9. Kapitel

Zitrone1.tif

Erzählt von Taktik, Erscheinungen, Aluhüten, Paralleluniversen, vom Suchen und Finden und von magischen Orten. Und von Männern schon wieder. Die Poldi drängelt und geht in Deckung. Martino sucht seine Lesebrille und braucht einen caffè, und Totti findet etwas. Der schöne Antonio dann allerdings auch. Und auch die Poldi macht kurz darauf noch eine Entdeckung.

Tante Teresa begrüßte mich herzlich mit Küsschen und der besorgten Frage nach meiner gebrochenen Nase. Als ob nichts wäre, als ob wir nicht kurz davorstanden, zu dritt zu einem Himmelfahrtskommando aufzubrechen. Totti kriegte sich gar nicht mehr ein vor Wiedersehensfreude. Ich mag ihn. Im Flur stand eine kleine Reisetasche. Den Onkel hörte ich im salotto rumoren.

»Sag mir bitte, dass du diesen Irrsinn nicht unterstützt!«, flehte ich Tante Teresa an.

Sie funkelte mich verschmitzt mit ihren weisen Knopfäuglein an und zog mich in die Küche, während die Poldi sich einen Grappa einschenkte.

»Martino, bist du fertig?«, hörte ich sie rufen. »Wir müssen los!«

»Eine Minute!«, brummte es aus dem salotto.

»Mach dir keine Sorgen, Bub«, raunte Tante Teresa in der Küche auf Deutsch mit diesem leicht bairischen Einschlag, den die Tanten sich bewahrt haben. »Du weißt doch, dass man der Poldi nichts ausreden kann. Also haben wir uns überlegt, wir machen es wie die Chinesen mit ihrem Tai-Chi, weißt?«

»Äh …«

»Oder Kung-Fu, ist ja auch Wurst. Die Kraft des Gegners ins Leere laufen lassen. Wenn Martino mitfährt, kommt ihr ohnehin nicht weit.«

Und da ging mir die Taktik auf. Einfach genial. Denn der Onkel wird zwar mit jeder Stunde Autofahrt frischer und kennt sich in Sizilien aus wie kein Zweiter, aber er lebt eben auch in einem anderen Zeitkontinuum als wir Normalos. Zeit hat für den Onkel praktisch keine Bedeutung, er bewegt sich völlig frei und ungehemmt in ihr, manchmal auch rückwärts. Niemals habe ich auf unseren Ausflügen erlebt, dass er die kürzeste Verbindung zwischen zwei Punkten genommen hätte. Er verachtet Autobahnen als Unterdrückungsinstrument des Turbokapitalismus, liebt Umwege, Nebenstrecken, Feldwege und die Pampa. Er ist ein geborener Entdecker, zu ewiger Neugier und Verspätungen verdammt, was ihm seine Umwelt oft als Schusseligkeit auslegt. Wenn der Spruch »Der Weg ist das Ziel« jemals für irgendwen gegolten hat, dann für Onkel Martino.

Erleichtert umarmte ich meine Tante.

»Genial!«, seufzte ich. »Ihr seid einfach genial.«

Im salotto gab der Onkel auch bereits eine Kostprobe der Taktik. Eine unangezündete Fluppe im Mundwinkel, suchte er wieder mal eine seiner dreiundvierzig Lesebrillen. Dauernd verlegt er sie. Nun könnte man zwar denken, dass auch die größte Wohnung irgendwann einen Sättigungsgrad an Lesebrillen erreicht hat, aber weit gefehlt. Der Onkel ist ein Genie im Verlegen von Lesebrillen. Er kann das aber auch mit Feuerzeugen.

Die Poldi lief ungeduldig auf und ab und schien gleich zu platzen. Der Onkel aber ganz die Ruhe, ganz bei sich und seiner Suche.

»Teresa!«, rief er zwischendurch immer, aber nicht, weil sie ihm helfen sollte, sondern weil er gerade an sie dachte. »Teresa!«

Natürlich hatte Teresa gekocht und bestand darauf, dass wir vor der Fahrt noch etwas essen müssten. Und wenn meine Tante Teresa gekocht hat, sagt man nicht Nein. Es gab einen Fenchel-Orangen-Salat mit grünen Bohnen und Minze. Danach Pasta alla Norma, der sizilianische Klassiker, dann lumache al sugo di pomodoro, also kleine Meeresschnecken in Tomatensoße, einen Berg gegrillter Rotbarben und zum Abschluss einen Obstsalat aus dem Paradies.

Nach einer weiteren Stunde konnten wir endlich aufbrechen.

Irgendwie quetschten wir auch noch Martinos Tasche in den Kofferraum des Maserati.

Aber der Onkel war immer noch nicht so weit.

»Eine Minute!«, sagte er schon wieder und verschwand noch mal im Haus.

Die Poldi musste sich jetzt schon sehr zusammennehmen. Ich fühlte mich prima, satt und ruhig und ein bisschen schläfrig.

Das änderte sich jedoch schlagartig, als der Onkel nach einer weiteren Viertelstunde zurückkam. Er trug jetzt eine olivfarbene Fotografenweste mit lauter Taschen und Reißverschlüssen überall und hielt Totti an der Leine, den er ohne viel Federlesens auf den Rücksitz bugsierte.

»Oh nein!«, protestierten die Poldi und ich wie aus einem Mund. »Der Hund bleibt hier!«

»Ohne Totti fahr ich nicht mit«, erklärte der Onkel stur, und Totti bellte fröhlich und in Ausflugsstimmung vom Rücksitz. »Totti ist der beste Fährtenleser der Welt. Wir sind ein Team, praktisch symbiotisch miteinander verbunden. Ohne Totti bin ich nur ein wertloser alter Knacker.«

Er zündete sich eine Zigarette an.

Muss man Onkel Martino wirklich lassen, von cool versteht er was.

