1. Kapitel

Zitrone1.tif

Erzählt von den Tücken interkultureller Kommunikation, von Männern, Fischmessern, Hubraum und Poldis Vergangenheit. Die Poldi sitzt ziemlich in der Patsche, der schöne Antonio wird laut, der Neffe gibt Gummi, und Montana ist wieder mal eifersüchtig. Und alles nur wegen John.

Der schöne Antonio hatte die Faxen dicke. Er hielt meiner Tante Poldi ein machetenartiges Fischmesser an den Hals, das einen Thunfisch wie Butter halbieren konnte, und wiederholte seine Frage. »Wo. Ist. Es?«

Worauf meine Tante Poldi wiederum ihre Antwort wiederholte. »Leck mi am Arsch, du g’scherter Dreckshammel! I hab keine Ahnung, von was du da redest, hast mi?«

Was ein paar Missverständnisse offenbart, die sich in dieser Situation festgesetzt hatten wie Kalkplaque in einem Wasserhahn. Als Erstes natürlich die gestörte Kommunikation, denn der schöne Antonio stellte seine Fragen auf Italienisch mit starker sizilianischer Färbung, die Poldi jedoch antwortete ihm jedes Mal in astreinem Bairisch. Missverständnis Nummer zwei bestand darin, dass die Poldi keinen Schimmer hatte, wo es war. Entsprechende Beteuerungen ihrerseits hatte der schöne Antonio bislang machetefuchtelnd und schreiend abgeschmettert, woraufhin die Poldi irgendwann auf stur und auf Bairisch umgeschaltet hatte. Erschwerend in dieser recht eingleisigen Kommunikation kam, aus Poldis Sicht, Missverständnis Numero drei hinzu: das reißfeste Klebeband, mit dem der schöne Antonio sie an Händen und Füßen an einen Stuhl gefesselt hatte. Aber das allergrößte Missverständnis, aus meiner Sicht, war – ich. Wie das entscheidende Detail in diesen Finde-den-Fehler-Suchbildern saß ich nämlich ebenfalls gefesselt neben meiner Tante, schiss mir beinah in die Hosen vor Angst und erwartete, jeden Augenblick ins Licht zu gehen. Wie so eine lustige GIF-Animation im Internet auf Endlosschleife stellte ich mir meinen Tod vor: heransausende Machete, mein panischer Blick, Kopf ab (wie durch Butter), Blutfontäne und dann das Licht und esoterische Pling-Plong-Musik.

Ich sollte hier nicht sitzen, fand ich, nein, ich sollte hier so was von ganz und gar nicht sitzen. Meine Tante Poldi natürlich auch nicht, aber in ihrem Fall konnte so eine Verkettung von Missverständnissen immerhin noch als eine Art Berufsrisiko durchgehen. Ich dagegen war nur der gedungene Chronist ihrer Eskapaden, Ausschweifungen und Ermittlungen. Ich war der Nerd mit dem verkorksten Familienroman, der unbegabte Neffe ohne Freundin, Studium und Beruf, wozu den also auch noch halbieren? Aber das war dem schönen Antonio natürlich alles schnurz. Mitgefangen, mitgehangen.

Das unfruchtbare Frage-und-Antwort-Spiel zwischen meiner Tante und dem schönen Antonio hatte zu einer gewissen Gereiztheit auf beiden Seiten geführt, die meine Hoffnung auf einen glücklichen Ausgang dieser Situation mit jeder Sekunde weiter schwinden ließ. Praktisch gen Nulllinie auf der x-Achse. An meiner Tante Poldi jedoch schienen alle Drohungen abzuperlen wie Kondenstropfen an einer frisch gezapften Maß, denn die Poldi hatte im Gegensatz zu mir eben dieses Talent, jederzeit in den Wutmodus umschalten zu können, der sie gegen alle Arten von alltäglichem Unbill und Versagens- und Zukunftsängsten imprägnierte. Zugegeben, sie hatte schon mal besser ausgesehen. Wenn ich zu ihr rüberschielte, sah ich, dass ihr Hosenanzug im Camouflagedesign an vielen Stellen zerrissen war, ihr Nofretete-Make-up verschmiert von der anstrengenden Kriecherei durch die Büsche vorhin, und auf ihrer Stirn glühte eine kleine Schramme. Sie trug zwar immer noch ihre Perücke, aber auch die hatte bei der Kriechtour ziemlich gelitten, war zerzaust und stellenweise bereits im Stadium der Auflösung. Die sechzig sah man ihr sonst kaum an, aber wenn man mit zerzauster Perücke und verschmiertem Make-up an einen Stuhl gefesselt ist, schlägt das Alter irgendwie voll durch. Dann wird’s schwierig mit Bella figura. Ich empfand kurz Erleichterung, dass Montana sie jetzt so nicht sehen konnte, doch zugleich hätte Montanas Anwesenheit immerhin eine erfreuliche Wendung dieser Patsche bedeutet. Denn, muss man wirklich sagen: Meine Tante Poldi und ich saßen aber so was von in der Patsche.

»Sag’s ihm endlich, Poldi!«, zischte ich.

»Gar nix werd i dem Saubatzi sagen! Verrecken soll er, die oide Arschkrampn!«

Der schöne Antonio änderte nun seine Vernehmungstaktik, ließ von der Poldi ab und hielt stattdessen nun mir die Machete an die Kehle.

»Poldi!«, wimmerte ich.

»Geh, ganz ruhig, Bub! Wenn ich’s ihm sag, killt der uns eh, des ist dir fei schon klar, gell? Also schön ruhig weiteratmen, hörst? Die Sorte Kerle kenn i. Klassischer leone di cancello, ein Papiertiger, wie er im Buche steht. Viel Radau, aber keine Eier. Außerdem war der Tod mit seinem Klemmbretterl noch gar nicht da, also entspann dich.«

»WO. IST. ES?«

»IchhabkeineAhnungichbinnurderFahrer!«, presste ich in schlechtem Italienisch hervor.

