3

September 1939

Zunächst glaubte ich, es seien russische Flugzeuge, die da so tief flogen, dass Marysias Geschirr klirrte. Es war der erste Schultag und die Gehsteige waren voller Kinder mit Büchern und Schulranzen, die mittags nach Hause gingen.

Ich lehnte mich aus dem Fenster der neuen Wohnung meiner Schwester jenseits des Flusses San, weil ich auf ihre Rückkehr wartete, um mit ihr zu Mittag zu essen. Ich schirmte meine Augen mit der Hand gegen die Sonne ab. Die Flugzeuge hinterließen lange, schwarze Streifen am Himmel. Und dann explodierte das Hotel an der Ecke in einer Wolke von Mörtelstaub und Feuer.

Ich schrie. Alle schrien. Die Kinder auf der Straße rannten los, und das Wohnhaus bebte. Ich warf das Fenster zu, weil es so laut war, und hörte trotzdem weitere Explosionen in der Ferne. Rauchschwaden stiegen über der Stadt auf. Irgendetwas pfiff und dröhnte, und das Gebäude erzitterte so, dass meine Beine nachgaben und ich auf den Knien landete. Marysias Bild der Jungfrau Maria fiel von der Wand. Ich kroch über den Boden der Wohnung, und als ich die Tür aufstieß, war der Rauch so dicht, dass ich sie wieder zuwerfen musste. Das Treppenhaus stand in Flammen. Und ich befand mich im zweiten Stock.

Zum ersten Mal seit Jahren sehnte ich mich nach meiner Mutter.

Und dann dachte ich an unseren Bauernhof und das lange Geländer an einer Seite der Treppe. An Olga und Angia, die jauchzend darauf herunterrutschten, wobei sie die jeweils benötigte Zeit mit Tatas alter Taschenuhr stoppten. Ich schnappte mir eine Wolldecke von Marysias Bett, wickelte sie so um mich, dass sie vorne doppelt lag, holte tief Luft und rannte geradewegs hinaus in die Hitze des brennenden Treppenhauses.

Ich rutschte das brennende Geländer hinunter und klammerte mich dabei mit den von der Decke geschützten Ellbogen und Beinen fest. Die Deckenränder hielt ich zwischen den zusammengepressten Zähnen. Vom zweiten in den ersten Stock, vom ersten ins Erdgeschoss, während die Hitze mir Augen und Hals versengte, dann vom Erdgeschoss in die feuchte Kühle des Kellers, wo ich keuchte und würgte und die Zipfel der Decke austrat, die Feuer gefangen hatten.

Eine Gruppe von Menschen kauerte in der schummrigen Ecke. Sie wirkten überrascht, mich zu sehen. Ich starrte sie aus tränenden Augen an.

»Wisst ihr nicht, dass das Haus brennt?«, schrie ich.

Wir stoben auseinander wie Ratten, hinaus auf die von Trümmern übersäte Straße, und ich konnte kaum erkennen, wo ich mich befand. Die Luft war erfüllt von Staub, Rauch und Panik. Menschen schrien. Um Hilfe. Vor Schmerzen. Nicht nur einer, sondern Dutzende, aus allen Richtungen. Das Gebäude gegenüber von Marysias war in der Mitte gespalten, als hätte jemand ein Messer angesetzt. Aus einer Etage hing ein Bett, in perfektem Gleichgewicht, und ganz oben baumelte ein Mann an einem Balken, der mit den Beinen um sich trat. Ein Flugzeug donnerte an ihm vorbei, in der Ferne waren Explosionen und die Glocke eines Krankenwagens zu hören.

Und dann bewegte sich im Schutt zu meinen Füßen eine Hand.

Ich buddelte den Mann aus – ein graues, blutiges Gespenst zwischen herabgefallenen Ziegeln. Bevor ich auch nur nach seinem Namen fragen konnte, stolperte er davon und murmelte dabei etwas von seiner Frau und den Deutschen. Ich rannte nach Hause. Nicht zum Bauernhof, sondern zum nächstbesten Zuhause. Rennend überquerte ich die Brücke über den Fluss, weil mir mittendrin einfiel, was für ein gutes Ziel für einen Bombenangriff die Brücke abgab. Ich sprintete durch die Passage bei der Mickiewicza Nummer 7 hinein in den Hof, und sobald meine Füße die Schwelle des Diamant’schen Hauses übertreten hatten, war Izio da. Halb zog, halb trug er mich in den Keller.