Die Poldi kochte. »Also meinetwegen!«, fauchte sie. »Aber im Wagen wird nicht geraucht!«

Und so fuhren wir halt los. Onkel Martino und Totti eingeklemmt auf dem schmalen Rücksitz, die Poldi auf dem Beifahrersitz und ich am Steuer. Die Poldi legte wieder eine Cassette ein, und zu italienischem Sanremo-Pop der – wer hätte es gedacht! – Achtziger verließen wir am Abend Catania.

Es wurde dunkel.

Es begann zu regnen.

Der Onkel begann zu rauchen.

Und er quarzte während der ganzen Reise, trotz des energischen Protestes der Poldi.

Die wiederum bremste wieder ständig mit und feuerte mich ungnädig an, doch endlich Gas zu geben. Zwischendurch nippte sie an ihrem Flachmann. Ich kam mir sehr einsam und sehr bemitleidenswert vor.

Poldis Plan bestand darin, die Route abzufahren, die Thomas laut Tracking-Protokoll genommen hatte. Von Siracusa über Noto nach Gela, Palma di Montechiaro, Agrigento, Enna und Catania. Vor Ort wollte sie den Onkel dann als eine Art Spürhund aktivieren. Denn der hatte ja überall alte Bekannte und Kontakte, die er diskret nach einem »Schönen Antonio« fragen konnte. Ergab irgendwie Sinn.

Onkel Martino, obwohl auf dem Rücksitz zur thromboseerzeugenden Passivität verdammt, schien die Fahrt trotzdem zu genießen. Er quasselte in einer Tour. Seine neueste Verschwörungstheorie lautete:

»Sizilien ist das sicherste Land der Welt! Warum? Weil es hier keinen Terrorismus gibt. Ecco! Und warum?«

»Wegen der CIA und den Templern?«, erwiderte ich müde.

Triumphierendes Lachen. »Ha! Nein, wegen des Islamischen Staats! Der IS hat nämlich einen Deal mit der Mafia wegen der Drogen und der Waffen. Aber natürlich hängen die Templer und die CIA auch mit drin.«

»Und das soll jetzt irgendwer toll finden, oder was?«, fragte ich.

»Ich spreche nur von Tatsachen«, erklärte der Onkel kaltblütig. »Die Verbindungen reichen weit zurück. Sehr weit. Als das östliche Libyen noch italienische Kolonie war, war Pietro Badoglio Gouverneur der Provinz Cyrenaika. Badoglio hat dann später Mussolini entmachtet und den Weg für die Invasion der Alliierten in Sizilien freigemacht. Die ist ja bekanntlich nur deswegen ohne Blutvergießen abgelaufen, weil Lucky Luciano die gelben Seidentücher mit dem ›L‹ drauf hat abwerfen lassen, damit die örtlichen Mafiabosse Bescheid wissen. Was eindeutig zeigt, dass Badoglio ebenfalls ein Boss war und auch ein Agent der CIA. Aber vorher hat er die aufständischen Senussi in Ost-Libyen unterworfen. Sehr blutige Kämpfe. Die Senussi wiederum waren eine sufistische Bruderschaft, die haben noch unter Gaddafi gemacht, was sie wollten, und die ersten islamistischen Kampftruppen organisiert. So weit alles klar? Beh! Also, Badoglio war natürlich Templer, das ist bekannt. Templer, Boss und CIA-Agent. Und natürlich hat er in Libyen etwas ganz anderes gewollt – den Schatz der Templer nämlich, den Heiligen Gral. Den wollte er zurück nach Sizilien bringen. Deswegen hat er damals schon einen Pakt mit den Senussi geschlossen, damit …«

»Moment mal, ich denke, die hat er massakriert?«

»Ja, erst. Aber was denkst du, warum Italien sich plötzlich aus Libyen zurückgezogen hat? Genau! Weil Badoglio einen Deal mit den Sufisten gemacht hat. Verstehst du? Badoglio, Sufisten, Templer, CIA, Mafia, IS. Ecco!« Er lehnte sich zufrieden zurück. »Teresa!«

»Kannst jetzt bittschön endlich ein bisserl aufs Gas treten, Bub?«

Ich stöhnte und versuchte, mich aufs Fahren zu konzentrieren. Wir nahmen die Schnellstraße nach Siracusa, und ich sah gerade die Lichter der gigantischen Raffinerie von Augusta am Meer, als die Poldi neben mir herzlich fluchte und hektisch in ihrer Tasche nestelte.

»Was ist los?«

»I hab die scheiß Straßenkarte bei der Teresa liegen lassen, kreuzverdammte Drecksschlamperei!«

»Na, super. Erzähl du mir noch mal, dass du Geheimagentin bist! Gut, dass wir Onkel Martino haben.«

»Teresa!«, brummte der Onkel von hinten, und Totti furzte.

Er furzte überhaupt ständig, was mir bislang noch nie aufgefallen war. Nach kurzer Zeit stank der ganze Innenraum nach Zigarettenqualm und verfaulten Innereien. Ich fing an, ihn ein bisschen weniger zu mögen. Wenn ich zwischendurch die Seitenscheiben herunterkurbelte, peitschte mir der Regen ins Gesicht, und ich sah überhaupt nichts mehr. Um nicht ohnmächtig zu werden, rauchte ich jetzt einfach mit. Davon wurde mir übel.

Kurz hinter Augusta verkündete Onkel Martino, dass die Schnellstraße weiter vorne wegen eines Brückenschadens gesperrt sei. Er ließ mich abfahren und eine Provinzialstraße nehmen. Und dann eine noch kleinere Provinzialstraße. Er dirigierte mich kreuz und quer durch die nächtliche Pampa.

