Wenige Tage später lagen auf dem Küchentisch zwei Briefe vom Einwohneramt. Frau Diamant schlitzte den ersten mit einem Messer auf. Was auch immer der Inhalt besagte, jedenfalls zeigte ihr Gesicht einen Ausdruck düsterer Befriedigung. Sie ging hinaus, und ich hörte, wie im Flur gestritten wurde. Während ich meinen Tee trank, überlegte ich, was Regina und Rosa wohl angestellt hatten, und schlitzte den zweiten Umschlag auf.
Ich las den Brief. Zweimal. Und dann kam Frau Diamant zurück an den Tisch und warf das erste Papier triumphierend zu Boden. Regina und Rosa zogen aus, weil das vordere Schlafzimmer nun jemand anderem zugewiesen worden war. Nämlich mir. Ich hatte jetzt mein eigenes Zimmer.
Ich genoss ungefähr dreißig Sekunden lang das Gefühl, das diese Neuigkeit auslöste, und gab ihr dann den zweiten Brief. Dieser besagte, dass allen Juden Wohnraum in einem Ghetto zugewiesen werde. Die neue Wohnung der Diamants sollte nur ein paar Straßen entfernt in einem dafür ausgewiesenen Areal hinter dem Bahnhof liegen.
Ich würde zwar mein eigenes Zimmer bekommen. Aber ich würde allein hier leben.
Frau Diamants Miene zeigte ihren inneren Kampf. »Wir werden erst gehen, wenn wir wirklich müssen«, sagte sie.
Zwei Tage später zogen Regina und Rosa in das Ghetto. Drei Wochen später hingen die Plakate. Alle Juden, die bis Mitternacht des folgenden Tages nicht im Ghetto waren, würden erschossen werden.
In dieser Nacht fanden wir keinen Schlaf. Ich rückte Möbel und packte das hässliche Geschirr ein, während unablässig Ratschläge auf mich einprasselten.
»Vergiss nicht, dass du katholisch bist«, sagte Frau Diamant, als hätte ich das vergessen können. »Katholiken werden sie nicht anrühren. Schließ nachts die Türen ab und die Tür zu deinem Schlafzimmer auch. Aber es ist nur dein Schlafplatz. Wir werden uns jeden Tag sehen, ja? Die Sachen in dieser Kiste, die kannst du verkaufen, wenn dir das Geld ausgeht …«
Sie gab mir die Kiste. Bereits zuvor hatte sie mir ein Viertel des Geldes gegeben, das jetzt im unbenutzten Ofenrohr in der Küche steckte.
»… und du wirst uns besuchen«, fuhr sie fort, während sie sich die Stirn rieb, »und uns die kleinen Dinge bringen, die wir nicht haben, denn du kannst ja kaufen und verkaufen.«
»Warum kann ich nicht mitkommen?«, fragte ich zum hundertsten Mal. »Ich kann im Flur schlafen, so wie jetzt …«
»Sei nicht dumm, ketzele.«
Wahrscheinlich war ich wirklich dumm. Ein Dummkopf. Aber mir brach es das Herz.
Auf der Straße war eine Maschinengewehrsalve zu hören, dann Schreie und das Kreischen einer Frau. Max stellte seine Kiste ab, ging zum Fenster und zog abrupt den Vorhang vor.
»Schau nicht raus, Mame«, sagte er. »Versprochen?« Er warf mir einen Blick zu, Worte waren überflüssig. Lass den Vorhang zu. Und dann hämmerte eine Faust an die Tür.
Wir wussten jetzt, wie es klang, wenn die Nazis kamen. So, als würden Hitler und Stalin sich einen Kampf liefern, wer es wohl als Erster schaffte, eine Tür aufzubrechen. So, als würden sie hereinkommen, ob man nun öffnete oder nicht. Frau Diamant fuhr herum und schnappte sich einen Rucksack aus Izios Händen.
