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Juni 1941

Diesmal kamen die Explosionen vor der Morgendämmerung und rissen uns aus dem Tiefschlaf. Aber ich wusste sofort, was los war. Ich trat hinter meinem Vorhang hervor, und Max packte mich und seine Mutter an der Hand, um uns hinauszuziehen auf die bebende Treppe, wo wir uns den vielen anderen Menschen im Nachtgewand anschlossen, die zum Keller des Wohnhauses hinuntereilten. Chaim und Henek waren hinter uns, Izio trug seinen kranken Vater wie einen Sack Kartoffeln.

Wir zitterten in unseren dünnen Nachthemden, doch dann wurde es warm in dem überfüllten Keller. Stickig. Kinder weinten, und Dreck rieselte auf uns herab. Henek beschwerte sich, ich würde ihm auf die Pelle rücken, und ich trat ihm gegen das Schienbein. Izio legte den Arm um mich. Frau Diamant sah es und schüttelte vor sich hin murmelnd den Kopf.

Als die Sonne ihre halbe Bahn über den Himmel gewandert war, schwiegen die Bomben und Artilleriegeschosse, und ich hörte die Maschinengewehre – fern zunächst, dann rückten sie näher. Armeefahrzeuge rasten an unserem Haus vorbei. Izio blickte zu mir herunter und ich sah ihn an, und dann wandten wir beide den Blick Max zu. Wenn die Deutschen kämen, würden sie fliehen müssen. Aber ich dachte, Herr Diamant behielte vielleicht recht und Russland würde gewinnen.

Jetzt waren die Gefechte ganz nah, Geschützfeuer und splitterndes Glas waren zu hören, und als die Schüsse schließlich seltener wurden und dann ganz verstummten, kroch Henek hinaus auf die Straße. Dort standen, wie er erzählte, tote deutsche Soldaten wie Mannequins in den Schaufenstern. Ein paar Leute im Keller jubelten. Bis die Geschützfeuer wieder einsetzten. Ich presste die Hände auf die Ohren, um die Verwundeten nicht schreien zu hören, und als endlich Ruhe einkehrte und Henek sich erneut die Treppe hinaufstahl, sagte er, es sei überhaupt niemand auf den Straßen. Keine Verwundeten, keine Fahrzeuge. Und die in den Schaufenstern ausgestellten, von Besenstielen aufrecht gehaltenen toten Soldaten seien jetzt Russen, die Gesichter mit Hakenkreuzen beschmiert.

»Die Deutschen kommen, Mame«, sagte Chaim.

Frau Diamant fuhr zusammen, als sei sie aus dem Schlaf erwacht. »Nach oben!«, sagte sie. »Schnell! Alle!«

Wir folgten ihrem Befehl, stiegen über die vielen unglücklichen Menschen hinweg und die Treppe hinauf.

»Fusia«, sagte Frau Diamant, die beim Hinaufsteigen schnaufte. »Hol die Bargeldkassette unter dem Bett heraus. Zähl das Geld und teile es durch fünf, ja? Jungs, zieht eure Stiefel und zwei Schichten Kleidung an, damit ihr in den Rucksäcken Platz für Essen habt. Und geht dann in den Laden und nehmt Brot mit, so viel ihr tragen könnt …«

Als ich das Geld aufgeteilt hatte, waren die Jungen angezogen und Frau Diamant stopfte leere Flaschen in ihre Rucksäcke, weil aus der Leitung kein Wasser kam. Chaim nickte mir zu, und Henek wandte den Blick ab. Max lächelte kurz, während Izio mich auf die Stirn küsste.

»Warte auf mich«, flüsterte er.

»Pass auf unsere Eltern auf«, sagte Max. »Bitte«, fügte er hinzu.

Und noch bevor ich antworten konnte, waren sie verschwunden.

Ich hatte nicht geglaubt, dass es so kommen würde.

Herr Diamant sackte in seinem Sessel zusammen, zu fassungslos, um zu rauchen, und ich hatte eine große, blutende Wunde irgendwo tief in meiner Brust. Frau Diamant bemerkte es. Sie hatte ja auch bemerkt, wie Izio den Arm um mich legte, und der Kuss auf die Stirn war ihr auch nicht entgangen. Sie nahm ihre Brille ab und rieb sie an dem Mantel, den sie über dem Nachthemd trug. Ihr Gesicht war staubbedeckt, nur um die Augen je ein sauberer Kreis, und ich nahm bei ihr ein Gefühl wahr, das ich noch nie gegen mich gerichtet erlebt hatte. Wut.