»Eine Abkürzung!«, behauptete er. »Vertrau mir.«

Ich ahnte, was das bedeutete: Jetzt trat Teresas Plan in Aktion. Das erleichterte und sorgte mich irgendwie zugleich. Mit jedem Kilometer wurde die Besiedlung spärlicher, wir kamen nur noch durch wenige Dörfer und sahen bald lange gar kein Haus mehr. Verkehr gab es praktisch auch nicht mehr, nirgendwo Licht, und Straßenschilder konnte man vergessen. Wenn es überhaupt welche gab, waren sie verrostet, verbeult, von Jagdflinten durchlöchert oder verdreht. Wir fuhren allein durch das Herz der Finsternis wie Wikinger über den Nordatlantik. Dieses Land war so dunkel, so stockfinster, als habe es alles Licht gefressen, dass es mir einfach nur das Herz zusammenzog. Der Regen wurde immer heftiger, die Scheibenwischer praktisch untauglich – und wir im Blindflug durch die sizilianische Februarnacht. Meine Augen fielen mir immer wieder zu, ich blinzelte und gähnte gegen den Sekundenschlaf an und brauchte meine ganze Konzentration, um uns nicht alle ins Verderben zu manövrieren. Eine Stunde später hörte der Onkel abrupt auf zu quasseln und schlief ein. Dann Totti und dann die Poldi. Alle drei schnarchten. Immerhin kein Zigarettenrauch und keine Hundefürze mehr und endlich Ruhe. Ich stellte das Radio ab und war allein. Sehr allein.

Eine weitere Stunde später ging der Sprit aus, und ich hatte mich endgültig verfahren. Vollkommen verfranzt. Keine Ahnung, wo ich war, kein Schild, keine Orientierung, kein gar nichts. Der Wagen wurde immer langsamer, der Motor nahm kein Gas mehr an, stotterte, ruckelte, und ich schaffte es gerade noch so eben an den Straßenrand. Ich hatte die Tankanzeige nicht im Blick behalten und verfluchte mich jetzt, nicht daran gedacht zu haben, dass der Verbrauch so eines über vierzig Jahre alten Sechszylinder-Biturbos etwa fünfmal so hoch ist wie der eines Fiat Pandas. Auf der anderen Seite hatte ich ohnehin seit Stunden keine Tankstelle mehr gesehen. Rings um mich herum herrschte vollkommene Dunkelheit, im Scheinwerferlicht war nur ein kurzes Stück der schmalen Straße zu erkennen, dann verschluckten Dunkelheit und Regen auch sie.

Da gab ich dann auf. Ich konnte einfach nicht mehr. Auch mein persönlicher Sprit war alle. Apathisch sah ich zu, wie der Regen die Scheiben hinabfloss, als wenn wir gerade im Meer versinken würden.

Ich schaltete die Scheinwerfer aus, schloss die Augen und sagte: »Lecktsmialleamarsch.«

»Teresa!«, murmelte Onkel Martino im Schlaf.

Im Grunde schlief ich in dieser Nacht gar nicht. Schon die zweite Nacht in Folge nicht. Nur meine Beine schliefen mir ein, ich fror, ich hatte Durst, und ich musste mal, wollte aber nicht raus. Dennoch muss ich irgendwann eingeschlafen sein, denn ich hatte wirre Träume. Von meinem Roman.

Kleiner Zeitsprung. München, 1942. Der kleine Mann mit dem kleinen Schnurrbart kam nicht mehr in die Osteria Bavaria. Er hatte die ganze Welt inzwischen in einen totalen Krieg gestürzt und den größten Genozid aller Zeiten organisiert. Barnabas Geschäfte liefen glänzend. Als Achsenmacht galten Italien und die Italiener als Freunde des Deutschen Reiches, und Barnaba hatte sich zu einem reifen, reichen Signore und Boss mittleren Alters entwickelt und sogar ein kleines Bäuchlein bekommen. Dennoch sah er immer noch sehr stattlich aus, immer tipptopp, ganz in Weiß mit einem gelben seidenen Einstecktüchlein, und er hatte auch seine Virilität und sicilianità nicht verloren, im Gegenteil. Jeden Sommer hatte er in der sizilianischen Heimat mit der immer trauriger werdenden Eleonora zuverlässig ein Kind gezeugt, und auch Rosi und manch andere Münchner Schönheit erfreuten sich seiner zahlreichen prachtvollen Nachkommen. Für die Barnaba selbstredend großzügig sorgte. Dank Barnaba wurde München mit jedem Jahr ein bisschen sizilianischer. In der Westermühlstraße roch es nach Tomatensugo, Basilikum und panettone, jeden ersten Samstagabend im Monat gab Barnaba eine elegante serata mit sizilianischen Köstlichkeiten für die Spitzen der Münchner Gesellschaft. Wobei er selbst immer ganz bescheiden auftrat, wie ihm seine Tante Pasqualina ja geraten hatte.

Vitus Tanner hatte in all den Jahren zwar wahnsinnig viel belastendes Material über Barnaba zusammengetragen (Notiz an mich: ???), ihm aber bislang nichts anderes als ein belangloses Steuervergehen nachweisen können, das nach einem Vier-Augen-Gespräch zwischen Barnaba und dem Oberstaatsanwalt als Bagatelle abgewiesen wurde. Barnaba thronte auf dem Zenit seines Erfolgs. Aber er wollte mehr. Er suchte nach Sinn.

Den fand er, als Pasqualina ihn eines Abends in ihre Geheimdiensttätigkeit einweihte. Auch Pasqualina war ein wenig in die Jahre gekommen und ein bisschen fülliger geworden, aber sie war immer noch eine femme fatale in eleganter Garderobe, mit geheimnisvollem Nofretete-Make-up und ihrer kunstvoll toupierten Perücke. Sie trank keinen Alkohol mehr, nur noch Champagner, und pflegte regelmäßige sinnlich-leidenschaftliche Kontakte zur Berliner Filmindustrie, zu kernigen Hollywoodstars und Größen aus Politik und Wirtschaft. Sie kümmerte sich rührend um einen traumatisierten ehemaligen Stummfilmstar, der den Frauen eher nicht so zugeneigt war, und unterhielt, was sie Barnaba diskret verschwieg, eine stürmische Liaison mit Vitus Tanner. Der entpuppte sich nämlich als nie ermüdender Liebhaber geradezu sizilianischer Dimension, was nicht verwundert, denn er war ja immerhin Kriminalkommissar. Kurz darauf brach ihm Pasqualina, wie ach so vielen Männern, jedoch das Herz, was Vitus Tanner zu einem noch erbitterteren Verfolger von Barnaba machte. Als Top-Spionin hatte Pasqualina schon seit Jahren nebenbei für verschiedene Regierungen gearbeitet, hatte etliche Putschversuche eingefädelt, eine Revolution, zwei Kriege und die Entdeckung von Atlantis verhindert (Notiz an mich: Atlantis eventuell zu viel?), aber am Ende hatte alles nichts genutzt. Die Welt knirschte in allen Fugen und war drauf und dran, komplett vor die Hunde zu gehen, wenn der kleine Mann mit dem kleinen Schnurrbart in Berlin noch lange an der Macht blieb.