»Und ein rechter Breznsalzer obendrein!«

»Poldi, eh, der killt mich!«

»Ganz ruhig, Bub. Es gibt immer einen Weg.«

Ich konnte es nicht mehr hören.

»WO IST ES?«

»I WEISS ES NICHT! UND DAMIT BASTA, HAST MI?«

»ICH WEISS ES AUCH NICHT! ICH SCHWÖRE!«

»ICH BRING EUCH ALLE BEIDE UM, ICH BRING EUCH BEIDE AUF DER STELLE UM, UND MIT DIR FANG ICH AN!«

»NEIN, ICH WILL NOCH NICHT STERBEN!«

Wir schrien um die Wette. Ich quiekend in Todesangst, die Poldi krachledern nach Gutsherrenart, und der schöne Antonio brüllte einfach nur rum wie ein Berserker, fuchtelte mit der Machete vor meinem Kopf herum und stieß lästerliche Flüche aus, die mit Geschlechtsteilen, der Madonna und unappetitlichen Sexpraktiken zusammenhingen. Und wie er da vor uns herumtobte wie so ein Derwisch, sah ich etwas, das mir dann endgültig die Sprache verschlug: Meine Tante Poldi hatte wieder diesen Blick bekommen. Diesen leicht verschleierten Adlerblick, den sie immer bekam, wenn sie irgendwo einen stattlichen Verkehrspolizisten sichtete. Ich fasste es nicht, aber der tobende schöne Antonio gefiel ihr.

Nun muss man auch zugeben, dass der schöne Antonio seinen Beinamen nicht zu unrecht trug. Selbst für italienische Maßstäbe sah er ungewöhnlich gut aus. Das Feinrippunterhemd, das er über den Jeans trug, betonte seine muskulöse, mäßig behaarte Brust, und sein Gesicht hätte jeden Renaissancemaler entzückt, man konnte es klassisch nennen. Ein sinnliches Gesicht, unbeschädigt von jeglichem Anzeichen von Scharfsinn, mit einer Spur Wehmut um die Augen, wenn es nicht gerade durch theatralische Raserei aus der Fassung geriet. Aber selbst dann noch strahlte der schöne Antonio eine Art, ich sag mal, animalischer Anmut aus. Er hätte zum Film gehen sollen statt zur Mafia. Genau so stellte ich mir Barnaba vor, den Helden meines verkorksten Familienromans.

Doch Anmut hin oder her – der schöne Antonio wirbelte immer noch unheilvoll mit der Machete vor meinem Kopf herum. Und das reichte mir langsam. Mir reichte die Raserei, mir reichte das Gebrüll, es reichte mir, mir immer wieder meinen Tod auszumalen, und vor allem reichte mir der lüsterne Blick meiner Tante Poldi. Mir reichte es endgültig, dass sie immer nur an das Eine dachte und keine Gelegenheit zum Flirten ausließ. Der schöne Antonio hatte die Faxen dicke? Benissimo, ich auch!

»Es reicht!«, brüllte ich. »Basta! Schluss, aus mit dem Theater! Ruhe jetzt, alle beide!«

Wundersamerweise herrschte augenblicklich Stille.

Die Poldi sah mich erschrocken an. »Bub, was ist denn? Ist dir nicht gut?«

Ich bemühte mich um Fassung und klaubte mein bestes Italienisch zusammen. »Wir werden jetzt eine Lösung finden, damit hier jeder kriegt, was er will, verstanden?«

»Da bin i aber fei neugierig. Gell, was wollen wir denn?«

»Überleben? Hallo?«

»Jetzt scheiß dir nicht gleich ins Hemd. I sag doch, des ist …«

»Halt die Klappe!« Und an den schönen Antonio gewandt, den die deutsche Sprache zu einem erneuten Wutausbruch zu provozieren schien, sagte ich auf Italienisch: »Meine Tante wäre unter gewissen Bedingungen bereit, Ihnen zu verraten, wo es ist.«

»Bin i nicht! Da hast dich aber g’schni…«

»Schnauze, Poldi!«

»I bin fei immer noch deine Tante, gell. Also quasi Respektsperson.«

Der schöne Antonio kam nah an mich heran und hielt mir die Machete wieder an die Kehle. »Ich scheiß auf Bedingungen. Wo ist es?«

»Wenn Sie uns umbringen, nützt Ihnen das auch nichts.«

»Ich bringe ja nur dich um. Und zwar ganz langsam. Wenn ich dich in Streifen schneide, wird mir deine Tante schon alles verraten.«

»Sie haben sie ja erlebt. Glauben Sie im Ernst, das würde sie beeindrucken?«

Der schöne Antonio dachte kurz nach, was die Harmonie seiner Gesichtszüge für einen Moment eindellte.

»Ja. Das glaube ich.«

»Sie müssen wissen«, fuhr ich etwas leiser fort, »sie ist, nun ja, nicht mehr ganz richtig da oben, verstehen Sie?«

»Wer flüstert, der lügt!«, rief meine Tante dazwischen.