Es traf mich wie ein Schlag in die Magengrube.

Ich ging zum Waschbecken, um die Teller zu spülen, die wir zwei Tage zuvor stehen gelassen hatten, doch als ich den Hahn aufdrehte, passierte nichts. Ich hatte vergessen, dass es kein Wasser gab. Nur die Tränen, die über mein Gesicht strömten. Da seufzte Frau Diamant, zog mich in ihre Arme, nannte mich ihr ketzele, und wir weinten zusammen um ihre Söhne, während Krankenwagen vorüberfuhren.

Wir hätten uns die Tränen für später aufsparen sollen.

Die deutsche Armee marschierte die Mickiewicz-Straße entlang, Reihe um Reihe, mit schweren Stiefelschritten, die man durch die geschlossenen Fenster hören konnte. Rosa und Regina kamen aus dem Keller, schüttelten in unserem Flur den Staub von ihren Kleidern, bis wir niesen mussten, und warfen ihre Tür zu. Ich dachte über ihre Flucht aus Deutschland nach. Und über Izio und all die Geschichten, die ich gehört hatte und nicht glauben wollte. Die Geschichten, die er glaubte. Ich sah Herrn Diamant an, schwach und dünn, und meine Babcia, weich wie warme Butter mit ihrem tränenüberströmten Gesicht. Ich stellte mich mit dem Rücken zum Fenster, hinter dem die Armee marschierte, und sagte: »Ich glaube, wir sollten fliehen.«

Es war etwas Überzeugungsarbeit nötig, aber ohne ihre Söhne war Frau Diamant weniger schwer zu überreden, als ich vermutet hatte. Wir sollten nach Osten gehen, sagte ich. Nach Niżankowice. Vielleicht wären den Deutschen auf dem Land die Juden eher egal. Anders als in der Stadt. Sie müssten sich schon anstrengen, um uns zu finden.

Frau Diamant nähte ihren Schmuck in ihren Hüfthalter ein und unser Geld in ihr Mieder, während ich Wasser holte, die Küche aufräumte, Essen einpackte und die Leuchter versteckte. Ich war mir nicht sicher, ob Regina und Rosa nicht die Wohnung plündern würden, während wir fort waren. Wir sagten ihnen nicht einmal, dass wir gingen.

Züge fuhren nicht, also schlugen wir einen Weg durch die Stadt ein, wobei wir uns so weit wie möglich abseits der großen Straßen hielten und uns schließlich einer Reihe von Menschen aus Przemyśl anschlossen, die wie wir versuchten, den Deutschen zu entkommen. Herr und Frau Diamant mussten etwa alle fünfundvierzig Minuten eine Pause machen und sich ausruhen, obwohl ich all unsere Habe im Rucksack trug. Mit zusammengebissenen Zähnen zwang ich meine Füße zur Langsamkeit. Ich starrte in den Himmel und wartete darauf, dass sie nachkamen. Was tat ich da bloß? Wie kam ich dazu, die Verantwortung für zwei Menschen zu übernehmen, die meine Großeltern hätten sein können? Es war eigentlich nicht meine Aufgabe, diese Entscheidungen zu treffen.

Aber es gab niemanden außer mir, der es hätte tun können.

Teil zwei meiner Ausbildung hatte begonnen.

Am Spätnachmittag hatten wir erst die Hälfte der Strecke nach Niżankowice zurückgelegt. Wir waren mit einer Gruppe älterer Menschen – einige älter als Herr Diamant –, Frauen mit Kindern und Kranken unterwegs, die auf Leiterwagen transportiert wurden. Die Langsamen. Entlang der Straße lagen Waffen verstreut, die fliehende Russen hatten fallen lassen und die man sich einfach hätte nehmen können. Wir hörten einzelne Schüsse, Maschinengewehrsalven in den Wäldern, unmittelbar gefolgt von Schreien junger Männer. Wir kamen an drei Menschen vorbei, die am Straßenrand ihre Schusswunden versorgten. Ich wollte stehen bleiben und etwas für sie tun, aber ich hatte ja selbst zwei Alte, um die ich mich kümmern musste, und konnte nicht helfen.