»Schnell«, flüsterte sie, »ihr alle! Stellt eure Kisten in das vordere Schlafzimmer. Unters Bett. Alles in das Zimmer. Los! Chaim, Max! Stellt auch den Küchentisch da rein. Und vier Stühle. Beeilt euch!«
In der Wohnung entstand Gedränge. Wieder donnerte die Faust an die Tür. Vielleicht war es diesmal sogar ein Knüppel. »Öffnen Sie die Tür! Aufmachen!«
Die Tische und Stühle verschwanden in meinem Zimmer. Izio wartete, bis seine Mutter nickte, und öffnete dann die Tür. Vier SS-Leute drängten sich in den Eingangsbereich und schwärmten dann in alle Ecken der Wohnung aus. Einer blieb bei uns. Von seiner Kappe grinste uns der Totenkopf an. Seine Schuhe waren glänzende schwarze Spiegel.
»Was ist los?«, fragte Frau Diamant.
»Ruhe!«, sagte der Mann. »Euer Führer gestattet euch, alles, was ihr nicht braucht, für die Versorgung der deutschen Armee zu spenden …«
Offenbar braucht die deutsche Armee unser Sofa, dachte ich, denn es wurde bereits zur Tür hinausgetragen. Ich rannte ins Wohnzimmer. Der dritte SS-Mann war gerade aus der Küche gekommen und stocherte mit seinem Gewehr in der Kiste mit Chaims Kleidung, die es nicht zum vorderen Schlafzimmer geschafft hatte. Im Zimmer war es dunkel wegen der zugezogenen Vorhänge und der Rauchwolke, die von Herrn Diamants Sessel aufstieg, und überall lagen Sachen herum, weil wir so eilig gepackt hatten. Der SS-Mann rümpfte die Nase und schob sich die Kiste unter den Arm.
»Ihr Juden lebt wie Schweine«, sagte er – oder zumindest glaubten wir, dass er das sagte. Sein Polnisch war nicht annähernd so gut wie das seines Kollegen. Er fischte eine volle Zigarettenschachtel aus Herrn Diamants Hemdtasche, steckte sie in seine eigene und verpasste ihm eine Ohrfeige. Und dann spuckte er auf den Boden.
Chaim trat einen Schritt von der Wand weg und ich sah, wie Max schweigend eine Hand ausstreckte, um ihn zu bremsen. Henek stand mit geballten Fäusten in der Küchentür, Izio direkt hinter ihm.
Alle im Zimmer hatten schlimme Vorahnungen, wie bei dem wimmernden, pfeifenden Geräusch einer Bombe, die gleich einschlagen würde. Ich drehte mich rasch zu dem spuckenden Mann um und lächelte, als wollte ich ihn dazu bringen, mir eine Praline zu kaufen. Er fuhr auf, musterte mich von oben bis unten, stellte die Kiste auf den Boden zu seinen Füßen und zog aus seiner Jackentasche eine Liste.
»Wie heißen Sie?«, fragte er.
»Das ist Fräulein Podgórska«, sagte Frau Diamant, die in Begleitung des ersten SS-Manns hereingeeilt kam. Sie ging geradewegs zum Schreibtisch und wühlte in den Dokumenten in der Schublade.
»Wie ich Ihnen schon sagte, ist ihr unser Schlafzimmer zugewiesen worden. Die Sachen dort drin gehören ihr. Nicht den Juden.« Sie fand den Brief vom Einwohneramt und hielt ihn ihm hin. »Nicht den Juden«, wiederholte sie, während der Mann mit den glänzenden Stiefeln las. Mit einem Blick gab sie mir klar zu verstehen, ich solle den Mund halten. Was ich auch tat.
Der zweite SS-Mann überprüfte seine Liste und schüttelte dann den Kopf.
»Lasst das Zimmer des Mädchens«, bellte der erste SS-Mann. »Nehmt den Rest mit.«
Wir sahen zu, wie sie die letzten Möbel hinaustrugen, sogar Herrn Diamants Sessel und die Teppiche, die auf dem Boden lagen. Vor dem Haus stand ein Lkw, die Ladefläche randvoll mit Dingen, die einst den Familien aus unserem Gebäude gehört hatten, und dahinter sah ich eine Frau, die Eimer für Eimer Wasser auf den Gehweg schüttete. Der Rinnstein färbte sich rot.
Ich zog den Vorhang wieder zu. Ich hatte vergessen, dass ich ihn nicht öffnen sollte.
Der SS-Mann mit der Liste sah sich ein letztes Mal in der leeren Wohnung um, wo wir sieben auf dem nackten Fußboden saßen oder standen. Zufrieden, dass er nichts Wertvolles zurückgelassen hatte, wandte er sich zum Gehen. Dann drehte er sich nochmals um, kam zurück zu mir und kniff mich in die Wange.