»Ballaballa«, erklärte ich. »Das Alter. Der Alkohol. Ich kenne sie. Sie lebt in einer Fantasiewelt. Selbst wenn sie Ihnen irgendwas verraten würde, könnten Sie sich nie drauf verlassen. Und wenn Sie mich umbringen, verwirrt sie das nur noch mehr, glauben Sie mir. Ich bin der Einzige, der sie zum Reden bringen kann.«

»Du bist doch nur ihr scheiß Fahrer.«

»Ich bin ihr Neffe, Chronist, Fahrer, Schnapsvernichter, Seelsorger, Sündenbock, Klotz am Bein und Manager.«

»Bittschön, was bist du? Gell, hast du sie noch alle?«

Ich bemühte mich, sie zu ignorieren und dem schönen Antonio fest in die Augen zu sehen. »Ihre Entscheidung, Don Antonio.«

Das Gesicht des schönen Antonios umwölkte sich wieder. Er runzelte sogar die Stirn vor lauter Nachdenken und lief ein bisschen auf und ab.

»Nicht schlecht, Bub. Gar nicht schlecht«, raunte mir die Poldi zu. »Du hast dir was abg’schaut von mir. I sag ja, es gibt immer einen Weg.«

Und ich so, ganz lässig: »Ach, das war nix.«

Aber ziemlich zufrieden mit mir selbst dachte ich: Yeah! Bingo! Du hast ihn geknackt. Du bist so eine coole Sau. Du bist ein Gott der empathischen Verhandlungsführung.

Der schöne Antonio sah uns beide an, das riesige Messer locker in der Hand. Er wirkte ganz ruhig und entspannt. Richtig schön und edel.

»Alles Quatsch«, sagte er müde. »Ihr verarscht mich nur. Ihr habt wirklich keine Ahnung, wo es ist.« Er richtete die Machete auf meine Tante. »Na los, schließ die Augen.«

Und holte aus.

An dieser Stelle wache ich immer auf. Wie in einem schlechten Film, in dem der Hauptdarsteller erst irgendein Trauma bewältigen muss, bevor er die Welt, seine Familie, den Hund und die USA retten kann, was ja irgendwie immer zusammengehört. Muss unsereins alles zum Glück nicht, unsereins wacht bloß aus einem Albtraum auf und ist einfach nur froh, noch am Leben zu sein. Dann gehe ich runter in die Küche, trinke ein Glas Wasser, setze mich mit dem ersten Kaffee auf die Dachterrasse und blicke auf den Ätna und das Meer. Seit ein paar Wochen geht das schon so, es ist inzwischen Ende März, und zugegeben, mein Traum hat meine Rolle in dieser Patsche inzwischen ein wenig heroischer ausgestaltet, als sie es in Wirklichkeit war. Aber das Ende stimmt dann ja wieder.

Seit Anfang des Monats wohne ich jetzt alleine in der Via Baronessa 29. Ich habe den Winterschimmel in den Ecken beseitigt und die Wände gestrichen, ich kümmere mich um kleine Reparaturen im Haus, kaufe ein, gieße die Pflanzen, bringe den Müll raus, plaudere mit Signora Anzalone von nebenan und Signor Bussacca im tabacchi, denn ich rauche ja neuerdings. Jeden Morgen um neun esse ich eine granita mandorla-caffè mit einer Brioche in der Bar der traurigen Signora Cocuzza. Manchmal besuche ich die Tanten oder treffe meinen Cousin Ciro. Ansonsten schreibe ich. Beziehungsweise reihe tagsüber Sätze hintereinander, die ich dann abends meistens wieder lösche. Läuft bei mir, könnte man sagen.

Aber alles schön der Reihe nach.

Denn Ende Oktober, die Poldi hatte kurz zuvor den Avola-Fall aufgeklärt, man erinnert sich, stand ja auf einmal, wie aus dem Nichts, wie so ein Gespenst der Vergangenheit, John vor der Tür. Um genauer zu sein: John Owenya, Poldis Ehemann aus Tansania.

Meine Tante Poldi hatte kaum jemals etwas über ihre Tansania-Episode erzählt. Sobald die Sprache darauf kam, wechselte sie umgehend das Thema und konnte bei Nachfragen ziemlich grantig werden. Daher kursierten in der Familie wilde Gerüchte. Mein Cousin Marco behauptete lange, dass die Poldi sich einem Massai-Stamm angeschlossen hätte und nur aus Mangel an Alkohol wieder zurückgekehrt sei. Eine Theorie, die die Poldi nie entschieden dementierte. Meine Tante Luisa äußerte die Vermutung, dass »Tansania« nur der Codename für Poldis Zeit in einer Entzugsklinik sei. Onkel Martino ist immer noch felsenfest davon überzeugt, dass die Poldi in jener Zeit für die CIA gearbeitet hat und kurz davorstand, das okkulte Geheimnis der Templer zu lüften, was sie dann folgerichtig auch nach Sizilien geführt haben musste. Manchmal denke ich, er kam der Wahrheit damit am nächsten.

Faktenmäßig war jedoch nur so viel bekannt, dass die Poldi drei Jahre vor ihrem Umzug nach Sizilien ein Haus am Stadtrand von Arusha gekauft hatte, einer Stadt in Tansania, am Fuße des Kilimandscharo. Massai-Land. Warum und wieso Tansania, wusste niemand, aber damals hatten selbst meine Tanten Teresa, Caterina und Luisa wenig Kontakt zur Poldi. Kaum ein halbes Jahr später kehrte die Poldi dann schon wieder nach München zurück, allerdings um sämtliche Ersparnisse erleichtert und mit einer solchen Schwermut im Herzen, dass sie sich jede Nacht volllaufen lassen musste. Was ja bekanntlich mittelfristig ungesund ist. Die Poldi hatte schon immer gerne einen gebechert, aber zu diesem Zeitpunkt, stelle ich mir vor, musste ihr Plan gereift sein, sich endgültig zu Tode zu saufen. Im Jahr darauf starben kurz hintereinander ihre Eltern und hinterließen ihr das kleine Häuschen in Augsburg. Das verkaufte die Poldi umgehend, um mit dem Erlös ihren ursprünglichen Plan »Totsaufen« um den Aspekt »mit Meerblick« zu erweitern und an ihrem sechszigsten Geburtstag nach Sizilien zu ziehen.