Die Sonne schien immer noch heiß, Herr und Frau Diamant waren erschöpft, und wir hatten schon lange kein Wasser mehr, also führte ich unsere Gruppe von der Straße weg einen Weg entlang, wo ich einen Bauernhof mit Brunnen zu finden hoffte.

Und den fanden wir tatsächlich. Ein Haus mit schrägem rotem Dach und einem Stall, in dem Kühe muhten. Direkt vor dem Haus gab es einen überdachten Brunnen. Ich kniete mich dankbar davor, während die anderen erleichtert seufzten, zog an der Kette, an deren Ende ein voller Eimer hing, und versuchte eine Flasche mit sehr schmaler Öffnung zu füllen. Herr und Frau Diamant halfen einander schwer atmend, sich auf dem Boden niederzulassen.

»Was erlaubst du dir eigentlich?«

Als ich aufblickte, sah ich eine Frau, die ein Kopftuch trug. Und blickte in die Mündung eines russischen Gewehrs.

»Entschuldigen Sie«, sagte ich. »Ich hätte klopfen sollen.« Ich schenkte ihr mein schönstes Kauf-mir-eine-Praline-Lächeln, aber es funktionierte nicht. Nicht diesmal. »Meine … meine Freunde sind müde, und wir reisen schon lange …«

»Ich weiß, wer ihr seid«, sagte die Frau und deutete mit ihrer Waffe auf das bunt zusammengewürfelte Grüppchen in ihrem Hof. »Judenschweine. Und jetzt fort mit euch!«

Ich sah mir die Gruppe an. Waren es Juden? Ich wusste es nicht. »Aber …«

»Haut ab oder ich schieße!«, brüllte sie.

Manche Menschen mochten keine Juden. Das wusste ich natürlich. Aber wie man Kindern und ein paar zerlumpten Alten etwas zu trinken verweigern konnte, überstieg meine Vorstellungskraft. Ich half Herrn Diamant auf die Beine und sah zu, wie die Menschen sich mit gebeugten Köpfen langsam zur Straße zurückbewegten. Ich setzte den schweren Rucksack auf und sah noch einmal die Frau mit dem Gewehr und dem Brunnen voller Wasser an. Und plötzlich war ich so wütend, dass mein Blick sich trübte.

»Ich hoffe, dass Sie eines Tages am Verdursten sein werden«, sagte ich zu ihr, »und Ihnen dann jemand das Wasser verweigert, so wie Sie es bei diesen Menschen getan haben!«

»Komm, ketzele«, flüsterte Frau Diamant. Ich wandte mich um und zuckte gleich darauf zusammen, als ein Schuss krachte. Etwas zischte an meinem Kopf vorbei, und aus dem Arm eines Mannes direkt vor mir, den ich nicht kannte, quoll Blut. Er schrie auf, bewegte sich aber weiter den Weg entlang. Keiner von uns blieb stehen, ehe wir wieder auf der Straße waren. Frau Diamant verband mit ihrem Schal die Wunde des Fremden, und ich hätte mich am liebsten übergeben, konnte es aber nicht.

Wenn ich mich um sie kümmern sollte, wenn ich für sie verantwortlich war, wenn irgendjemand von uns überleben sollte, dann musste ich lernen, mein Temperament zu zügeln. Egal, wie ungerecht etwas war. Egal, wie wütend es mich machte.

Ob mir das gelingen würde? Ich war mir nicht sicher.

Wir schleppten uns weiter, bis wir kurz vor Mitternacht das Dorf Niżankowice erreichten. Dort klopfte ich bei Frau Nowak, der katholischen Frau, bei der Max die Woche über gewohnt hatte, als er bei Dr. Schillinger arbeitete. Sie war überrascht, uns zu sehen, schien aber nichts gegen uns zu haben. Sie brachte uns in Max’ Zimmer unter, und ich glaube, Herr und Frau Diamant waren schon eingeschlafen, ehe ihre Köpfe auch nur die Kissen berührten.