Max war bereits unten. Herr und Frau Diamant, Henek sowie Chaim, der erst einen Monat zuvor aus Italien zurückgekehrt war, saßen neben ihm im Staub, zusammen mit sämtlichen Nachbarn. Frau Diamant breitete die Arme aus und ich warf mich hinein, während Izio sich auf meiner anderen Seite niederließ.

»Du hast dich verbrannt«, sagte er und deutete auf mein Handgelenk. Ich hatte es gar nicht bemerkt. Er hielt meine von Brandblasen bedeckte Hand in den Schatten, um seiner Mutter den Anblick zu ersparen.

Panzer ließen die Straße über unseren Köpfen erbeben, aber ich fühlte mich trotzdem in Sicherheit.

Irgendwer hatte ein batteriebetriebenes Radio mitgebracht, und wir hörten, wie Präsident Mościcki die jungen Männer Polens dazu aufrief, sich in Lwów zu sammeln. Und niemals deutsche Soldaten zu werden. Die männlichen Mitglieder der Familie Diamant besprachen sich im Flüsterton. Vielleicht war das Thema für sie nicht neu. Eine Viertelstunde später hatten die vier Jungen ihre Mutter schon zum Abschied geküsst und waren auf dem Weg nach Lwów, mit nichts weiter als der Kleidung, die sie trugen, und ein wenig Brot in der Tasche.

Meine verbrannte Hand fühlte sich immer noch warm an, weil Izio sie gehalten hatte.

Frau Diamant stützte den Kopf in die Hände und weinte, und ich umarmte sie und strich ihr übers Haar. Jetzt war ich für sie verantwortlich. Meine alte Dame. Meine Babcia.

Herr Diamant schüttelte den Kopf. »Di welt is schejn, nor die mentschn machn si mies«, sagte er. »Die Welt ist schön, aber die Menschen machen sie hässlich.«

Erst viel später begriff ich, dass die Diamant-Brüder nicht dem Aufruf des Präsidenten gefolgt waren. Sie waren geflohen, weil sie Juden waren.

Eine Woche lang saßen wir im Keller, lauschten den ankommenden Russen und den weinenden Babys und dem Geschützfeuer, das von den Dächern auf die Straßen schallte. Einmal am Tag riskierte jemand sein Leben, um die Treppe hinaufzurennen und Essen, Wasser sowie Kerosin für die Lampe zu holen. Und als die Waffen schließlich schwiegen, keine Panzer mehr zu hören waren und wir es wagten, aus unserem Loch zu kriechen, war Przemyśl eine geteilte Stadt. Der Teil jenseits des San, wo meine Schwester wohnte, war jetzt deutsch. Unsere Seite war russisch.

Hitlers Krieg war bis zu unserem Flussufer vorgedrungen.

Und zum Stillstand gekommen.

Also begruben wir die Toten, schaufelten den Schutt beiseite, wechselten Fensterscheiben aus, und ich putzte den Laden. Die Straßen hatten nun Löcher, fehlende Gebäude erinnerten an Zahnlücken. Russische Soldaten patrouillierten auf den Hauptstraßen und am Bahnhof, und die Juden aus dem von den Deutschen besetzten West-Przemyśl wurden über den Fluss vertrieben. Die Brücke war schließlich doch bombardiert worden, und so sahen wir sie in langen Reihen über die Eisenbahnbrücke strömen, während hinter ihnen der Rauch der brennenden Synagoge aufstieg.

In den jüdischen Vierteln wurde es eng, und das Zimmer, das einst Chaim und Max bewohnt hatten, wurde vom Einwohneramt Regina und Rosa zugeteilt, zwei deutschen Jüdinnen, die zuvor schon einmal vor Hitler geflohen waren und durch die zweite Flucht nicht freundlicher wurden. Sie sahen sich in ihrem neuen Zimmer um – einem eigenen kleinen Apartment mit einem Waschbecken und einem Ofen –, schlossen die Tür und sprachen nicht mit uns. Und da unser Teil von Przemyśl sowieso praktisch in Russland lag, kamen die Brüder Diamant aus Lwów zurück.