Natürlich vermuteten wir, dass nur ein Mann hinter der Tansania-Episode stecken konnte. Und dass der Poldi in Tansania so richtig volle Kanne das Herz gebrochen worden war. Und auch, dass man sie mit dem Haus wahrscheinlich ziemlich über den Tisch gezogen hatte. Aber als die Poldi mir dann später alles nach und nach erzählte, klang es noch viel hanebüchener, als ich es mir in meiner kruden Fantasie je hätte ausmalen können.

Mehr als drei Monate war ich nicht mehr in Sizilien gewesen, eine Ewigkeit, und ich war immer noch ziemlich stinkig, weil sie mich mit Johns Auftauchen praktisch bis auf Weiteres ausgeladen hatte. John hatte meine Dachkammer mit den Schimmelflecken und dem muffigen fensterlosen Bad bezogen, und die Poldi hatte mir nur erklärt, dass ich mich ein bisschen gedulden müsse, bis sie »ein paar Dinge« geregelt habe. Erst von Tante Teresa erfuhr ich dann von John, aber über die Hintergründe hüllte auch die sich in Schweigen. Nicht, dass die Tanten mich konkret ausluden, aber sie legten mir auch nicht mehr nahe, einmal im Monat für eine Woche nach Sizilien einzufliegen, und, na ja, ich habe eben auch meinen Stolz. So viel sicilianità muss sein.

Beleidigt nahm ich meinen Job im Callcenter wieder auf und schrieb in der ganzen Zeit keine einzige Zeile an meinem Familienroman weiter, aber das hatte auch andere Gründe. Wochenlang totale Funkstille, kein Anruf, keine SMS.

Allerdings beschäftigten mich ab November inzwischen auch andere Dinge, die mich ziemlich auf Trab hielten und meine Gedanken in eine ganz andere Richtung lenkten. Weihnachten verbrachte ich bei meinen Eltern, der Januar begann stürmisch, wurde ungemütlich und dann auch richtig kalt.

Und Anfang Februar rief mich meine Tante Poldi schließlich mitten in der Nacht an und lud mich jovial, als wäre nichts geschehen, wieder ein. Beziehungsweise zitierte mich regelrecht zurück nach Sizilien, den Flug hatte sie schon für mich gebucht.

»Und denk an deinen Führerschein, gell.«

»Sag mal, geht’s noch, Poldi?«, gab ich ein Bisschen gereizt zurück. »Glaubst du, ich hab nix Besseres zu tun? Dass du nur anrufen musst, nachdem ich drei Monate – ich wiederhole: drei Monate – nichts von dir gehört habe? Dass ich Hurra schreie, aufspringe und auf Fingerschnipp losfliege? Ich glaub, es hakt!«

»Gell, was soll jetzt des heißen?«

»Vergiss es, Poldi, heißt das. Ich hab zu tun!«

Am nächsten Tag holte sie mich vom Flughafen Catania ab. Muss man mir echt lassen, von Konsequenz verstehe ich was.

»Herrgott, siehst du furchtbar aus!«, begrüßte sie mich, und wer hört das nicht gern? »Hast dich geprügelt?«

Womit sie auf das Pflaster quer über meiner gebrochenen und grün-blau geschwollenen Nase anspielte.

Ich räusperte mich verlegen. »Ich will nicht drüber reden, okay?«

»Wenn du des nicht überwindest mit deiner ewigen G’schamigkeit, dann wird des nie was mit deinem Roman, des lass dir g’sagt sein. Meine liebe Freundin und Mentorin, die Simone de Beauvoir, hat mal zu mir g’sagt: Wer Schriftsteller werden will, muss die Hosen runterlassen. Merk dir des.«

»Ich hab halt auch meine kleinen Geheimnisse.«

»Herrgott, jetzt runter mit den Hosen!«

Ich stöhnte. »Also gut, die Kurzfassung: Vor zwei Tagen hol ich mir in einer Bäckerei eine Rosinenschnecke. Da sehe ich im Augenwinkel diese ehemalige Kommilitonin draußen vorbeigehen.«

»So eine ganz Heiße«, unterbrach sie mich, »die dich immer ignoriert hat? Oder so eine ganz Liebe, die dir immer Blicke zug’worfen hat, und du warst zu gehemmt, sie anzusprechen?«

»Mann, Poldi, ist das jetzt wichtig? Ich seh die halt, und denke, hey, vielleicht hat sie ja zufällig Zeit für einen Kaffee. Schnappe mir die Rosinenschnecke und stürme hinaus aus der Bäckerei. Und dann halt – Bazong! – renne ich volle Möhre gegen diese frisch geputzte Glastür. Wie aus dem Nichts war die auf einmal da, nur jetzt halt nicht mehr sauber, sondern mit Fettfleck, und ich sehe nur noch Sterne und blute wie Sau aus der Nase.«

»Und die heiße Kommilitonin?«

Ich zuckte mit den Schultern.

»Dann hat’s auch nicht sollen sein. Aber steht dir irgendwie, die gebrochene Nase. Des wirkt kernig. Und davon versteh i was.«

»Wenn du das sagst, Poldi.«

Die Poldi hatte es eilig. Zügig schritt sie Richtung Parkplatz, steuerte auf einen roten Sportwagen zu und schloss ihn auf.

Also, ich meine, einen echten Sportwagen! Ein alter Maserati Cabrio aus den Achtzigern. Biturbo Spyder, Sechszylinder, zweihundertdreißig PS, mit cremefarbenen Ledersitzen, tadellosem Lack und weißem Verdeck.

»Wo hast du den denn aufgetrieben?«, rief ich begeistert.