»Such dir bald neue Freunde, ja?«
Er lächelte und ging, und ich schrubbte an der Küchenspüle meine Wange.
Es dauerte nicht lange, bis die Diamants die in meinem neuen Zimmer deponierten Sachen herausgeholt hatten. Der Tisch und die Stühle, sagte Frau Diamant, seien für mich. Sie küsste mich auf die Stirn, und Herr Diamant, gebeugt unter einem Bündel auf seinem Rücken und mit einer geröteten Wange, tätschelte mir den Arm. Henek nickte mir zum Abschied zu, und Izio küsste mich auf den Mund. Max studierte die Risse im Putz.
»Warte auf mich«, sagte Izio.
Und als die Tür sich schloss, ging ich zum Fenster und öffnete es weit. Eine lange Reihe schwer beladener oder Karren ziehender Juden wanderte die Straße hinunter und am Bahnhof vorbei. Dabei hörte ich einige der Menschen, die im Laden der Diamants Bliny und Sodawasser und Kekse und Käse gekauft hatten, sie beschimpfen, während die Familie ihr Zuhause verließ.
»Hunde.«
»Ungeziefer.«
»Dreckige Juden!«
Ich verriegelte die Eingangstür, ging in mein neues Zimmer, verschloss auch diese Tür, stellte einen Stuhl unter die Klinke und kroch ins Bett. Ich weinte, bis die Sonne unterging, bis sich draußen nichts mehr rührte. Kein Dielenknarren war zu hören. Kein ferner Ruf, kein Türenknallen. In dem Gebäude hatten ausschließlich Juden gewohnt und jetzt war es leer wie ein frisch ausgehobenes Grab. Und ich lag ganz allein in einer Ecke. Ich sah Schatten, die sich bewegten. Bildete mir ein, dass sich auf dem Flur glänzende schwarze Stiefel leise näherten. Und ich konnte mit niemandem reden. Niemandem davon erzählen. Ich sehnte mich nach meiner Mutter. Ich sehnte mich nach Frau Diamant. Ich sehnte mich nach Izio. Schwitzend drückte ich die Decke an meine Brust.
Es gefiel mir gar nicht, solche Angst zu haben.
Am nächsten Morgen zog ich Frau Diamants alten Mantel an – den sie mir geliehen hatte, als meiner zerschnitten worden war – und spähte aus der Tür der hallenden Wohnung. Ich setzte einen Fuß über die Schwelle, dann den anderen, und schließlich eilte ich die Treppe hinunter, aus der Eingangstür und auf den stillen Hof, wo keine Kinder mehr spielten. Ich rannte durch die Passage bei der Mickiewicza Nummer 7, um die Ecke und über die kleine Brücke, die über die Bahngleise führte. Hinter dem Bahnhof lag das Viertel, das jetzt zum Ghetto geworden war, und dort musste ich stehen bleiben.
Man hatte einen Zaun aus Stacheldraht gezogen und ein Tor aus frischen Holzbohlen errichtet. Vor diesem Tor patrouillierte ein deutscher Polizist auf und ab, und als er mich ihn anstarren sah, brüllte er und schwenkte sein Maschinengewehr. Ich rannte entlang den Schienen zurück, lief im Kreis, versuchte ein Ende des Zauns zu finden, doch alle Straßen, die ins Ghetto führten, waren abgeriegelt. Die Juden waren nicht »umgesiedelt« worden. Man hatte sie eingesperrt.
Den ganzen Tag irrte ich durch die Straßen von Przemyśl. Ich sah die Schutthaufen, wo einst Häuser gestanden hatten, blickte in die Schaufenster der Läden oder beobachtete die Fabrikarbeiter – alle Fabriken waren nun in deutscher Hand – beim Schichtwechsel. Ich redete mir ein, ich würde so ziellos umherstreifen, weil ich eine Arbeit brauchte. Es hätte nichts damit zu tun, dass ich einsam war. Es hätte nichts damit zu tun, dass ich mich davor fürchtete, nach Hause zu gehen.