Ich sah mich in Max’ Zimmer um. Es war das Zuhause eines jungen Mannes. In der Ecke standen schmutzige Schuhe, neben dem Bett stapelten sich medizinische Fachbücher und auf dem Sekretär standen Bilder. Eins zeigte seine Geschwister, eines ihn selbst mit Hut und Mantel vor dem Laden, eines ein Mädchen, das ich nicht kannte, und eines mich mit seiner Mutter, wie ich überrascht hinter dem Pralinenregal hervorlächelte. Ich fand seine Ersatzdecke und schlief auf dem Boden.

Ich würde den Laden vermissen.

An nächsten Nachmittag schlich ich mich, als die Diamants ruhten, aus dem Haus und auf den Dorfplatz. Wir brauchten etwas zu essen, eine Arbeit, eine dauerhafte Bleibe. Ich dachte mir, dass vielleicht ein Laden eine Aushilfe brauchen konnte. Oder ein Haus geputzt werden musste. Was ich vorfand, waren drei reglose Gestalten, die auf dem Erdboden lagen – ob tot oder bewusstlos, hätte ich nicht sagen können –, und ein Dorf am Rande des Aufstands. Zwei Männer stiegen abwechselnd auf eine Kiste und brüllten über den Lärm einer aufgebrachten Menge hinweg. Sie waren unrasiert, trugen Stiefel und Overalls wie Fabrikarbeiter, aber ihr Haar war kurz geschnitten. Verdächtig akkurat. Ich zog mich hinter einen geparkten Lieferwagen zurück.

»Dieser Krieg wurde von den Juden angezettelt!«, schrie der Mann auf der Kiste mit gellender Stimme. Rotgesichtig und schwitzend deutete er auf die reglosen Gestalten. »Sie richten unser Land zugrunde, lassen unsere Kinder hungern. Eure Familien werden nicht in Sicherheit sein, dieser Krieg wird nicht enden, bis jeder … auch der letzte … Jude … tot ist!«

Die Menge antwortete mit Gebrüll, einige für, andere gegen seine Rede, und während die Menschen diskutierten, verließen der Mann in dem dreckigen Overall und sein Gefährte den Platz und verzogen sich in den dahinter liegenden Wald. Ich sah, wie drei Männer ihnen folgten, und unmittelbar darauf hallten Schüsse. Die Menge zerstreute sich, ein paar Leute liefen mit Stöcken und Knüppeln in Richtung Wald. Immer noch lagen die drei reglosen Gestalten auf dem Platz. Ich rannte zurück in die Pension und schloss die Tür. Ich schwitzte.

»Hast du etwas Brauchbares gefunden?«, fragte Frau Diamant. Sie las eine Zeitschrift, die geschwollenen Füße auf einem Kissen gelagert. Ich setzte ein Lächeln auf.

»Heute nicht«, entgegnete ich und verzog mich auf die Toilette. Ich hörte immer noch die Kugel an meinem Kopf vorbeizischen und den Aufschrei des alten Mannes, als sie seinen Arm durchschlug. Die Juden hatten das nicht getan. Und sie hatten auch keine Bomben auf meine Stadt geworfen. Was war nur in all die Leute gefahren? Ich spritzte mir kaltes Wasser ins Gesicht.

Frau Nowak klopfte an die Tür und öffnete sie dann einen Spalt breit. Ich richtete mich über dem Waschbecken auf. Es täte ihr sehr leid, sagte sie, aber morgen müssten wir eine andere Unterkunft finden. Jemand habe das Zimmer reserviert. Max’ Zimmer. Mit seinen Bildern drin. Frau Nowaks Mund war ganz schmal.

»Weiß jemand, dass Sie Juden hier haben?«, fragte ich.

Sie blickte drein wie ertappt. Und schuldbewusst. »Ich … ich will bloß keinen Ärger, das ist alles.«

Ich trocknete mir das Gesicht ab und versuchte nachzudenken. Mir war zum Weinen zumute.

»Sollen wir Richtung Osten gehen?«, flüsterte ich.

Frau Nowak schüttelte den Kopf. »Ich glaube nicht, dass man euch nach Russland hereinlassen wird«, sagte sie.

Wir warteten nicht auf den Morgen. Um drei Uhr dreißig, bevor sich im Haus etwas rührte, weckte ich Herrn und Frau Diamant. Frau Diamant hinterließ einen Zettel, auf dem sie Frau Nowak für ihre Gastfreundschaft dankte. Ich schloss lautlos die Tür und trieb sie auf der dunklen Straße zur Eile an. Noch vor Sonnenaufgang wollte ich Niżankowice hinter mir wissen.