»Frag nicht. Hast an deinen Führerschein gedacht?«

»Äh, ja klar, warum?«

Sie warf mir die Autoschlüssel zu. »Darum.«

Ganz was Neues. Die Poldi ist nämlich eher nicht so der Beifahrer-Typ, die hat die Dinge lieber in der Hand.

»Oh!«, rief ich verblüfft. »Wie kommt man zu der Ehre?«

»Des erklär i dir alles noch«, erwiderte sie gereizt und quetschte sich fluchend auf den Beifahrersitz.

Sie legte krachend eine prähistorische Kassette mit Popsongs aus den Achtzigern ein, drehte die Lautstärke auf Maximum, und wir wurden knarzend zugedröhnt von Africa, Down Under, It’s Raining Men, Eye of the Tiger, Gloria und Der Kommissar. Die Poldi sang alles mit. Bei dem beknackten Carbonara von Spliff knickte ich schließlich ein und grölte mit.

Spaghetti Carbonara! E una Coca-Cola!

Carbonara! E una Coca-Cola!

Ich meine, dieser Maserati, gebaut in meinem Geburtsjahr, war sogar im Vergleich mit durchschnittlichen Sportwagen von heute leistungsmäßig nur ein Flachwitz. Aber er hatte Charisma. Ich genoss es, über die Umgehungsautobahn Richtung Torre zu brettern, den Sound des Sechszylinders, das Krachen der Schaltung, die knallharte Lenkung. Ich kam mir vor wie ein Popstar in einem Musikvideo aus den Achtzigern. Das Einzige, was nervte, war die Poldi, die ständig mitbremste und mich angrantelte, nicht so zu schleichen.

»Bist inzwischen total vergreist? Jetzt tritt halt einmal richtig aufs Gas, Burschi! So ein Wagen ist wie ein Rennpferd, der will rennen! Rennen, nicht traben, verstehst? Also dann! Gib Gummi!«

Statt bei Giarre winkte sie mich überraschend an der Autobahnausfahrt Acireale hinaus und lotste mich bei der Bar Bellavista auf die Provinzialstraße.

»Ich kenne den Weg!«, maulte ich.

»Wir fahren nicht nach Torre«, erklärte die Poldi einsilbig.

»Sondern?«

»Femminamorta.«

Mein Herz machte einen kleinen Hüpfer vor Aufregung. Endlich würde ich Poldis geheimes Paradies mit seiner überirdisch schönen, ätherischen und hammererotischen französischen Besitzerin Valérie kennenlernen.

Die Poldi schien meine Gedanken erraten zu haben und sah mich von der Seite an. »Brauchst gar nicht so deppert zu grinsen. Valérie ist nicht da. Die besucht ihre Familie in Frankreich.«

»Und warum fahren wir dann hin?«, brummte ich enttäuscht.

»Mei, i wohn da halt für den Übergang.«

»Wieso denn Übergang? Ist was mit dem Haus?«

»Frag nicht immer so deppert, des erzähl i dir schon noch. Jetzt gib halt endlich Gas, Himmelherrgottsakra!«

Und dann: Femminamorta.

Am Kilometerschild acht bogen wir von der provinciale auf den kleinen Zufahrtsweg ab, der über das Gelände von Piante Russo führt, in der Ferne konnte ich schon das Anwesen sehen und den Torbogen mit den beiden Steinlöwen. Und als ich ausstieg, war alles ganz genau so, wie ich es mir nach Poldis Erzählungen immer vorgestellt hatte. Das alte Landhaus aus Lavastein, rosa getüncht und tausendmal ausgebessert, die Ornamente unter dem Dach, die verblichene Sonnenuhr, die kleine Glocke vor dem Eingang, die Palmen und Pinien, überhaupt der verwunschene Garten. Ich verstand sofort, dass dies ein magischer Ort war, wo freundliche Geister umgingen und die Zeit zwischendurch aussetzte.

Drinnen war es sehr kühl und roch nach Muff und Schimmel. Die alten Möbel und die antiquarische Bibliothek atmeten den Staub der Jahrhunderte aus. Außer mir und der Poldi schien niemand im Haus zu sein. Die Poldi wies mir ein Zimmer im Erdgeschoss zu. Die ehemalige Hauskapelle mit Deckenfresken von Heiligen und der Muttergottes. Es gab nur ein winziges Fenster, der kleine antike Sekretär an der Seite wackelte, dass man fürchten musste, er würde bei der nächsten Berührung zerbröseln, das Bett quietschte und ächzte, als hätte es was am Kreuz, an den Kacheln im anliegenden Badezimmer verkrustete der Kalk der letzten vierzig Jahre, und es roch noch viel muffiger und schimmeliger als im Wohnzimmer. Aber ich liebte es sofort. Mehr noch, ich ahnte, dass ich genau hier Großes schreiben würde.

»Mach dich ein bisserl frisch, dann reden wir«, bestimmte die Poldi und machte Kaffee.

Ich ließ mir Zeit und rauchte erst mal eine Zigarette auf der Terrasse. In der Ferne brandete das Meer gegen die Lavafelsen. Ein kühler Ostwind peitschte Wolkenmassen und Sprühregen übers Meer zum Ätna hin. Ein ungemütlicher Tag. Der sizilianische Winter hatte das Haus tüchtig ausgekühlt. Ich löschte die Zigarette und behielt die Kippe in der Hand, um diesen wunderschönen Ort nicht zu beschmutzen.