Ich studierte das »Aushilfe gesucht«-Schild an einer Schneiderei und musste feststellen, dass ich keine Arbeit finden würde, weil ich nicht die entsprechenden Ausweispapiere besaß. Meine Dokumente waren polnisch. Sie hätten deutsch sein müssen. Also ging ich in das Arbeitsamt im Rathaus. Meine polnischen Papiere taugten nichts, sagte der kleine deutsche Mann hinter seinem Schreibtisch und schob mit einem Finger seine Brille mit dem Drahtgestell hoch. Ich besaß nämlich keine Geburtsurkunde, konnte also auch eine Roma sein. Oder gar Jüdin. Um Ausweispapiere zu bekommen, so sagte er, bräuchte ich ein Foto, das ich mir nicht leisten konnte, und eine Geburtsurkunde, die nicht existierte. Nein? Dann gab es vielleicht jemanden, der mich von Geburt an kannte. Jemanden, der eine eidesstattliche Erklärung abgeben konnte, dass mein angegebener Name, meine Nationalität und meine Religion korrekt seien. Nein? Dann auf Wiedersehen.
Ich ging zurück in die Wohnung. Was hätte ich auch sonst tun sollen? Ganz leise schloss ich die Eingangstür, denn ich hatte Angst vor dem Echo, der Leere. Doch dann hörte ich eine Tür knallen. Irgendwo unter mir. Ich lauschte meinem Herzschlag, schneller und schneller, während Schritte langsam die Treppe heraufkamen. Jemand klopfte an eine Tür, aber es war die gegenüber. Dann waren da wieder Schritte, und nun klopfte es bei mir.
»Hallo?«, sagte eine Stimme draußen. Die Stimme einer jungen Frau. Ich öffnete die Tür einen Spalt breit und sah ein Lächeln. Daraufhin machte ich die Tür ganz auf. Vor mir stand eine Frau in einem blaugemusterten Kleid, die auf den Fersen vor und zurück schaukelte.
»Ich bin Emilika«, sagte sie, »und habe ein Zimmer im Erdgeschoss, aber hier ist es unheimlich, oder? All die leeren Wohnungen und geschlossenen Türen. Es ist ruhig, viel zu ruhig, und ich wollte Sie wissen lassen, dass ich Zucker habe. Nicht viel, aber genug, und so dachte ich, Sie möchten vielleicht einen Tee. Oder … eigentlich will ich sagen, dass Sie dieses Haus vielleicht auch zu groß finden und mit mir Tee trinken möchten. Bevor der Zucker ausgeht …«
»Ja!«, antwortete ich, bevor sie weiterreden konnte.
Ihr Lächeln wurde breiter. »Ich hole ihn.« Und sie verschwand die Treppe hinunter.
Ich eilte in mein Zimmer, verstaute die Kisten unter dem Bett und breitete die Decke über meine zerknitterten Laken und das Nachthemd, hängte den Rosenkranz an den Bettpfosten und stellte Jesus und Maria aufs Fensterbrett. Dann heizte ich den kleinen Ofen ein. Emilika kam mit einer Teekanne, zwei Tassen, dem Tee und einer Papiertüte mit Zucker zurück. Seltsamerweise kam mir dieses Mal bei Sonnenuntergang mein Zimmer gemütlich vor und nicht wie ein Ort aus meinen Albträumen.
Emilika war dreiundzwanzig, katholisch wie ich, hatte braunes Haar, Sommersprossen und arbeitete bei einem Fotografen. Sie fand es entsetzlich, was die Deutschen Przemyśl angetan hatten. Wenn die Züge wieder regelmäßig fuhren und sie genug Geld gespart hatte, würde sie zu ihrer Familie nach Krakau zurückkehren. Oder vielleicht kamen ja die Russen wieder. Oder vielleicht war der Krieg bald vorbei und alles würde wieder wie früher sein. Aber in der Zwischenzeit waren wir die »Herren im Haus«, nicht wahr? Die Königinnen des Wohnungsreichs. Wir konnten alles machen, wie es uns passte. So war es doch?
Sie brachte eine Matratze herauf und schlief in dieser Nacht in meinem Zimmer, und keinen von uns beunruhigte die Stille, denn sie trat nicht ein. Sie fragte nach Jungen. Ich erzählte ihr, dass ich einen hatte, aber nicht, dass er Jude war. Sie sagte, sie habe mehrere. Von da an schlief sie jede Nacht bei mir.