Wir kamen sehr gut voran, viel besser als auf der ersten Etappe. Frau Diamant hielt gut Schritt, und Herrn Diamant machte sein Diabetes weniger zu schaffen. Vielleicht hatten sie dieses Mal auch einfach nur mehr Angst. Nicht, dass ich ihnen erzählt hätte, was in der Stadt geschehen war. Aber so brav, wie sie mir folgten, hatten sie es sich wohl selbst zusammengereimt.

In den Wäldern herrschte morgendliche Kühle und Ruhe, es waren keine Schüsse zu hören. Die Hügel lagen im Dunst, und wir begegneten nur anderen Flüchtlingen, die in entgegengesetzter Richtung unterwegs waren. Um zwei Uhr mittags kamen wir wieder in Przemyśl an, unbeschadet – bis auf unsere schmerzenden Füße.

So ist das also, wenn ich die Verantwortung trage, dachte ich. In der Stadt würden wenigstens unsere Nachbarn nicht auf uns schießen.

Frau Diamant bestand darauf, dass wir erst in den Laden gingen, um ein paar Vorräte mitzunehmen. Wir waren hungrig und müde, und der Markt war noch geschlossen. Ein langer, gezackter Sprung zog sich durch das Schaufenster des Ladens, und auf dem Glas prangte ein tropfender gelber Davidstern, daneben hatte jemand das Wort »Jude« geschmiert. Und die Regale waren leer. Es war nichts mehr da, nicht einmal ein Apfel oder eine Praline.

Ich ließ die Diamants auf dem Gehweg stehen und betrat die Bank auf der anderen Straßenseite. Der Direktor, ein Mann, den Frau Diamant seit seiner Kindheit kannte, erklärte, die Diamants hätten dort kein Konto mehr. Kein Jude habe dort noch eines. Also leerte ich stattdessen mein eigenes. Frau Diamant sagte nichts. Sie nahm nur ihren Mann am Arm, und wir gingen langsam hinauf in die Wohnung.

Wenigstens dort hatte sich nichts verändert, auch wenn es aussah, als wären Schränke und Schreibtisch durchwühlt worden. Und jemand musste direkt im Flur seine dreckigen Teppiche ausgeklopft haben, denn der Vorhang zu meiner Schlafnische war vollkommen verstaubt. Rosa, die ich im Verdacht hatte, spähte zwar aus ihrer Tür, warf sie aber sofort wieder zu, als sie meinen Blick auffing. Wahrscheinlich hatte sie gehofft, wir würden nicht wiederkommen.

Am nächsten Morgen ging Frau Diamant mit mir auf den Markt, um mit einem Teil meiner Ersparnisse Waren zu kaufen, die wir mit Gewinn im Laden weiterverkaufen konnten. Allerdings mussten wir feststellen, dass Juden den Markt zwischen acht Uhr morgens und sechs Uhr abends nicht mehr betreten durften. Und außerhalb dieser Zeit gab es dort natürlich keine Lebensmittel. Ich schickte sie nach Hause und kaufte allein ein. So hielt ich es von da an immer, wenngleich ich nur sehr wenig Geld ausgeben konnte.

Ich ging auch über die Brücke, die die Nazis anstelle der zerbombten gebaut hatten. Aber meine Schwester wohnte nicht mehr auf der anderen Seite von Przemyśl, und es wusste auch niemand, wo sie hingegangen sein könnte. Ich schrieb einen Brief an meine Mutter, den ich am ersten Tag, als wieder Post kam, dem Postboten mitgab. Er flüsterte, es sei gut, dass wir aus Niżankowice zurückgekehrt seien, denn inzwischen sei die Straße nicht mehr sicher. Andere Menschen, die versucht hatten, wieder in die Stadt zu gelangen, seien unterwegs geschlagen, ausgeraubt oder ermordet worden. Doch auch hier waren wir nicht in Sicherheit. Frau Diamant brachte neue, deutsche Personalausweise und weiße Armbinden mit dem Judenstern mit nach Hause, und den Weg legte sie in der Gosse zurück, weil Juden den Gehweg nicht mehr benutzen durften. Wir sahen Jungen mit Jarmulkes auf dem Kopf überwacht von einem deutschen Maschinengewehr die Straßen schrubben. Von meiner Mutter kam keine Antwort.

