enttäuscht war.

Dann hörte ich plötzlich, wie einer der Journalisten am Tisch sagte, sie könnten als Deutsche nie etwas richtig machen, egal, wie sehr sie versuchten, die andere Seite zu verstehen. Er war ein großer, blonder Mann mit halblangen, schon langsam ausfallenden Haaren, einem intelligenten, charmanten Gesichtsausdruck und einer donnernden Stimme.

»Kennst du Damals in Odessa von Heinrich Böll?«, sagte ich zu ihm.

Er nickte überrascht.

»Es ist eine unglaublich gute Geschichte«, sagte ich, »findest du nicht?«

»Ich weiß nicht«, sagte er, »ich habe sie das letzte Mal in der Schule gelesen.«

»Bist du nicht selbst auch aus Odessa?«, sagte ein anderer. Er sah genauso grau und schwermütig aus wie die vielen Hausmeister beim Spiegel in Hamburg, die ich in meinem Leben schon gesehen habe, trug immer zu große billige graue oder schwarze Pullover und zog seine weiten Hosen über den Bauchnabel.

»Ja, das bin ich«, sagte ich, »und der Soldat in der Geschichte betrinkt sich mit seinen Freunden genau in dem Viertel, wo früher mein Großvater gewohnt hat. Er ist sehr traurig, weil er am nächsten Tag auf die Krim fliegen muss, wo er sterben wird.«

»Ja, genau, fantastisch«, sagte der Blonde donnernd.

»Und was ist das Problem?«, sagte der Zweite.

»Dass in der traurigen Böll-Geschichte mit keinem Wort die Leute erwähnt werden, die einmal in diesem Viertel gewohnt haben und ein paar Monate vorher von anderen traurigen deutschen Soldaten erschossen oder verbrannt wurden.«

Beide guckten mich stumm und entsetzt an, der Blonde presste seine ohnehin dünnen Lippen zusammen, der schlecht Angezogene riss die Augen auf. Dann sagte er: »War Odessa nicht von den Rumänen besetzt? Die müssen dort besonders schlimm gewütet haben.«

»Vielleicht könnt ihr die andere Seite gar nicht verstehen«, sagte ich. »Darum seid ihr so unglücklich.«

Sie sahen beide weg, wie Hunde, die beim Wühlen in einem Mülleimer erwischt wurden, statt auf mich mit Händen und Füßen loszugehen, und ich beschloss zufrieden, nach dem Essen bei der amerikanischen Türkin zwei Stockwerke tiefer zu klingeln, vielleicht würde sie diesmal weniger reserviert sein.

Was ich eigentlich sagen wollte: Es ist wirklich sehr schade, dass Mamas letzte gute Erzählungen nicht mehr erschienen sind, vor allem Neue Freunde und die KGB -Backgammon-Story hätten es verdient. Für ein Buch gab es nicht genug Geschichten, das war mir immer selbst klar, aber wenn ich jemanden von einem Verlag fragte, ob er nicht wenigstens etwas Kurzes aus dem Nachlass meiner Mutter in seiner Zeitschrift oder in einer Anthologie abdrucken wolle, bekam ich entweder keine Antwort. Oder er schrieb mir: »Schöne Geschichten, aber es reicht nicht, dass sie deine Mutter war. Bei einem Roman wäre das vielleicht etwas anderes.«

Darum habe ich einmal sogar überlegt, unter Mamas Namen etwas Längeres zu schreiben und mich hinterher zu freuen, wenn so ein Buch erscheinen würde. Ich hatte auch schon eine Idee und machte mir ein paar Tage lang Notizen – bis ich merkte, dass mich der Hass meiner Mutter auf meinen Vater und auf seine große Israellüge, die sie zuerst die Heimat und dann das Leben kosten sollte, gar nichts anging. Und dass ich ihr dieses Thema natürlich nicht wegnehmen durfte, obwohl sie selbst nicht mehr darüber schreiben konnte, weil sie inzwischen so tot wie ein Stein auf dem Jüdischen Friedhof in Ohlsdorf lag – keine fünfzig Meter vom gierigen Lassik entfernt, hinter ein paar dichten, im Frühling und Herbst blutrot blühenden Rhododendronbüschen.

Mein Vater würde später aber ganz woanders liegen. Das hatte er mir selbst bei unserem einzigen und letzten Treffen in seinem Haus in Othmarschen erzählt, nachdem ich ihn so wütend angeschrien habe wie noch nie jemanden vor ihm: In der alten Heimat natürlich, auf der südlichen, von morgens bis abends in der Sonne kochenden Südseite des Ölbergs in Jerusalem.