Und dann tat ich etwas, das man eigentlich nicht tun sollte, aber da ging bei mir irgendwas durch, ich konnte einfach nicht anders. Ich schlich durchs Haus, bis ich Valéries Schlafzimmer fand. Ich schwöre, ich habe nicht gestöbert! Aber ich wollte wenigstens einen Blick hineinwerfen. Das Zimmer wirkte viel heller und luftiger als die Kapelle unten. Das Fenster führte auf einen steinernen Balkon an der Rückseite des Hauses hinaus, von wo man einen fantastischen Blick auf den Ätna hatte. Alles hier war weiß, alle Decken, Kissen und Blumen, die Möbel alle weiß gestrichen. Bücherstapel und antiker Nippes, wohin ich blickte. Auf dem abgedeckten Bett lag eine große Sonnenbrille, die sie offenbar beim Packen vergessen hatte. Ich blieb in der Tür stehen und versuchte, mir Valérie vorzustellen. Leider gab es nirgendwo Fotos von ihr. Ich stellte sie mir sehr zart vor, mit großen Augen, Lachfältchen, sinnlichen Lippen. Mit kurzem Bob, in engen Jeans und gestreiftem bretonischem Fischer-Shirt. Oder in so einem kurzen, durchscheinenden Fähnchen von Sommerkleid, ganz elfenhaft und kokett und so hammererotisch wie aus einem dieser französischen Filme mit frustrierend offenem Ende, wo sie sich immer nur lieben und streiten und die so gar keinen Sinn ergeben. Dann ergriff mich ein seltsames Gefühl. Als ob jemand den Raum betreten hätte und mich nun tadelnd ansähe. Beklommen schloss ich die Tür und ging hinunter.

Die Poldi erwartete mich im Wohnzimmer und schien irgendwelchen Gedanken nachzuhängen. Neben ihrem Kaffee stand ein Glas mit Grappa. Sie wirkte erschöpfter als sonst, fiel mir nun auf, trank allerdings nur mäßig. Also für ihre Verhältnisse. Tatsächlich haute sie so im Laufe des Tages locker eine Flasche Prosecco und eine halbe Flasche Grappa weg. Die verschiedenen Espressi mit Schuss, die Schnapspralinen und das Weißbier zum Mittag nicht mitgezählt. Also auch wieder nicht wirklich wenig, mich hätte das gekillt. Onkel Martino hatte am Telefon durchblicken lassen, dass die Poldi gerade eine schwierige Phase durchmache. Offenbar war einiges gewaltig schiefgelaufen in letzter Zeit.

»Alles in Ordnung mit dir, Poldi?«

»Seh i etwa so aus?«

»Nee, echt nicht.«

»Dann frag halt auch nicht, als ob i eine depperte Alte wär, der man über die Straße helfen müsst.«

»Wo ist John?«, versuchte ich, das Thema zu wechseln.

»Unterwegs«, sagte die Poldi leise. »Er kommt bald zurück. Aber bis dahin sind wir längst weg.«

»Verrätst du mir, wohin?«

»Wir müssen den schönen Antonio finden.«

Wer auch immer das war.

Aber sie hatte »wir« gesagt. Meine Tante Poldi hatte tatsächlich zum ersten Mal »wir« gesagt.

Dass die Poldi mit einem Tansanier verheiratet war, hatte bis dahin niemand gewusst. Nicht meine Tanten, nicht die Signora Cocuzza, mit der die Poldi seit Kurzem doch so manches pikante Geheimnis teilte, und auch nicht Vito Montana, der grantige, kettenrauchende, zerknitterte und eifersüchtige Commissario ihres Herzens und – O-Ton Poldi – sexuelle Naturgewalt.

Kein Wunder also, dass Montana aus allen Wolken gefallen war, als eines schönen Sonntags nun Poldis Ehemann zurückgekehrt war, als sei nichts geschehen. Ich stelle mir diese erste Begegnung oft in verschiedenen dramatischen Abwandlungen vor. Von der unterkühlten Film-noir-Variante in Schwarz-Weiß über eine pathetische Stummfilmszene bis hin zur emotionalen Explosion eines neorealistischen italienischen Sozialdramas.

Das wahrscheinliche Szenario: Also Sonntagmorgen, Poldi und Montana im Bett, man kuschelt und fummelt noch ein bisschen rum wie so zwei Teenies, da klingelt es an der Haustür. Ring, ring, ring! Praktisch Sturmklingeln. Montana springt entnervt auf, schlingt sich ein Handtuch um die leicht fülligen Hüften, an denen sich die Poldi während ihrer nächtlichen Überfahrten über Ozeane der Lust so gerne festkrallt, und öffnet die Tür. Vor ihm auf der kleinen Via Baronessa steht ein großer, kräftiger Afrikaner, so Mitte vierzig, wachsames Gesicht, Kopf größer als Montana, helle Chinos, weißes T-Shirt, eine grüne Steppweste. Alles sehr gepflegt.

Und Montana so: »Ja?«

Und der Afrikaner auf Englisch so: »Ich suche Mrs. Oberreiter. Sie wohnt doch hier, oder?«

»Und wer sind Sie?«

Weil, Montana gleich schon wieder im Commissario-Modus, was den Mann da vor ihm nicht im Geringsten zu beeindrucken scheint. Viel weiter kommt Montana aber schon nicht mehr, dann da hört er hinter sich die Poldi schon aufstöhnen.

»Jalecktsmiamarsch!«

Und der Fremde so: »Poldi! Hey, Poldi, ich bin’s!«

Und Montana so: »Erklärst du mir mal, was hier eigentlich abläuft?«

Ja, und dann hat die Poldi ihm halt erklären müssen, wer der Fremde ist. Ihr Mann nämlich. John Owenya aus Tansania. Und damit fingen die Schwierigkeiten wieder an.

»Mein Mann«, wiederholte die Poldi leise, ohne Montana anzusehen. »Ehemann. Trauschein. Ring. Kirche. Tamtam. Du weißt schon.«

Sie wirkte verwirrt, starrte den Fremden an wie einen Geist, wie jemanden, der gerade von den Toten auferstanden ist.