Zehn Tage später weckte mich ein Geräusch. Das Geräusch von Füßen auf dem Pflaster, die im Gleichschritt gingen. Ich schob den Vorhang zur Seite. Die Straße unter mir war voller Männer, jüdischer Männer, die in einer langen Reihe vorbeizogen. An den Seiten liefen bewaffnete deutsche Wachen mit. Die Männer hielten die Köpfe gesenkt und blickten zu Boden, nur einer schaute nach oben. Direkt zu meinem Fenster.
Max.
Ich riss mir das Nachthemd vom Leib, schlüpfte in ein Kleid und rannte ohne Schuhe die Treppe hinunter. Aus der Eingangstür, durch die Passage bei der Mickiewicza Nummer 7, um die Ecke und hinter unseren Wohnblock. Ein Zug fuhr in den Bahnhof ein, und ich schob mich durch die Menge, die auf ihn zuströmte, während Schaulustige am Straßenrand alle behinderten. Ich kämpfte mich durch die Kolonne marschierender Männer, wählte einen Moment, in dem der Wächter nicht hersah, und trat neben Max in die Reihe, die sich vorwärtsschob.
»Hallo«, sagte er.
»Was ist los? Wo geht ihr hin?«
»Zur Arbeit – das sagen sie jedenfalls. Wir müssen alle arbeiten.«
Mein Gefühl sagte mir, dass es dafür keinen Lohn gab. »Ist alles in Ordnung bei euch? Wie geht es euch allen? Deiner Mutter? Und Izio?«
Er zuckte die Achseln. Natürlich sah er aus wie Max, aber diesen Gesichtsausdruck kannte ich nicht an ihm. Angespannt. Nervös.
»Mame will, dass du ein paar Sachen verkaufst und uns Essen besorgst. Im Ghetto gibt es nichts zu kaufen, und wir leben mit acht anderen Familien in einer Wohnung. Alles, was wir hatten, ist schon aufgebraucht.«
»Wie kann ich es euch bringen? Ich habe versucht reinzukommen, aber überall sind Zäune …«
»Wir gehen jeden Morgen hier vorbei. Pass mich hier ab. Ich bringe es schon irgendwie rein …«
»Halt!«
Der harsche Befehl ließ mich zusammenzucken. Ein deutscher Wachmann hatte mich entdeckt. Und jetzt war seine Waffe auf meinen Kopf gerichtet.
»Ich musste nur meinem Freund etwas sagen«, erklärte ich und entfernte mich von der Reihe voranschreitender Männer. »Ich bin schon fertig …«
Damit machte ich kehrt und floh, unsicher, ob der Mann mich erschießen würde. Er tat es nicht. Ich rannte die Treppe hinauf, sah, dass Emilika fort war, und wusch mir die Füße, während ich nachdachte.
Acht Familien in einer Wohnung. Wie konnte das sein? Das bedeutete sicher zwanzig, dreißig Menschen. Mindestens. Und sie hatten jetzt schon nichts mehr zu essen und keine Möglichkeit, etwas zu kaufen. Sie litten also Hunger, und das würde so bleiben, bis Max morgen nach der Arbeit Essen mitbrachte. Aber wie konnte Max genug für alle tragen? Und wie viel würde man ihm überhaupt zugestehen? Oder würden die Deutschen ihm auch das abnehmen?
Ich fuhr mit der Bürste durch meine zerzausten Locken. Wie sollten die Menschen im Ghetto bloß überleben? Hatten die Nazis vor, alle Juden in Przemyśl verhungern zu lassen? Ich zog Socken an meine sauberen Füße und band mir die Schnürsenkel.
Vielleicht war es so. Aber die Meinen würden nicht verhungern.
Ich ging die Kiste mit den Sachen durch, die ich verkaufen konnte, und entschied mich für eine Seidenbluse, die Frau Diamant schon lange nicht mehr passte, sowie für eine Reihe silberner Kerzenhalter, die die SS nicht gefunden hatte, weil sie hinten in einem Schrank gestanden hatten und stark angelaufen waren. Den halben Vormittag brachte ich damit zu, auf dem Markt und in Gebrauchtwarenläden zu feilschen, und am Ende hatte ich ein Huhn, einen Sack Schrotmehl, ein halbes Kilo Butter und drei Dutzend Eier erhandelt, dazu etwas Wechselgeld, das ich im Ofenrohr versteckte.