Irgendwie spürte man in der Luft schon den Winter, lange bevor die Kälte hereinbrach. Es war bedrückend. Und dunkel.

Und einsam.

Es machte mich wütend.

Ich rannte bei kaltem Regen mit dem bisschen Essen, das wir uns leisten konnten, nach Hause, und als ich durch die Wohnungstür trat und meine Stiefel auszog, hinterließen meine Füße Spuren im Flur. Mein Vorhang, mein Bett und sogar die Küchentür waren erneut staubbedeckt. Ich ging zu Rosas und Reginas Tür und klopfte. Als keine Antwort kam, hämmerte ich dagegen. Ein Auge – Rosas, glaube ich – erschien in dem Spalt, der sich öffnete.

»Hat deine Mutter dir nie beigebracht, dass man Teppiche draußen ausklopft? Du verbreitest überall Staub!«

Das Auge im Türspalt wurde schmaler.

»Und du trägst ihn direkt wieder zurück in euer Zimmer, wenn du rauskommst und …« Aber die Tür war bereits zugeworfen worden. Ich ging Schaufel und Besen holen.

Am nächsten Morgen war mein Mantel, den ich zum Trocknen im Flur hatte hängen lassen, in Streifen geschnitten.

»Macht nichts«, sagte Frau Diamant und fuhr mit der Hand durch die Fetzen. »Traurigkeit kann zu Grausamkeit werden. Merk dir das, ketzele. Wir wissen nicht, was ihnen in Deutschland zugestoßen ist. Wir sollten Mitgefühl mit diesen Frauen haben.«

Ich wusste nicht, ob ich das schaffen würde. Aber vielleicht müsste ich nicht so viel verzeihen, wenn es mir gelang, mich zu beherrschen.

Zwei Tage später riefen Regina und Rosa die neue deutsche Polizei, die Gestapo, in die Wohnung. Bei unserer ersten Begegnung mit der Gestapo hatten sie einen Großteil der Bücher, ein Gemälde, die silberne Menora sowie das gesamte Porzellan der Großmutter Adler mitgenommen. Jetzt kamen sie, weil Frau Pohler sich geweigert hatte, Regina den Schlüssel zum Dachboden, wo wir alle abwechselnd unsere Wäsche trockneten, zu geben, bevor ihre eigene Wäsche trocken war. Zwei Männer in Uniform hämmerten an Frau Pohlers Tür, nannten sie eine stinkende Jüdin, schlugen ihr ins Gesicht und nahmen ihr den Wäscheschlüssel aus der zitternden Hand. Sie gaben den Schlüssel Regina, die sie ebenfalls eine stinkende Jüdin nannten, und Regina und Rosa verschwanden auf dem Dachboden, wahrscheinlich, um Frau Pohlers saubere Wäsche zu zerschneiden.

Dieses Mal sprach Frau Diamant nicht mehr von Mitgefühl. »Ich kümmere mich darum«, murmelte sie. Dann zog sie ihren Mantel an, band sich den Schal um den Kopf und eilte zur Tür.

Ich kochte Brühe für Herrn Diamant, der krank im Bett lag, und saß dann nähend auf dem Fensterbrett. Frau Diamant konnte nicht zum Markt gegangen sein. Es war später Nachmittag. Die Ausgangssperre galt zwar erst ab neun Uhr, aber selbst die polnische Polizei, die alles tat, was die SS befahl, hätte Gründe gefunden, eine Jüdin anzuhalten. Der Regen peitschte und strömte am Fenster herab, und als Frau Diamant schließlich wieder in die Wohnung polterte, eilte ich ihr entgegen.

»Wo sind Sie …«

Sie brachte mich mit einer Handbewegung zum Schweigen und verriegelte die Tür hinter sich. Der Schal um ihren Kopf und die weiße Armbinde an ihrem Mantel waren tropfnass, und sie war barfuß. Ihre runden, schlammigen Zehen lugten aus zerrissenen und dreckigen Strümpfen. Ich stellte meine Frage anders.