Das sah Barnaba ganz genauso. Er war Geschäftsmann, Politik interessierte ihn nicht, aber er bedauerte es von Herzen, dem kleinen Mann aus der Osteria damals nicht die Brüder aus Ragusa vorbeigeschickt zu haben. Da musste sich etwas ändern.

Als Erstes holte Barnaba den schwächlichen und inzwischen einundzwanzigjährigen Federico aus Catania nach München, um ihm die Geschäfte zu übertragen. Leider erwies sich Federico als wenig geschäftstüchtig. Der stets anämisch-kränkliche Sohn fürchtete sich vor seinem Vater und München. Er hatte in Catania zwar eine Schneiderlehre absolviert und konnte zeitlose Herrenanzüge praktisch aus dem Vollen fräsen, aber rechnen, handeln, übervorteilen und einschüchtern war nicht so seins. Daher holte Barnaba auch noch seinen ebenso alten Sohn Walter mit ins Geschäft, einen urbayrischen Bären von Mann mit Grips und Stiernacken, und übergab den beiden jungen Männern kommissarisch sein Imperium. Federico und Walter hätten äußerlich unterschiedlicher nicht wirken können, aber eines einte sie genetisch dennoch: eine flammende, rasende Wut, die sie bei der kleinsten Ehrverletzung oder Frustration überfallen und völlig ausrasten lassen konnte. Die Geschäfte liefen weiterhin glänzend.

Barnaba reiste fortan mit Pasqualina und beschützt von der Zauberkraft des magischen Amuletts der überirdisch schönen Zyklopin Ilaria als Top-Spion um die Welt. Im Auftrag von Pietro Badoglio, den Templern und der CIA fand er im östlichen Libyen den Heiligen Gral, entschlüsselte den Code der Enigma, beendete den Faschismus in Italien und bereitete die Landung der Alliierten in Sizilien vor. Und das war erst der Anfang.

Als ich mit tauben Beinen erwachte, wurde es gerade hell, und ich war allein im Wagen. Im ersten Tageslicht erkannte ich, dass wir uns auf einer sanft gewellten Ebene befanden. Als wäre dieses ganze wilde Land zu Anbeginn der Zeit einmal kurz erschaudert und dann für immer erstarrt. Die ganze Ebene war dicht bewachsen mit knorzigen Macchiabüschen, die teilweise zarte Blüten zeigten, dazwischen bizarre Kalksteinformationen und vereinzelte Olivenbäume. In der Ferne erkannte ich Wiesen und Mandelhaine, weiter hinten den langen Schatten eines Wäldchens. Der Maserati stand am Rand der einzigen Straße, die durch das wellige Land hindurch mäanderte.

Kein Mensch zu sehen, keine Poldi, kein Martino, kein Totti. Ich war vollkommen allein und hatte keine Ahnung, wo wir waren. Stöhnend und zitternd vor Kälte quälte ich mich aus dem Maserati, machte ein paar Kniebeugen, erleichterte mich und versuchte, warm zu werden. Dann versuchte ich, die Poldi und Martino anzurufen, aber mein Handy hatte keinen Empfang. Wer hätte es gedacht? Damit fiel auch die Standortbestimmung aus. Na prima, dachte ich und ging los, um die Familie zu suchen.

Der Regen vom Vortag war Geschichte. Die Straßen und die Wiesen waren zwar noch feucht, aber kein Wölkchen am Himmel, die aufgehende Sonne wärmte sogar schon ein bisschen. Nebelschwaden stiegen aus den Feldern auf. Je heller es wurde, desto mehr Details erkannte ich von diesem Landstrich, der seit Urzeiten zu schlafen schien. Die Luft war klar und mild und duftete nach feuchtem Stein, Harz und Frühlingsblumen. Ich fühlte mich auf einmal sonderbar leicht, so gar nicht wie ein Schiffbrüchiger auf einer Harakiri-Mission, und hielt einen Moment inne, um diesem Gefühl nachzuspüren. Wo auch immer wir gestrandet waren, diesen Teil von Sizilien hatte ich noch nie gesehen.

Überhaupt kenne ich ja fast nur die Ostküste um Catania herum, weil die Familie da lebt. Die stundenlangen Ausflüge kreuz und quer durch Sizilien mit Onkel Martino auf Kundenbesuch in meiner Jugend erinnere ich nur als Albträume voller Hitze, Zigarettenqualm, Kopfschmerz, Sonnenbrand und Durst. Sizilien und ich hatten schon immer ein schwieriges Verhältnis. Es hat mich oft gerufen, nirgendwo habe ich mich manchmal mehr zu Hause gefühlt, aber gleichzeitig hat es mich so oft verspottet und mich wie einen Fremdkörper behandelt.

Aber nun stand ich hier auf diesem Land, so wild und schön und ewig wie der vergessene Rest des Garten Eden, und fühlte so etwas wie Verbundenheit. Als ob ich gerade nach Hause zurückgekehrt sei und mich etwas erwartete.

Und dann sah ich ihn.