Ich nahm meine Handtasche, füllte so viele Eier wie möglich hinein, und legte die Butter obendrauf, wo sie, so hoffte ich, nicht schmelzen würde. Das Hühnchen packte ich in braunes Papier und verschnürte es mit einer langen Schnur, deren anderes Ende ich an meinem Handgelenk festband. Das Gleiche machte ich mit dem Mehlsack, und dann schob ich vorsichtig meine Arme mit den Schnüren in Frau Diamants riesigen alten Mantel. Nun hingen unter meinen Armen, verborgen durch den Mantel, ein Huhn und ein Mehlsack. Die Manteltaschen füllte ich mit den verbliebenen Eiern, schnappte mir ein Taschentuch und nahm meine Tasche.
Die Deutschen hatten den Spiegel mitgenommen, aber ich wusste auch ohne ihn, dass ich lachhaft aussah.
Für den Fall, dass Emilika schon von der Arbeit gekommen war, schlich ich die Treppe hinunter, damit die Stufen nicht knarrten, und dann hinaus auf den leeren Rasen im Hof, durch die Passage, um die Ecke und über die Brücke, die über die Schienen führte. Und dann war da das Ghetto mit dem bewachten Tor, das ich diesmal mied. Stattdessen ging ich am Zaun entlang bis zu einem schmalen Durchgang zwischen zwei Gebäuden. Hier war zwar auch Stacheldraht gezogen, aber nur über eine kurze Distanz. Ich blickte über die Schulter zurück. Es war niemand zu sehen. Also trat ich näher heran.
Zwei Holzpfosten waren an den Ecken der Gebäude in den Boden gerammt worden, und dazwischen reichlich Stacheldraht gespannt. Aber die Pfosten waren nicht gut verankert. Man brauchte nur ein wenig zu rütteln und zu ziehen …
Der Pfosten löste sich aus der Verankerung. Ich schwang den ganzen Zaunabschnitt auf wie eine Tür, trat ein, stellte den Pfosten wieder hin und trat die Erde mit meinem Schuh fest. Und schon war ich im Ghetto.
Ich zog das Taschentuch aus der Tasche und versuchte es mir um den rechten Oberarm zu binden. Das war schwieriger als gedacht, und am Ende benutzte ich die Zähne. Dann wandte ich mich um und trat zwischen den Gebäuden hervor. Mein Herz hämmerte in meiner Brust.
Drei alte Männer mit schwarzen Mänteln, weißen Armbinden und Schläfenlocken saßen auf der Treppe zum Hauseingang gegenüber und starrten mich von der anderen Straßenseite her unbewegt an. Dann senkten sie den Blick und unterhielten sich flüsternd. Ich hörte Stiefeltritte. Ein Polizist näherte sich. Ich überquerte die Straße mit gebeugten Schultern und gesenktem Kopf. Schließlich liefen auch alle anderen so herum. Der Polizist nahm seine Waffe von der einen Hand in die andere und ging an mir vorbei. Ich hob den Kopf, sah ihn davongehen und lächelte.
Die Angst war mir vergangen.
Was nur zeigt, wie dumm ich war.
»Die Familie Diamant?«, fragte ich die alten Männer im Flüsterton. »Izaac Diamant und Leah, seine Frau? Und die vier Söhne …«
»Gej awek«, sagte einer.
Man forderte mich auf zu gehen.
»Geh dahin zurück, wo du hergekommen bist, Mädchen, bevor man dich umbringt!«, flüsterte der andere, diesmal auf Polnisch. Dann drehten sie mir den Rücken zu und ich ging weiter die Straße entlang.