»Lecktsmialleamarsch.«

»Poldi, ich bin’s wirklich!« Der Fremde trat noch einen Schritt näher, aber als er strahlend die Arme ausstreckte, wehrte die Poldi sofort ab.

»Halt! Keinen Schritt weiter.«

»Was ist hier eigentlich los?«, knurrte Montana, dem das Ganze immer weniger gefiel.

Die Poldi streichelte ihm über die Wange. »Ich wollte es dir demnächst erzählen, tesoro. Zieh dich an und mach uns einen Kaffee, ja?«

Zu John sagte sie: »Du musst da nicht rumstehen. Komm rein.« Sie führte ihn in den Innenhof und deutete auf einen Stuhl. »Setz dich, rühr dich nicht vom Fleck und fass nichts an.«

»Poldi, es ist wirklich wichtig, sonst …«

»Kein Wort! Mein Haus, meine Regeln. Oder du kannst gleich wieder abzischen.«

John hob die Hände. »Hakuna matata. Dein Haus, deine Regeln.«

Die Poldi schob Montana ins Schlafzimmer, damit er sich anzog, und ging selbst ins Bad. Sie schloss die Tür hinter sich ab, ließ sich auf den Toilettensitz fallen, vergrub das Gesicht in beiden Händen und weinte.

Erst nachdem sie ihre Fassung ein wenig wiedergefunden hatte, machte sie sich hastig frisch, schminkte und frisierte sich, duftete sich ein und warf sich ihren Lieblingskaftan über, den weißen mit den Goldfäden.

Als sie in den Innenhof trat, saßen sich Montana und John schweigend gegenüber. Montana schenkte gerade Kaffee aus einer kleinen Aluminium-caffettiera in zwei Espressotassen und ließ kein Auge von dem Fremden. John schien das nichts auszumachen. Er wirkte ernst, aber nicht nervös. Er hielt Montanas Blick stand und bedankte sich mit einem Nicken für den Kaffee.

Natürlich hatte Montana tausend Fragen, die er dem Fremden gerne peng-peng-peng in gewohnter Commissario-Manier um die Ohren geknallt hätte. Aber Montana hatte leider auch ein kleines Problem, denn wie die meisten Italiener seiner Generation sprach er nur schlecht Englisch, und das Bella-figura-Prinzip hinderte ihn daran, aufs Geratewohl loszuradebrechen. Also verließ er sich lieber auf seinen berühmten Montana-Blick, der die härtesten Jungs weichkochen konnte. Blöderweise schien der Blick an John einfach nur abzuperlen. Wer auch immer der Mann war, dachte Montana finster, er war einer von der ganz harten Sorte. Mindestens Auftragskiller. Oder schlimmer. Nämlich … Aber das wollte Montana sich lieber nicht ausmalen.

Die Poldi setzte sich zu den beiden an den Gartentisch, süßte ihren Kaffee und sah Montana geradeheraus an.

»Wie gesagt, Vito, das ist John Owenya aus Arusha, Tansania. Wir sind seit vier Jahren verheiratet. Ich habe ihn geliebt, aber er hat mir das Herz gebrochen und mir mein Haus weggenommen. Und nun sitzt er hier vor mir, der Scheißkerl, als wäre nie etwas gewesen. Ich habe keine Ahnung, was er will, und eigentlich will ich’s auch gar nicht wissen, denn was auch immer aus seinem Mund kommt, ist eine Lüge. Ach ja, und John ist übrigens ein Kollege von dir. Er ist Detective Sergeant beim Ministerium für Heimatschutz in Tansania.«

Montana stöhnte leise. Er hatte es befürchtet.

John räusperte sich, um etwas zu sagen, doch die Poldi bedeutete ihm mit dem Finger, dass er noch nicht dran sei. Sie sah Montana weiter unverwandt an und nahm seine Hand. Seine schöne, große Hand mit den dicht bewachsenen Fingerknöcheln, die sie so liebte und die so zärtlich und entschlossen zugleich sein konnte.

»Ich bin genauso fassungslos wie du. Ich werde dir alles erklären, aber wir müssen da jetzt durch, okay?«

Montana schüttelte den Kopf und lachte freudlos. »Du machst mich wirklich fertig, Poldi!«

Die Poldi küsste seine Hand und wandte sich nun endlich an John. Meine Tante Poldi war ein Muster an Contenance.

»Also gut. Ich will wissen, warum du hier bist und wie du mich gefunden hast.«

»Hakuna matata, Poldi«, seufzte John erleichtert. »Ich brauche deine Hilfe. Thomas ist verschwunden.«

Und in diesem Augenblick, stelle ich mir vor, war er wieder da. Der Jagdinstinkt. Der Moment, in dem die Poldi wieder Blut leckte.

»Wieso suchst du ihn ausgerechnet in Sizilien? Und wie hast du mich hier überhaupt gefunden?«

»Auch in Afrika hat die Polizei ein paar Möglichkeiten, Leute aufzuspüren«, erklärte John leicht gereizt. »Sein Handy war vor einer Woche in Taormina in einem WLAN eingeloggt. Danach nicht mehr. Ich habe sogar das Hotel ausfindig machen können, in dem er abgestiegen ist, und war in seinem Zimmer. Thomas hat sich als tansanischer Investor ausgegeben, hat für einen Monat im Voraus bezahlt, ist aber seit über einer Woche nicht mehr aufgetaucht. Und als ich dann gestern zufällig eine Zeitung mit deinem Bild sah, dachte ich …«

»… na, da schau ich doch mal auf einen Sprung vorbei und reiß ihr wieder das Herz raus!«

»Wer ist Thomas?«, schaltete sich Montana nun wieder ein.