Er stand so schätzungsweise fünfzig Meter vor mir in der Macchia und hielt seinen Kopf träumend oder um sich aufzuwärmen der aufgehenden Sonne entgegen. Er bewegte sich nicht, schien mich auch nicht zu bemerken. Oder ignorierte mich, was ich ja gewohnt bin. Ich machte allerdings auch keinen Mucks mehr, starrte ihn nur an. Wie man eben etwas anstarrt, das gar nicht sein kann. Im fahlen Morgenlicht war er eigentlich nicht mehr als ein Schatten. Ich erkannte seinen gedrungenen, muskulösen Oberkörper, den langen Hals und lange verfilzte Haare, die ihm bis auf die Schultern fielen. Und ich erkannte, dass dieser Oberkörper in den Rumpf eines Pferdes oder Esels überging. Ich sah schimmerndes Fell im ersten Morgenrot, vier kräftige Läufe und einen kurzen Schweif, der unruhig zuckte. Der Zentaur scharrte kurz mit dem linken Vorderhuf, kratzte sich an der Brust, wie ein sizilianischer Familienvater am Strand, aber sonst regte er sich immer noch nicht. Er wirkte wie mit der Macchia verwachsen. Als sei er nur kurz aus ihr herausgebrochen, um gleich wieder mit ihr zu verschmelzen. Von seinem Pferderücken stieg Dunst auf.

Dann hörte ich Schüsse in der Ferne. Erschrocken zuckte ich zusammen und wandte mich in die Richtung, aus der die Schüsse kamen. Sie kamen unregelmäßig, ganz offensichtlich ballerte da jemand herum. Als ich mich wieder zu dem Zentauren umwandte, war das Wesen verschwunden.

Immerhin das Geballere war wenigstens real. Und da das menschliche Gehirn, bis auf gelegentliche Aussetzer durch Schlafmangel und Überreiztheit, bekanntlich auf Realität gepolt ist, eilte ich, ohne lange nachzudenken, in die Richtung, aus der die Schüsse kamen. Ich hegte keinerlei Zweifel, dass ich die Poldi dort finden würde.

Ich folgte der Straße ein kleines Stück über eine kleine Hügelkuppe und sah etwas weiter unten ein altes Bauernhaus, das sich in die Macchia duckte.

Ein alter Mann mit einer Flinte stand vor dem Eingang und brüllte auf Italienisch: »Verpisst euch, verdammte Invasoren!«

Damit meinte er offenbar die Poldi, Onkel Martino und Totti, die sich hinter einem Felsblock in Sicherheit gebracht hatten, aber dafür ziemlich entspannt wirkten, fast wie bei einem Picknick. Totti bellte freudig, als er mich sah, und der Onkel winkte mir mit einer kleinen Plastiktüte zu wie ein Reiseleiter einem trödelnden Studienreisenden. Er hat ja immer diese kleine Plastiktüte dabei für den Fall, dass er etwas Interessantes findet. Eine Lesebrille, zum Beispiel. Oder wilden Spargel, Austernpilze oder den Schatz der Templer.

Die Poldi trank einen Schluck aus ihrem Flachmann und richtete sich ihre Perücke. Sie wirkte ausgeruht und frisch, das Make-up saß perfekt. Ich fragte mich, wie sie das machte.

»Verpisst euch!« Der alte Mann feuerte wieder in die Luft. »Ich kann euch noch sehen, elende Handlanger der Globalisierung! Ich kann eure Strahlen sehen! Aber meine Gedanken kriegt ihr nicht!«

Er trug eine coppola, eine sizilianische Schiebermütze, die er mit Aluminiumfolie umwickelt hatte, und ich begann zu verstehen, woher hier der Wind wehte. Eigentlich wunderte ich mich inzwischen über gar nichts mehr.

Pragmatisch veranlagt, wie ich bin, überlegte ich nur, ob ich geduckt wie die coolen Typen in den Filmen zu Poldi und Martino laufen sollte, entschied mich aber dann doch lieber fürs uncoolere Kriechen.

»Geh, was machst du denn da?«, rief mir die Poldi zu. »Du zerreißt dir doch nur die Hose! Steh auf und komm endlich rüber.«

Ich kroch einfach weiter.

»Ich glaub, ich hatte gerade eine Erscheinung«, sagte ich atemlos, als ich schließlich den Felsbrocken erreichte.

Die Poldi reichte mir wortlos den Flachmann, denn von Erscheinungen versteht sie was, und ich nahm einen Schluck.

»Erklärt mir mal einer, was hier los ist?«

»Mei, du hast halt g’schlafen wie ein Baby, da wollten wir dich nicht wecken.«

»Danke, sehr aufmerksam.«

Die Poldi und auch Onkel Martino haben nämlich einen leichten Schlaf, und so eine Nacht in einem Maserati macht das nicht besser. Sie waren kurz vor mir wach geworden und hatten sich ein bisschen umgesehen. Der Onkel war mit Totti in der Macchia verschwunden, weil die beiden eben Entdecker sind und Bewegung brauchen. Die Poldi hatte sich ein wenig zurechtgemacht und war dann losmarschiert, um jemanden zu finden, der uns abschleppen konnte. Sie hatten das Haus entdeckt, doch als sie näher kamen, hatte der alte Mann auf sie geschossen. Die beiden dann erst mal in Deckung, und kurz darauf hatte ich sie schon gefunden, und hier waren wir nun.

»Warum ballert der da rum?«

»Das hört gleich auf«, erklärte der Onkel seelenruhig, gab Totti einen Hundekeks aus der Hosentasche und nestelte mit seiner Plastiktüte. »Wir warten, bis er sich ein wenig abgeregt hat, und fragen dann höflich, ob wir einen caffè bekommen können. Schau mal, was Totti vorhin gefunden hat!« Er hielt mir die offene Plastiktüte unter die Nase.

Darin lag ein flacher, spitzer, länglicher Abschlag aus glänzendem Obsidian mit scharfen Kanten. Eine Lanzenspitze aus der Steinzeit.

»Wow!«

»Ich kann euch immer noch sehen!«, brüllte der Alte vom Haus aus. »Ich weiß genau, dass ihr meine Gedanken an die Illuminati sendet!«

»Okay«, sagte ich lösungsorientiert. »Offenbar sind wir hier unerwünscht. Lasst uns verduften.«

»Nicht ohne caffè«, erklärte der Onkel.