»Habt ihr eure Schwester gesehen?«, fragte Frau Diamant. »Wie geht es meiner Ernestyna?«

»Niemand hat sie gesehen, Mame«, sagte Chaim. »Nicht seit den Bombenangriffen.«

Ich beobachtete das Gesicht meiner Babcia aufmerksam, aber es verriet nur einen Moment lang Bestürzung. »Dann ist sie irgendwo hingegangen, wo es sicher ist«, sagte Frau Diamant. »Zu meinen Cousins oder zur Schwester eures Tate in Wien. Bestimmt bekommen wir einen Brief, wenn wieder Post hereinkommt.« Anschließend rührte sie weiter in einem großen Suppentopf. Max’ Blick begegnete meinem, und er schüttelte den Kopf. Ihre Schwester war bestimmt nicht in Wien.

Auf der Straße hörte ich Gerüchte. Man tuschelte, während wir im Keller gewesen waren, habe man hundert Juden, alte Männer und kleine Jungen, durch ganz Przemyśl und auch die Mickiewicz-Straße entlanggetrieben. Fiel jemand hin, hätten die deutschen Soldaten zugeschlagen. Und als keiner mehr gehen konnte, habe man sie alle auf den Friedhof gebracht und dort erschossen.

Aber ich hörte nicht auf die Gerüchte. Ich glaubte sie nicht. Das würde doch niemand tun. Und die Bomben hatten auf dem Friedhof für viele frische Gräber gesorgt.

Ich wollte es nicht glauben, und das machte es mir leicht, mich selbst zu belügen.

Ich arbeitete mit Frau Diamant im Laden. Herrn Diamant ging es gesundheitlich besser, und er buk zweimal die Woche in einem Café Brot. Chaim bekam eine Stelle im städtischen Krankenhaus, und Max arbeitete die Woche über zehn Kilometer südlich im Dorf Niżankowice als Zahnarzthelfer. Henek und Izio gingen wieder zur Universität.

Izio war der Gleiche wie immer. Aber er war auch anders. Morgens schaute er im Laden vorbei. Ich sang ihm jeden Morgen etwas vor. Er brachte mir für den Fall, dass Hitlers Armeen den Fluss überquerten, deutsche und jiddische Beleidigungen bei, und abends tanzten wir am offenen Fenster zu den Orchesterklängen, die aus dem Lokal gegenüber zu uns hereinwehten. Er erzählte mir das meiste. Aber nicht alles. Er fing an zu rauchen. Ich fragte Max einmal, was sie auf dem Weg nach Lwów gesehen hätten, und er antwortete bloß: »Blut«. Von da an fragte ich nicht mehr.

Als die Post wieder funktionierte, bekam ich einen Brief von meiner Mutter. Sie war mit meinem kleinen Bruder und meiner Schwester in Sicherheit auf dem Bauernhof, während meine älteren Geschwister über ganz Polen verstreut lebten. Frau Diamant bekam keinen Brief, obwohl sie jeden Tag nachsah. Ich kaufte ein Paar hochhackige Schuhe, ging ins Kino und saß abends mit Izio zusammen, atmete den Rauch seiner Zigaretten ein, während auf der anderen Seite des Flusses deutsche Lichter funkelten.

Im Frühling wurde ich sechzehn. Frau Diamant begann mich zu den monatlichen Versammlungen der Ladenbesitzer zu schicken. Der Weg durch die Stadt war anstrengend für sie, die russischen Bestimmungen waren dumm. Ich musste nur irgendwo hinten sitzen und »hier« antworten, wenn der Name Leah Diamant aufgerufen wurde, und alles berichten, was mir zu Ohren gekommen war und möglicherweise von Belang sein konnte. Als ich zum dritten Mal zu dem Treffen ging, kam ich zu spät. Möglicherweise hatte mich auf dem Markt ein Karton preiswerter Strümpfe aufgehalten. Ich bemühte mich, die Tür so leise wie möglich hinter mir zu schließen, als ich den Mann auf der Bühne sagen hörte: »Leah Diamant?«

»Hier!«, rief ich, woraufhin alle Anwesenden – lauter Männer mittleren Alters und ein, zwei Frauen – die Köpfe wandten. Es wurde getuschelt. So ein junges Mädchen, und schon ein eigenes Geschäft. Wie ehrgeizig! Dieses Fräulein Diamant ist genau das, was unsere Stadt braucht. Einige klatschten Beifall, andere stimmten ein, und es hallte im ganzen Saal wider. Ich setzte mich auf den erstbesten freien Platz, mit rotem Kopf und entschlossen, nur den Mann auf der Bühne anzuschauen, mir anzuhören, was er zu sagen hatte, und dann heimzulaufen in mein kleines Versteck hinter dem Vorhang.