»Sein Halbbruder«, erklärte die Poldi. »Netter Kerl, aber ein bisschen labil.« Und zu John gewandt: »Was heißt verschwunden?«

John atmete durch. »Vor zwei Wochen ist er aus Arusha verschwunden. Du kennst ihn, er verschwindet eben manchmal, und dann taucht er irgendwann wieder auf. Ein bisschen zerrupft und angeschlagen, aber ansonsten wohlauf. Wie eine Katze. Wenn man ihn fragt, sagt er immer …«

»… macht euch keine Sorgen, ich hab mich nur im Busch verlaufen«, ergänzte die Poldi den Satz.

John lächelte. »Im Busch verlaufen, ja. Das hat er immer gesagt.«

Und die Poldi bemerkte sehr wohl, dass John bereits die Vergangenheitsform verwendete.

Montana wollte wieder etwas fragen, aber die Poldi kam ihm zuvor. »Weil, in Tansania verläufst du dich nicht einfach im Busch. Weil, da gehst du erst gar nicht alleine rein. Weil, da verläufst du dich nämlich nicht nur, da wirst du von Löwen oder Hyänen zerfleischt oder verdurstest im besten Fall. Der Busch ist groß und wild, kein Spaß. Da hast du nichts verloren, wenn du kein Wildhüter oder Massai bist und wirklich Ahnung vom Buschleben hast. Aber Thomas ist weder das eine noch das andere, der ist ein Großstadtbengel durch und durch. Immer schick und cool in einer geliehenen Protzkarre. Ein sympathischer Angeber, der viel auf bella figura hält, du verstehst. So einer geht niemals in den Busch.«

Montana verstand. »Also ein Kleinganove, der hin und wieder ein Ding durchzieht.«

»Er ist eigentlich kein schlechter Typ«, erklärte die Poldi. »Aber ja, eigentlich will man nicht so genau wissen, wo er da für ein paar Tage wieder war.«

Montana zog die Stirn noch mehr in Falten als sonst. Gefiel ihm alles nicht. John gefiel ihm nicht, die Geheimnistuerei gefiel ihm nicht, dieser Thomas gefiel ihm nicht, das Jagdfieberleuchten in Poldis Augen gefiel ihm nicht, und noch viel weniger gefiel ihm, was John nun weiter berichtete.

»Daher haben wir uns zunächst keine großen Sorgen gemacht. Erst, als eine Woche nach seinem Verschwinden vier Typen mit Maschinenpistolen in einem Ford Explorer vor unserem Haus halten und …«

»Du meinst mein Haus«, unterbrach ihn die Poldi scharf.

»Ich meine damit unser Haus, Poldi.«

»Nein, lecktsmiamarsch, das meinst du nicht! Aber um das ein für alle Mal klarzustellen: Es ist mein Haus, nur meins. Nicht deins. Du hast es mir weggenommen, John. Du hast mich betrogen und hinterrücks enteignet.«

John hob die Arme. »Müssen wir das jetzt klären, Poldi?«

»Nein, aber wir werden es noch klären, verlass dich drauf. Also, was wollten diese vier Typen?«

»Sie haben nach Thomas gesucht.«

»Kigumbes Leute?«

John nickte. »Also, vier Typen mit Maschinenpistolen halten vor deinem Haus, springen aus dem Wagen und suchen Thomas. Ich habe nur so viel verstanden, dass Thomas sich mit etwas abgesetzt hatte, das Kigumbe gehört und das er um jeden Preis zurückhaben will.«

»Was denn?«

John sah sie prüfend an. »Haben sie nicht gesagt. Hast du vielleicht eine Ahnung?«

»Ich? Wieso sollte ich?«

»Du weißt schon, warum ich frage.«

»Ja, ich weiß, auf was du anspielst. Aber nein, John, ich habe keine Ahnung, was Thomas Kigumbe da gestohlen haben könnte. Aber wenn es stimmt, dann ist es in jedem Fall die bescheuertste Idee gewesen, auf die man kommen kann. Kigumbe lässt sich nicht einfach so bestehlen. Wenn du mich fragst, steckt Thomas ziemlich in der Scheiße.«

John nickte. »Allerdings.«

»Wer ist dieser Kigumbe?«, fragte Montana dazwischen.

»Ein Boss«, sagte die Poldi nur, und das reichte Montana schon, denn in Sizilien weiß man, was damit gemeint ist.

»Nach dem Vorfall mit seinen Leuten war ich bei ihm, um die Angelegenheit persönlich zu besprechen«, fuhr John fort. »Da hat er sich nach ›Mama Poldi‹ erkundigt.«

»Oh, wie aufmerksam!«, flötete die Poldi unschuldig. Sie tupfte sich die Stirn. »Was hast du ihm über mich erzählt?«

»Nur, dass du nach München zurückgekehrt bist und dass wir seitdem keinen Kontakt mehr hatten.«

Die Poldi schnappte sich die caffettiera. »Noch jemand Kaffee?«

Die beiden Männer starrten meine Tante düster an.

»Poldi?«

»Poldi!«

Poldis beide so unterschiedliche Kriminalkommissare des Herzens klangen wie ein Echo und wirkten auf einmal ganz einträchtig in ihrem Misstrauen. Und das gefiel der Poldi dann irgendwie auch wieder nicht.

»Was denn? Ich habe wirklich keinen Schimmer, was Thomas Kigumbe da gestohlen hat! Was hat Kigumbe denn gesagt?«

»Nur, dass es für ihn einen eher sentimentalen Wert habe. Und dass er es deswegen unbedingt wiederhaben will.« John nahm einen Schluck Espresso. »Und dass es auf dem freien Markt wahrscheinlich gut und gerne zehn Millionen Dollar bringen könnte.«