»Und den Maserati können wir auch nicht einfach so stehen lassen«, merkte die Poldi an. »Wenn du dich nicht verfahren und ein bisserl auf die Tankanzeige geachtet hättest, dann würden wir hier nicht hocken wie die Deppen.«

»Und was, bitte schön, wäre dann euer Vorschlag?«

»Ein caffè wäre gut«, sagte der Onkel.

Ächzend erhob sich die Poldi aus der Deckung. »Signore!«, rief sie dem Alten zu. »Wir sind nur Touristen mit einer Autopanne! Wenn Sie vielleicht so freundlich wären, uns bis zur nächsten Tankstelle abzuschleppen. Und vielleicht hätten Sie freundlicherweise eine Tasse …«

»Ha!«, schrie der Alte. »Glaubt ihr, darauf falle ich herein?«

»Ich komme mal rüber zu Ihnen, dann reden wir in Ruhe!«, rief die Poldi und stapfte los durch die Macchia.

»Poldi!«, rief ich entsetzt.

»Keinen Schritt weiter, Satan!«, brüllte der Alte und gab wieder einen Schuss ab.

»Ich brauche jetzt einen caffè«, brummte der Onkel schon wieder und erhob sich jetzt ebenfalls. »Was ist mit dir?«

Ehe ich noch etwas sagen konnte, ging auch er auf das Haus zu. Das ist doch nur ein Albtraum, dachte ich fassungslos und erwartete, dass der Alte da hinten im nächsten Augenblick die beiden einfach über den Haufen knallen würde, wenn auch nur aus Versehen.

Doch dann hörte ich meinen Onkel rufen: »Antonio, jetzt beruhige dich!«

Ich dachte, ich höre nicht richtig.

»Ich bin’s, Martino!«, rief der Onkel. »Martino Cosentini aus Catania! Tu die Büchse weg, und mach uns caffè! Das alte Ding fliegt dir nachher noch um die Ohren.«

»Martino Cosentini?«, hörte ich den Alten verblüfft zurückrufen. »Martino mit den magischen Händen?«

»Und die werden dir gleich eine tüchtige Abreibung verpassen, wenn ich nicht bald einen caffè kriege!«

»Nein, das glaub ich nicht!«, rief der Alte begeistert zurück. »Zum Teufel, was machst du denn hier? Wie lang ist das denn her?! Mensch, komm rüber!«

Ich glaubte einfach nicht, was ich da hörte.

Eine halbe Stunde später saßen wir an einem groben Holztisch, und ich hörte auf, mich überhaupt noch über irgendwas zu wundern, schon gar nicht über die Häufung von schönen Antonios in Sizilien.

Vor uns standen frisches, selbstgebackenes Brot und Milchkaffee, den die Poldi ein bisschen aus ihrem Flachmann streckte.

»Des ist ein guter Ort!«, erklärte sie. »Eine ganz reine positive Energie! Allerbestes Karma. Hier trägt des Eis!«

Und davon verstand die Poldi was.

Das alte Bauernhaus bestand praktisch nur aus einem einzigen Raum, in dem Antonio schlief, kochte, wohnte und seinem »Projekt« nachging. Das wenige Mobiliar war alt und schlicht, sämtliche Wände mit antiken Abbildungen von mythischen Fabelwesen beklebt, mit alten Landkarten und Blättern und Zetteln, dicht in einer krakeligen Handschrift beschrieben. Überall stapelten sich Bücher. Ich hatte erwartet, dass es hier nach altem Mann und Verwahrlosung riechen würde, stattdessen aber strahlte das ganze Haus einen gesammelten Frieden und Kraft aus, war einigermaßen aufgeräumt und roch nach frisch gewaschener Wäsche, Brot und salsiccia, die Antonio gerade für uns briet. Die Alumütze und die Flinte hatte er an einen Haken an der Tür gehängt und wirkte nun völlig klar und geschäftsfähig. Aus der Nähe betrachtet sogar viel weniger durchgeknallt, die Lachfältchen um seine Augen sprachen Bände. Ein bisschen zugewachsen zwar mit seinem Vollbart und den wirren Haaren, aber vielleicht, dachte ich, war er in seiner Jugend tatsächlich mal ein schöner Mann gewesen.

Antonio klärte uns auch auf, wo wir uns befanden. Nämlich gar nicht so weit ab von unserer geplanten Strecke, wie ich gedacht hatte, nur etwa hundertfünfzig Kilometer, und zwar südlich von Enna im Zentrum Siziliens.

»Was führt euch eigentlich hierher?«, wollte er wissen.

»Wir suchen …«, setzte Onkel Martino an, doch die Poldi fuhr ihm ins Wort.

»Wir machen einen Ausflug mit unserem Neffen hier. Er schreibt gerade einen Roman über Sizilien. Ganz große Sache, der nächste Weltbestseller. Eine Familiensaga über drei Generationen voller Mythos, Drama, Kultur und Geschichte. Und natürlich randvoll mit sinnlicher sicilianità, wenn Sie verstehen, was ich meine. Nun ja, und wir helfen ihm ein bisschen bei der Recherche über Land und Leute.«

Ich war jetzt endgültig davon überzeugt, in einem Paralleluniversum gelandet zu sein.

»Bravo!«, rief Antonio. »Dabei siehst du gar nicht aus wie ein Schriftsteller, Junge! Was ist mit deiner Nase passiert? Bist du vor eine Tür gelaufen? Schau dir deinen Onkel an – so sieht ein echter Schriftsteller aus!«

Das ging dem Onkel natürlich runter wie Öl.

Wie sich herausstellte, hatte der schöne Antonio in einem ganz anderen Leben vor vielen Jahren als Filialleiter bei der Banco di Sicilia in Milazzo gearbeitet. Onkel Martino hatte ihm damals alle paar Jahre eine Kassenanlage und einen neuen Tresor verkauft.