»Alle Achtung!«, flüsterte mir eine Stimme ins Ohr.

Ich warf einen Blick zur Seite. Neben mir saß ein junger Mann mit Pickeln am Kinn, die das Rasieren sicher zu einer Herausforderung machten.

»Betreiben Sie den Laden schon lange?«

»Nein«, murmelte ich. An meiner Wange spürte ich seinen Atem.

»Haben Sie ihn von Ihren Eltern geerbt?«

Ich gab keine Antwort, sondern starrte den Mann auf der Bühne an, als wäre er das einzig Interessante auf der Welt.

»Meine Eltern haben eine Fleischerei«, flüsterte der Junge. »Aber jetzt ist es meine. Das heißt, ich betreibe sie natürlich nur. Die Metzger sind bei mir angestellt. Drei an der Zahl. Ich selbst mache mir nicht die Hände schmutzig, mein Engel. Wo wohnen Sie?«

Ich wandte mich ihm zu. »Müssen Sie immer den Mund offen haben, oder können Sie ihn auch schließen?«

Konnte er nicht. Und er brauchte auch nicht lange, um meine Adresse herauszufinden, denn schon am nächsten Tag stand er im Laden. Genau wie viele andere Teilnehmer der Versammlung. Alle wollten die junge Geschäftsfrau sehen, und wir verkauften an einem einzigen Nachmittag die Hälfte unserer Bestände. Frau Diamant nickte und lächelte, wenn man sie fragte, ob ich ihre Tochter sei. Sie stieß mich in die Seite, damit ich es ihr gleichtat, und flüsterte, am liebsten würde sie mich zweimal die Woche zu einem Treffen der Ladeneigentümer schicken. Der pickelige junge Mann kaufte ein halbes Kilo Äpfel und Mineralwasser, stellte sich als Zbyszek Kurowski vor und lud mich ein, mit ihm in einem Restaurant essen zu gehen.

Ich lehnte ab. Am nächsten Tag kam er wieder und fragte erneut. Ich lehnte auch diesmal ab, in schärferem Ton. Er sagte, bei ihm stünden die Mädchen Schlange und er bräuchte nur mit dem Finger zu schnipsen. Ich gab zurück, das sei gut so, er solle nur schnipsen, und zwar schnell. Zornentbrannt verließ er den Laden, und ich war froh, ihn los zu sein.

Doch drei Tage später, als der Laden so voll war, dass Izio nach dem Unterricht aushelfen musste, grinste er mich plötzlich mit zusammengekniffenen Augen an und deutete über den Kopf eines russischen Soldaten hinweg zur Tür. Da stand Zbyszek, diesmal in Begleitung eines älter aussehenden Mannes und einer Dame. Die Dame trug Handschuhe und einen orangefarbenen Pelzkragen, der hochgestellt bis zu ihren Ohren reichte. Ich hatte gerade ein Päckchen verschnürt, als sie zu mir an die Theke trat, sich als Frau Kurowska vorstellte und ein Dutzend Sahnetörtchen verlangte. Ich holte sie, und sie ließ sich noch eine Tafel Schokolade mit Mandeln sowie zwei Kilo Äpfel geben. Und während ich die Äpfel abwog und ihre Waren verpackte, stellte sie mir Fragen. Wie viele Stunden ich pro Woche arbeitete? Ob ich oft krank sei? Ob ich ein Bankkonto hätte? Wo ich meine Kleidung kaufte?

Zbyszek stand, die Hände auf dem Rücken, neben seinem Vater und blickte hoch zur Decke. Ich merkte, dass Frau Diamant und Izio näher gekommen waren und versuchten zuzuhören, ohne dass es auffiel. Ich reichte der Frau ihre Päckchen und spürte, wie mir das Blut ins Gesicht stieg.

