24.

»Gestern war Martha wieder bei mir«, schrieb mir meine Mutter am 23. Februar 2009 in einem der Briefe, die sie nie abschickte, »und sie wollte den ganzen Abend nicht gehen. Sie hat mir mal wieder die ganze Geschichte ihrer Mutter erzählt, und dann hat sie mich wegen deines Vaters ausgefragt, weil sie ihn ein paar Tage vorher im NDR -Magazin gesehen hat. Er ist jetzt der Chef der Deutsch-Israelischen Gesellschaft in Hamburg, das wusste ich gar nicht, ich glaube, sie haben ihn zum Gazakrieg interviewt. Sie meinte, er wäre älter geworden und schlanker und würde sich anders anziehen als früher, teurer, aber auch spießiger. Er hat jetzt eine kleine randlose Brille, meinte sie, und wegen seiner Glatze hat er sich die Haare ganz abrasiert, aber das stehe ihm sogar.

Ich werde diese Frau nie los! Sie wollte sogar wissen, ob Papa und ich uns noch sehen und warum ich allein geblieben bin und wie ich mir das vorstelle, wenn ich älter bin. Wenn ich eins von diesen kräftigen Weibern vom Privosmarkt wäre, hätte ich ihr eine solche Ohrfeige gegeben, die sie nicht mehr vergessen hätte. Aber ich habe nur gesagt: ›Ich bin schon älter, Marthachen, und noch geht es sehr gut.‹ Gut, oder? Bestimmt willst du das alles gar nicht wissen, synok, darum schreibe ich dir ja auch gar nicht. Eigentlich war die Idiotin nur da, weil sie wissen wollte, wann du uns endlich sagen kannst, ob du bei dem Film über mich mitmachst oder nicht. Sie will zuerst mit uns nach Odessa fliegen, von dort nach Moskau mit dem Zug fahren, und in Hamburg dreht sie den letzten Teil. Über Kasachstan hat sie nicht mehr geredet, wahrscheinlich wäre das zu teuer, aber ich dachte, wenn schon, denn schon, und dass ich ihr das später noch sagen werde. Nach ihrem Roman hat sie sich übrigens nicht mehr erkundigt. Oder hat sich Suhrkamp doch noch gemeldet? Ruf mich gleich an, wenn du diesen Brief bekommen hast. Ich küsse dich ganz fest! Deine schlechte Mutter.«

Wie gesagt, ich habe diesen Brief nie bekommen, und Mama und ich haben auch sonst selten über Marthas Film geredet, der am Ende nie gedreht wurde. Nur als sie das zweite und letzte Mal krank wurde, hat sie mich noch einmal direkt danach gefragt. Das war in Hamburg, nicht am Telefon. Ich hatte kurz die Arbeit unterbrochen, weil ich nicht weiterkam, und war darum zu ihr gefahren, aber schon als ich am Dammtor aus dem Zug ausstieg, bereute ich es, weil ich plötzlich einen neuen Einfall hatte.

Am gleichen Tag gingen wir wie so oft ins Block House am Grindelhof, das es heute nicht mehr gibt – dort ist jetzt ein schlechtes, teures Restaurant für Reiche, wo ich in den Tagen nach Mamas Beerdigung öfters allein Mittag gegessen habe. Mama hatte damals nur eine Fanta und eine Ofenkartoffel mit Quark bestellt, sonst nichts, die sie aber auch nicht ganz aufaß. Beim Essen fragte sie mich auf einmal, was ich gegen die Sache mit dem NDR -Film hätte, und sie war so direkt bei diesem Thema wie noch nie. Ob es daran liege, dass ich beim Verreisen immer komplizierter wurde? Ob ich Angst vor Odessa hätte, so wie sie? Oder ob ich ihr die große Bühne des Fernsehens nicht gönnte? Ja, ich glaube, das fragte sie auch, aber ich bin mir nicht mehr ganz sicher. Ich weiß nur noch, wie grau und brüchig die Haut in ihrem sonst so jungen Gesicht war, wie langsam sie sich bewegte. Und wie sie beim Rausgehen mit dem Ellbogen gegen die Restauranttür stieß, die ich ihr aufhielt, und dabei stumm vor Schmerz die Augen kurz schloss.

Nach dem Mittagessen gingen wir nicht gleich nach Hause, sondern kurz auf dem Campus der Universität spazieren, das hatte sie sich gewünscht. Wir bogen vom Grindelhof in die Hartungstraße ein, wo die Kammerspiele waren, deren Gästen ich früher immer in den Pausen auf dem Klavier etwas vorgespielt hatte. Dann gingen wir an der alten, roten, mit wildem Wein bewachsenen Post in der Schlüterstraße vorbei. Kaum standen wir vor der riesigen Sechziger-Jahre-Muschel des Audimax, wehte uns derselbe nasse, scharfe Wind ins Gesicht, der auf dem freien Universitätsgelände mit seinen wenigen Gebäuden und dem kleinen, traurigen Hochhaus in der Mitte immer wehte. Über uns kreiste, vor Langeweile laut schreiend, ein Schwarm Möwen.

Mama war hier oft – allein, aber manchmal auch mit Martha oder mit der inzwischen uralten Frau Lernet-Fabinger aus dem Erdgeschoss, die immer noch lebte und genauso runzlig und geduldig wie ein indischer Heiliger auf ihren Tod wartete. Sie wohnte in der Bieberstraße schon seit den dreißiger Jahren, fast so lange wie die inzwischen tote Hausbesitzerin, Frau Ould, und sie erzählte meiner Mutter einmal, dass auf dem heutigen Campus vor dem Krieg überall armselige dunkle Mietshäuser gestanden hätten, in denen die Dienstmädchen und Chauffeure der reichen Herrschaften aus dem Grindelviertel gewohnt haben. Und das erzählte meine Mutter jetzt mir.