»Und immer, wenn das Scheißding klemmte und wir wieder mal keine Auszahlungen vornehmen konnten, ist Martino Cosentini sofort angedüst gekommen mit seinen magischen Händen!«, rief er. »Er musste den Tresor nur berühren – klack! – ging er wieder auf. Einfach magisch. Wie lange ist das her, Martino?«

»Dreißig Jahre?«

»Dreißig Jahre, Madonna! Und du hast mich trotzdem wiedererkannt!«

»Und warum jetzt die ganze Scharade mit dem Aluhut und den Strahlen?«, unterbrach die Poldi den sentimentalen Redeschwall der beiden Männer.

»Ach, hier tauchen immer wieder so schneidige, junge Immobilien- und Touristikfritzen auf, die wollen hier alles entwickeln, wenn ich das schon höre, und dabei stört so ein Kauz wie ich natürlich. Ich habe dieses ganze Land vor zwanzig Jahren für einen symbolischen Preis gekauft, als ich angefangen habe, mich ganz meinem Projekt zu widmen. Ohne meine Unterschrift können die gar nichts machen. Die haben mir schon alles Mögliche angeboten, aber ich gehe hier nicht weg. Nicht für zehn Billionen Lire!«

Die Einführung des Euro hatte er offenbar nicht richtig mitbekommen.

»Je durchgeknallter ich auftrete, desto ernster nehmen die mich!«, erklärte Antonio vergnügt. »Jedenfalls bin ich immer noch hier und verteidige das Paradies gegen alle Investoren, Luxushotels und Mafiosi.«

»Haben Sie da keine Angst, dass die Mafia Sie irgendwann …?«

Wegwerfende Handbewegung. »Drauf geschissen. Sollen sie nur kommen. Ich weiß, dass ich kurz vor dem Verfallsdatum stehe, aber so lange lasse ich es noch krachen, Signora!«

Das war der Poldi voll und ganz aus dem Herzen gesprochen. Sie deutete auf die vollgeklebten Wände.

»Und was ist dieses Projekt, dem Sie sich verschrieben haben, Don Antonio?«

»Darüber kann ich nicht sprechen.«

»Ich bitte Sie, Don Antonio! Ihr ganzes Haus spricht darüber.«

»Sag’s ihr, Antonio«, brummte Onkel Martino und exte seinen dritten Espresso.

»Ich verfolge eine gewisse evolutionäre Nischentheorie, die in der anthropologischen Forschung leider als absurd gilt«, erklärte der schöne Antonio. »Ich suche nach Beweisen für die Existenz einer bestimmten Seitenlinie des Homo sapiens, die nur hier auf Sizilien gelebt hat.«

»Aha«, sagte die Poldi. »Und um was für eine Seitenlinie handelt es sich da?«

»Zyklopen«, erklärte der Onkel trocken und zündete sich eine Zigarette an.

Der schöne Antonio nickte lebhaft. »Ich bin überzeugt, dass sie existiert haben. Ich weiß es einfach. Aber da sie uns leider nichts hinterlassen haben, hält man sie für reinen Mythos.«

Paralleluniversum, dachte ich.

Die Poldi jedoch nickte ernst. Denn von Nischen und dem Nicht-ernst-genommen-Werden verstand sie was.

»Nach meinen Forschungen müssen sie sich vor etwa zweihunderttausend Jahren in Sizilien entwickelt und noch bis in die Antike hinein gelebt haben«, fuhr Antonio fort. »Niemand weiß, was dann passiert ist, vielleicht eine Epidemie, die die gesamte Population ausgerottet hat. Jedenfalls haben meine Forschungen ergeben, dass eine Gruppe am Ätna gelebt hat und eine andere im Zentrum des Landes. Nämlich genau hier. Und deswegen werde ich mich hier nicht vertreiben lassen.«

Da fiel dem Onkel etwas ein. »Totti hat da vorhin etwas gefunden, vielleicht hilft dir das irgendwie weiter.«

Er nestelte in einer seiner hundert Westentaschen, zog das Plastiktütchen heraus und legte den Obsidianabschlag auf den Tisch.

Antonio starrte die Lanzenspitze an. »Madonna, wo hast du das gefunden?«

Die Stelle lag gar nicht weit ab von der Straße, etwa dort, wo ich die Erscheinung des Zentauren gehabt hatte. Das Land fiel hier ein bisschen zu einem Bachlauf ab, der sich halbverborgen unter der Macchia hindurchschlängelte. Der Regen der letzten Tage hatte den abfallenden Boden so weit aufgeweicht, dass ein kleiner Erdrutsch entstanden war und schlammiges Geröll freigelegt hatte. In diesem Geröll hatte Totti die Lanzenspitze aufgestöbert.

Antonio grub wie im Fieber. Er hatte einen Spaten mitgebracht, ging aber vorsichtig vor, um mögliche Artefakte im Geröll nicht zu beschädigen. Wir drei anderen standen nur daneben und warteten gespannt ab.

Plötzlich schrie Antonio gepresst auf, warf den Spaten weg und legte mit zitternden Händen etwas frei, das offenbar im Geröll steckte. Nach kurzer Zeit umschloss er es behutsam wie einen empfindlichen Schatz mit beiden Händen und befreite es endgültig aus der Erde, in der es seit wer weiß wie vielen tausend Jahren gelegen hatte und von den träumenden Bewegungen der Erde über die Jahrtausende an die Oberfläche getrieben worden war.

»Lecktsmiamarsch!«, rief die Poldi aus, als sie sah, um was es sich handelte.

»Bravo, Totti!«, rief der Onkel zufrieden und tätschelte den Hund.

Antonio hielt den oberen Teil eines menschlichen Schädels in der Hand. Er sah gelb aus, größer als ein normaler Schädel, feuchte Erde klebte noch daran, und die Hälfte der Schädeldecke fehlte. Aber eines war ganz deutlich zu erkennen: Die Augenhöhlen lagen ungewöhnlich nah beieinander, schienen sich fast über der Nasenwurzel zu vereinen.