»Fräulein Podgórska«, sprach Frau Kurowska überdeutlich aus. »Sie sind anscheinend eine gute und flinke Arbeiterin, und man unterhält sich gern mit Ihnen. Ich glaube, sie würden gut in unseren Haushalt passen.«

Zwei Sekunden lang glaubte ich, die Frau wolle mich als Dienstmädchen anwerben. Doch ein Blick hinüber zu den männlichen Kurowskis belehrte mich eines Besseren. Inzwischen hörte fast der ganze Laden zu, und Izio biss sich auf die Lippen, um sein Lächeln zu unterdrücken.

»Danke«, sagte ich, »aber ich werde wohl nicht …«

»Und so eine gute Familie«, fuhr sie mit erhobener Stimme fort. »Katholische Bauern. Aus Bircza. Nicht zu hoch, nicht zu niedrig.« Sie beugte sich vor. »Bei welchem Arzt waren Sie dort, Fräulein Podgórska?«

»Magda«, mahnte Herr Kurowski und zupfte seine Frau am Ärmel. Sie scheuchte ihn weg.

»Geh weg und sei still, Gustov. Das hier ist ein Frauengespräch. Du …«

»Entschuldigen Sie«, unterbrach ich. »Aber woher kennen Sie meine Familie? Ich habe sie Ihrem Sohn gegenüber nie erwähnt – «

»Ha!« Frau Kurowska sah sich um, entzückt über die vielen Zuhörer. »Sobald mein Zbyszek mir erzählt hatte, er habe ein Mädchen gefunden, das ihm gefalle, habe ich einen Detektiv engagiert. Sie sollten das Gleiche tun, Fräulein Podgórska. Klare Verhältnisse sind immer das Beste, oder? Aber ich kann Ihnen gleich hier und jetzt sagen, dass mein Sohn ein guter Junge ist. Er raucht nicht. Er trinkt nicht. Er hat beste Aussichten und keinerlei Krankheiten. Alles, was es für eine Ehe braucht. Und Sie sollten bald heiraten, Fräulein Podgórska, bevor einer daherkommt, der es nicht wert ist, und Sie verdirbt.«

Ich wusste wirklich nicht, was ich entgegnen sollte.

»Aber alles Weitere können wir beim Abendessen besprechen.«

Ich schüttelte den Kopf. »Nein.«

»Wann hören Sie auf zu arbeiten?«

»Nein!«

Frau Kurowska wirkte ratlos.

»Ich habe nicht vor zu heiraten, und Ihren Sohn erst recht nicht! Auf Wiedersehen und … danke für Ihren Besuch.«

Die Frau zog sich, eine Hand an ihrem Pelzkragen, mit ihren Einkäufen zurück, und Zbyszek trat an ihrer Stelle an die Theke. Er zwinkerte.

»Kein Grund, unhöflich zu sein«, sagte er. »Es ist ein gutes Angebot. Alles, was meine Mutter sagt, ist wahr. Meine Eltern wollten Sie bloß einmal begutachten, wissen Sie, falls Sie …«

»Ich bin kein Kleidungsstück, das man unter die Lupe nimmt, bevor man es kauft!«, fauchte ich.

Inzwischen sahen alle Kunden im Laden wie gebannt zu. Selbst der russische Soldat, der gar kein Polnisch sprach.

»Sie …« Mein Blick umfasste alle drei Kurowskis. »Sie können alle … gejn in drerd

Die Hälfte der Zuhörer schnappte hörbar nach Luft. Ich hatte den Kurowskis soeben gesagt, sie sollten sich zum Teufel scheren. Auf Jiddisch. Dass mir das möglich war, war allein Izio zu verdanken.

Frau Kurowska wandte sich auf dem Absatz um und stieß heftig die Tür auf, ihr Mann folgte ihr auf dem Fuß, aber Zbyszek grinste nur.

»Wie arrogant Sie sind!«, sagte er. »Mir gefällt das. Bis bald, mein Engel.« Er warf mir eine Kusshand zu und die Tür schloss sich hinter ihm.

Im Laden war es so still, wie ich es noch nie erlebt hatte. Dann begann meine Babcia so lauthals zu lachen, dass sie fast von ihrem Stuhl fiel. Alle im Laden lachten, und nach ein paar Minuten lachte ich ebenfalls mit. Sogar Izio lachte, wirkte aber nachdenklich.