»Wo sind Ihre Stiefel?«

»Die hat jetzt Hitler«, sagte sie. »Die Gestapo sagt, ihr Führer braucht sie nötiger als eine alte Frau, die in der regengefüllten Gosse läuft.«

Ich erinnerte mich an Frau Pohlers blutunterlaufene Wange und verschränkte die Arme über dem Bauch. »Und was haben Sie gesagt?«

»Dass der Führer sich eine Arbeit suchen soll, die besser bezahlt ist, damit er sich selber Stiefel kaufen kann!«

Ich musterte sie von oben bis unten, konnte aber keine Blutspuren entdecken. Sie schüttelte den Kopf.

»Sie haben mich nur zu Boden gestoßen, ketzele, und meine Rückseite ist so gut gepolstert, dass es gar nicht so weh getan hat.«

Ich glaubte ihr nicht, denn ich war mir ziemlich sicher, dass sie den Schmuck ihrer Mutter immer noch im Hüfthalter eingenäht trug.

Und dann klopfte es an der Tür.

Frau Diamant erstarrte, drehte sich um und sah mich an. Ihr Lächeln war verschwunden.

»Sind sie Ihnen gefolgt?«, flüsterte ich. Sie schüttelte den Kopf und zuckte gleichzeitig die Achseln, den zerknitterten Schal hielt sie fest umklammert. Es klopfte erneut.

»Was auch immer sie hier wollen, die Tür wird sie nicht aufhalten, meine ziskejt«, sagte Herr Diamant. Er lehnte tief gebeugt an der Wohnzimmertür und sah aus, als wäre er hundert Jahre alt.

Frau Diamant ging langsam zur Tür. Der Riegel klickte. Die Scharniere quietschten. Ich erwartete, Deutsch zu hören. Stattdessen hörte ich Max sagen: »Hast du gehofft, wir würden nicht zurückkommen, Mame

»Oh!«, sagte sie. »Oh, oh!« Und zog ihn in die Wohnung. Dann trat Chaim ein, und Henek, und schließlich Izio. Sie waren schmutzig und durchnässt, die Ärmel hingen in Fetzen, und ihre Mutter küsste jede ihrer unrasierten Wangen zweimal. Ich küsste sie einmal, woraufhin Henek mich von sich stieß und Max errötete. Über beides musste ich lachen.

Izio umarmte mich, nicht lange, aber lang genug, um mich wissen zu lassen, dass er mich vermisst hatte. Er war dünn unter seinem Hemd. Älter unter den Augen. Ich wollte ihm alles erzählen, was geschehen war. Und dann wollte ich ihm gar nichts von dem erzählen, was geschehen war. Ich ging Tee machen, während Herr Diamant gar nicht mehr aufhören konnte zu lächeln und die Hände seiner Söhne zu drücken.

Plötzlich redeten alle durcheinander, über das russische Lazarett, wo sie alle Arbeit gefunden und gehofft hatten, mit der Armee evakuiert zu werden. Aber der Evakuierungsbefehl blieb aus.

»Die Grenze ist dicht«, sagte Chaim. »Wir kommen nicht raus.«

Keiner von uns.

Wir feierten ein kleines Fest mit Brühe und Kascha, die eher sättigend als schmackhaft war, dem Rest Brot, einem Glas Marmelade, das Frau Diamant aufgespart hatte, und einem Beutel Äpfel. Und obwohl die Geschichten, die Chaim erzählte, schrecklich waren – von deutschen Flugzeugen, die Flüchtlinge auf der Straße niederschossen, und Hinrichtungen unschuldiger Männer –, wurde mehr gelacht als geweint. Wir lachten über die hässlichen Teller, die ich an einem Gebrauchtwarenstand als Ersatz für das Porzellan gekauft hatte. Wir brüllten vor Lachen, als Henek fragte, warum die Deutschen den Schmuck nicht mitgenommen hatten, und seine Mutter es ihm erzählte. Und als Max Hitler parodierte, wie er in Damenstiefeln Herrn Diamants Exemplar der Kommentare zum Talmud las, lachte ich, bis mir der Bauch schmerzte. Izio hielt unter dem Tisch fest meine Hand.

Wir wussten es damals nicht und waren zu glücklich darüber, wieder vereint zu sein, aber eigentlich hätten zu dem Zeitpunkt die Männer, die Köpfe unter den Gebetsschals, zu Gott beten müssen, während ich auf Knien die Jungfrau und Jesus hätte anrufen müssen.

Hätten wir es gewusst, hätten wir zu diesem Zeitpunkt weinen müssen.