Paralleluniversum, dachte ich nur.

Antonio strich zärtlich und andächtig über den Schädel. Er hatte Tränen in den Augen. »Ein Zyklop! Danke, Martino!«

»Beh!«, winkte der Onkel ab.

»Oder eine einfache Fehlbildung«, wandte die Poldi sachlich ein. »Aber in jedem Fall wird das Ihr Leben nicht einfacher machen, Don Antonio. Im Gegenteil.«

»Ich hatte nie vor, irgendwas zu veröffentlichen«, erklärte Antonio. »Aber an diesem Ort wird niemals ein Luxushotel oder so was entstehen, das schwöre ich.« Er sah die Poldi an. »Würden Sie ein Foto von mir machen?«

»Aber natürlich, Don Antonio.«

Antonio reichte meiner Tante Poldi sein Handy und posierte grinsend mit dem vermeintlichen Zyklopenschädel. Die Poldi machte ein Foto und noch eins und checkte dann in der App, ob die Bilder was geworden waren. Und dabei machte nun sie eine Entdeckung. Sie quiekte geradezu auf, als sie es sah. Antonio hatte eigentlich immer nur das Land und neue Grabungsstellen fotografiert. Die Fotos sahen sich in der verkleinerten Darstellung alle sehr ähnlich, daher war der Poldi dieses eine andere sofort ins Auge gesprungen. Ein Selfie von Antonio und einem anderen Mann. Sie lachten beide in die Kamera wie gute Freunde. Der andere Mann war Thomas. Das Foto war eine Woche vor seinem Tod entstanden.

Antonio reagierte bestürzt, als er von Thomas’ Tod erfuhr. Wir saßen wieder in seiner Küche zusammen, der Schädel lag auf einem Stück Küchenrolle auf dem Tisch und glotzte uns an.

»Er war so ein netter Kerl!«, rief Antonio immer wieder aus. »Ich habe ihn in einer Bar in Enna kennengelernt, als ich nach meinen Wocheneinkäufen noch schnell einen caffè nehmen wollte. Und da steht dieser Afrikaner mit seinem Aktenkoffer, trinkt eine Mandelmilch und fragt herum, ob jemand einen schönen Antonio kenne. ›Das bin ich‹, hab ich gesagt, mehr so im Scherz. Na ja, so sind wir ins Gespräch gekommen. Er hat sich für Sizilien interessiert und wollte sehen, wo ich wohne. Da habe ich ihn halt mit hierher genommen. Er war ganz begeistert, richtig verzaubert, ist stundenlang durch die Macchia gewandert und hat mir dann am Abend von seiner Heimat erzählt. Wir haben viel über magische Orte geredet. Ich glaube, er war sehr einsam. Irgendwas hat ihn sehr bedrückt, vielleicht dieser Koffer, aber hier ist er endlich ein wenig zur Ruhe gekommen. Wirklich so ein netter Kerl.«

»Wie lange war er denn hier?«, fragte die Poldi.

»Zwei Tage. Dann habe ich ihn zurück zu seinem Auto nach Enna gefahren. Er musste ja noch diesen anderen Antonio finden, um ein Geschäft mit ihm abzuschließen. Danach wollte er wieder zurückkommen. Irgendwie hatte ich aber schon so ein Gefühl, dass er das nicht tun würde.«

Die Poldi sah den Onkel und mich an. »Dann können wir uns die ganze Reise ja wohl sparen, wenn Thomas den schönen Antonio nicht gefunden hatte.«

Da war was dran.

»Er hat etwas hier vergessen«, sagte Antonio in die Stille hinein.

Er schlurfte zu einem Schrank und kam mit einem roten Kapuzenpullover zurück.

»Sonst nichts?«, fragte die Poldi.

Der schöne Antonio schüttelte den Kopf.

Die Poldi hielt den Hoodie in der Hand und betastete ihn. Auf einmal runzelte sie die Stirn, griff in eine der beiden Seitentaschen und holte zwei kleine Papierchen heraus – und einen Schlüssel. Das eine Papierchen war ein Busticket von Catania nach Palermo und zurück, das andere ein zerknitterter Abholschein einer Wäscherei, Lavanderia Graziella, ohne Adresse. Der Schlüssel wirkte wie ein ganz normaler Hausschlüssel, enthielt aber keinerlei Hinweis, zu welcher Tür er führte.

Die Poldi reichte mir den Abholschein. »Und des bedeutet für uns jetzt was?«

»Äh, kleine Änderung der Reiseroute?«

»Cento punti!«

Antonio versorgte uns mit Sprit und Proviant, und die Poldi drängte zum Aufbruch. Da hörten wir Totti vor dem Haus laut aufbellen. Aus dem Fenster sahen wir einen schwarzen Toyota langsam über die Straße auf das Haus zurollen.

»I hab ein ganz ein mieses Gefühl«, sagte die Poldi, und auf ihre Intuitionen ist ja bekanntlich immer Verlass.

»Hinter dem Haus ist ein Weg durch die Macchia«, erklärte Antonio. »Wenn ihr euch duckt, sehen die euch nicht. Der Weg führt in einem Bogen zurück zur Straße. Um die Typen in dem Wagen kümmere ich mich.«

»Sie sollten sich für uns nicht in Gefahr begeben, Don Antonio.«

Aber der schöne Antonio grinste nur und deutete auf den Haken an der Tür, an dem die Alumütze und die Flinte hingen. »Machen Sie sich keine Sorgen.«

Wie Antonio uns beschrieben hatte, hasteten wir über einen kleinen Trampelpfad geduckt durch die Macchia zurück zum Maserati. In der Ferne hörten wir Antonio wieder brüllen und ballern. Hastig tankte ich den Wagen, alle Mann an Bord, die Poldi klappte das Verdeck zurück und sah mich an.

»Und jetzt, Burschi, gibst wirklich einmal so richtig Gas, gell?«

Nichts lieber als das! Mit quietschenden Reifen wendete ich den Wagen und gab Vollgas in Richtung Palermo.