»Eigentlich meinte sie ›reiche Juden‹«, sagte sie lachend, »aber sonst ist sie nicht mehr so giftig wie früher.« Dann stützte sie sich – von unserem Spaziergang und dem langsamen, heimtückischen KGB -Gift in ihrem Blut und in ihren Lungen völlig außer Atem – bei mir ab und sagte: »Glaubst du, ich denke, ich hätte einen solchen Film verdient? Ich bin doch nicht die Achmatowa.« Und dann: »Ich hab auch Angst, nach Hause zu fahren, Mischenka, so wie du! Ich weiß doch genau, wie es wird: Bestimmt wird Martha mit uns in die Gogolstraße gehen wollen und dort an der Tür unserer alten Kommunalka klingeln, wo jetzt irgendwelche kulturlosen Neureichen mit ihren ausgemergelten Siamkatzen und sechs Riesenfernsehern wohnen, in jedem Zimmer einer. Und wir werden für die Idiotin hundertmal die Potemkin-Treppe rauf- und runterlaufen müssen, sie scheucht uns mit ihrem Kamerateam zum Strand von Arkadia, und ich muss mit ihr in die alte Entbindungsklinik im Schewtschenko-Park – wenn es sie noch gibt –, vor der ich kurz vor deiner Geburt saß und ein kleines grünes Äpfelchen aß und auf meinen Arzt wartete, die Geschichte ist in meinem Buch. Und dann wird sie uns auch noch zu Djeduschka auf den Friedhof schleppen und zu seinem alten Haus in der Moldowanka. Und das« – sie holte kurz schwer Luft, bevor sie weitersprach – »halte ich nicht aus! Weißt du, moj maltschik, ich glaube, dein Großvater ist immer noch dort, überall, in jedem schiefen Pflasterstein auf der Deribasowskaja, in jedem Akazienbaum, in jedem Hustenkrampf der TBC -Kranken im Sommer, in den prallen kaukasischen Weintrauben der georgischen Händler und in den ewigen Todesschreien aller unserer Kriegstoten, und er wartet auf mich.«

Sie löste sich von mir, machte ein, zwei Schritte nach vorn, wurde von dem gewaltigen Wind fast umgeweht, hielt sich wieder an meinem Ellbogen fest und sagte: »Komm, lass uns auf die andere Seite der Uni gehen, zum Wirtschaftsinstitut, mal sehen, ob bei meinem alten Chef noch Licht brennt. Wenn er hier überhaupt noch arbeitet.« Erneut machte sie ein paar Schritte, diesmal so kräftig und schnell, als wäre sie plötzlich zwanzig Jahre jünger und gesund. Als ich sie eingeholt hatte, blieb sie stehen und schaute, so klein wie sie im Alter geworden war, zu mir hoch. »Ich hätte deinen Großvater nicht allein lassen sollen, als es mit ihm zu Ende ging. Versprich mir, dass du bei mir bist, wenn es so weit ist. Bitte!«

»Mama, hör auf«, sagte ich, »was redest du?«

»Ich rede und sage, was ich will«, sagte sie und ging, jetzt wieder müde und langsam, vorbei an dem kleinen Ententeich weiter in Richtung Abaton-Kino, an dem gerade die Lichter angingen, obwohl es erst drei Uhr nachmittags war.

»Wolltest du nicht nach deinem alten DKP -Professor schauen?«, rief ich ihr hinterher. Aber sie hörte mich nicht, weil die Möwen über uns jetzt völlig verrückt spielten.

Ein paar Monate später steckte in meinem Briefkasten in Berlin ein großes braunes Kuvert. Ich drehte es um – und mir wurde kurz schlecht. Auf der Rückseite stand, in großer, feiner Handschrift von beinah kalligrafischer Präzision, nur ein Name, mehr nicht: Martha Neustadt. Im Kuvert, das ich noch im Hausflur aufmachte, lagen ein neues Manuskript und ein Brief, in dem Martha nichts über ihren ersten Roman sagte und auch nichts über den Film, den sie mit uns machen wollte. Sie bat mich nur, ihr neues Buch zu lesen und ihr zu schreiben, wie ich es fand. Es ging, schrieb sie, um Bruno Gröning, einen der vielen Wunderheiler, die nach dem Krieg in Deutschland auftauchten und den seelisch und körperlich zerstörten Menschen halfen, über das Schlimmste hinwegzukommen. Ihre Mutter habe Gröning damals zufällig im Vorbeigehen gesehen, wie er sich im größten Hotel der kleinen Bezirksstadt auf den Balkon gestellt und Hunderte von Menschen mit starren Blicken, lauten Seufzern und dem Verteilen von Silberpapierkügelchen, in denen seine Haare und Nägel waren, glücklich gemacht habe. Erst habe sie darüber gelacht, aber dann habe sie ihn selbst aufgesucht, und wie es weiterging, erzähle sie, die Tochter, jetzt in ihrem Roman.

Wir werden diese Frau nie los, dachte ich, während ich den Brief und das Manuskript in den Umschlag zurückschob. Erst wollte ich ihn in den Abfalleimer werfen, der bei den Briefkästen stand – aber etwas hinderte mich daran.