Auch abends am Fensterbrett noch, wo er, den Kopf auf einem Kissen und die Füße gegen das Sofa seiner Mutter gestützt, im Dunkeln rauchte. Wir hatten über meine Abneigung gegen Hühner gesprochen, solange sie nicht auf dem Teller lagen, über den Unterschied zwischen dem deutschen »Nichtsnutz« und dem jiddischen »nudnik« (es gab keinen), und darüber, ob die Russen es je hinkriegen würden, auf dem Platz die Statue aufzustellen, oder ob sie einfach weiterhin die Kinder auf Lenins Kopf herumklettern lassen würden. Aber inzwischen war es spät, und Izio war still. Er dachte nach. Das tat er manchmal. Ich fand, dass das Glimmen seiner Zigarette ihn geheimnisvoll aussehen ließ.

Dann sagte er: »Fusia, ich habe noch drei Jahre Medizinstudium vor mir. Anschließend, meint Chaim, kann er mir eine Stelle im Krankenhaus verschaffen. Wenn nicht …«

Er meinte, wenn nicht die Deutschen kämen. Aber die Deutschen würden nicht kommen. Hitler hatte einen Pakt mit Stalin geschlossen. »Die Deutschen haben schon einen Krieg verloren«, sagte Herr Diamant gern. »Und Russland ist so ein großes Land …«

»Aber falls die Deutschen doch kommen«, sagte Izio und stieß den Rauch aus, »dann werden Chaim und Max und Henek und ich wieder fliehen müssen.«

»Aber wieso denn?« Die Flucht war beim letzten Mal vergebens gewesen.

Izio setzte sich auf. »Hast du nicht hingehört? Oder dir die Ohren zugehalten? Du weißt doch, was die Nazis den Juden antun.«

»Aber das sind doch nur Geschichten …«

»Diese Geschichten sind wahr, Stefania.«

Ich runzelte die Stirn und blickte aus dem Fenster. Es traf mich, dass er meinen richtigen Namen verwendete. Von draußen drang das laute Geräusch russischer Stiefel auf dem Gehweg herein und verlor sich dann in der Ferne.

Izio fuhr fort: »Möglicherweise wird es also noch lange dauern, bis ich mein Diplom in der Tasche und eine Arbeit habe, mit der ich eine Frau ernähren kann. Drei oder vier Jahre, vielleicht auch fünf. Ich frage mich, Fusia, ob du vielleicht so lange warten könntest.«

Ich blinzelte in das dunkle Wohnzimmer, aber Izio hatte seine Zigarette ausgedrückt und ich konnte sein Gesicht nicht sehen. »Du möchtest, dass ich auf deine Frau warte?«

»Nein, du Dummkopf.« Er seufzte. »Ich bitte dich, mich zu heiraten.«

Ich schwang die Beine vom Fensterbrett.

»Du wirst mich doch nicht zum Teufel schicken, oder?«, fragte er. »Oder mir einen Tango singen?«

Ich wusste in diesem Moment nicht einmal, wie ein Tango klingt.

»Du wirst doch nicht aus dem Fenster fallen?«

Tatsächlich lief ich Gefahr, hinauszustürzen. Als ich stand, stellte ich überrascht fest, dass mir die Knie zitterten, und Izio erhob sich vom Boden. Er nahm meine beiden Hände in seine.

»Drei Jahre«, sagte er. »Wahrscheinlich sogar länger. Wirst du auf mich warten?«

»Aber was werden deine Eltern dazu sagen?« Ich dachte an die Synagoge am Samstag und eine Kirche am Sonntag. Was würde meine Mutter sagen?

»Du gehörst jetzt schon zur Familie. Das weißt du doch. Aber vielleicht sollte es unser Geheimnis bleiben. Fürs Erste.«

So wie bisher. Er strich mir übers Haar. »Stefania, Stefi, Stefushka, Stefusia, Fusia Podgórska«, flüsterte er. »Wirst du auf mich warten?«

Und dann küsste ich Izydor Diamant. Ich küsste ihn lange. Und einen Monat später fielen erneut deutsche Bomben auf Przemyśl.