Menschen standen in Grüppchen um die Eingangstüren, auf den Gehwegen und in den Straßenrinnen spielten Kinder. Es sah aus wie in einem Stadtviertel am Feiertag, wenn die Fabriken geschlossen haben. Nur die Stimmung war alles andere als festlich. Und wenn ein Polizist vorbeiging, verschwanden die Leute in den Ecken wie Schatten, wenn die Sonne kommt. Ich hielt es genauso. Meine nachgemachte Armbinde würde nur beim ersten Hinsehen durchgehen, von meiner seltsam prallen Gestalt unter dem Mantel ganz zu schweigen. Ich fragte wieder und wieder nach den Diamants, bis endlich eine Frau flüsterte: »Reymonta 2«. Ich fand die Straße, und das Haus sah aus wie alle anderen in Przemyśl, bloß kleiner, mit nur zwei Stockwerken. Ich drückte die Tür auf.
Der Flur war voller Menschen. In den Ecken und auf den Treppenstufen duckten sie sich unter der Wäsche, die an von Tür zu Tür gespannten Schnüren hing. Babys weinten, Kinder kreischten und jammerten, und es roch, als seien die Toiletten übergelaufen. Auf der Treppe kam ich an einem kleinen Mädchen vorbei, das ein noch kleineres Kind schlug und ihm befahl, mit dem Weinen aufzuhören. Woraufhin das Baby natürlich nur noch lauter weinte. Ich blieb stehen, bereit, das Baby hochzunehmen und seine Mutter zu suchen, doch das kleine Mädchen sah mir kampfbereit direkt in die Augen und umklammerte das Baby. Da begriff ich. Das Baby weinte, weil es Hunger hatte. Das kleine Mädchen hatte ebenfalls Hunger, vielleicht schon seit der Zeit vor dem Ghetto. All diese Kinder hungerten, und mein Mantel war voller Essen.
Schuldgefühle fraßen sich durch mein Innerstes. Ich müsste ihren Hunger stillen. Ich wollte den Hunger all dieser Menschen stillen. Aber wie sollte ich das anstellen? Stufe für Stufe ließ ich die Kinder hinter mir und versuchte meine Augen ganz und gar auf die Tür der Diamants zu fokussieren. Ich fand sie, klopfte, und ein Fremder öffnete. Ein Mann mit Vollbart und barscher Stimme.
»Was wollen Sie?«
»Ich suche – «
»Fusia?«
Und dann kam meine Babcia den Flur entlanggeeilt. Graue Haarsträhnen umrahmten ihre Wangen. Sie drückte mich an ihre weiche Brust. Ich seufzte, augenblicklich beruhigt. Doch dann stieß sie mich von sich.
»Was machst du hier?«
Ich stutzte.
»Warum bist du gekommen?«
»Sie haben doch gesagt, ich soll …«
»Aber doch nicht so! Ist dir dein Leben denn gar nichts wert? Du …« Und nun öffnete ich den Mantel, nur ein kleines bisschen, und sie erhaschte einen Blick auf das Huhn.
Frau Diamant zog mich zur Tür hinein, schloss sie, schob mich den Flur entlang in ein Zimmer, das wohl früher das Esszimmer gewesen war und jetzt den Diamants für alle Zwecke diente. Herr Diamant saß auf dem Boden, im Rücken eine zusammengerollte Decke. Er streckte beide Hände aus, ergriff die meinen und küsste sie, doch dann wurden sie ihm entrissen, weil Frau Diamant mir den Mantel auszog.
»Vorsicht mit den Eiern …«, flüsterte ich, dann hielt ich den Mund. Sie murmelte auf Polnisch und Jiddisch ärgerlich vor sich hin, während sie die Schnüre an meinen Handgelenken aufknotete und ihr Blick in Richtung Flur huschte. So als hätte sie Angst, es könnte jemand kommen und ihr das Essen entreißen.
Was vielleicht auch passieren würde.
»Dummes Mädchen«, sagte sie immer und immer wieder leise. »Dummes, törichtes Mädchen …«
»Aber Sie haben gesagt, ich soll zu Ihnen kommen!«
»Ich habe gesagt, du sollst die Sachen Max geben, nicht, dass du dir eine Zielscheibe zwischen die Schulterblätter malen sollst.« Sie lief mit dem Mehlsack im Kreis herum und verstaute ihn schließlich hinter Herrn Diamants Rücken. »Willst du sterben? Was würde ich tun, wenn du auf der Straße erschossen wirst?«
Ich schämte mich. Vielleicht war ich leichtsinnig gewesen. Wenn ich getötet wurde, verhungerten sie womöglich. Kleinlaut öffnete ich meine Handtasche, und Frau Diamant starrte die zerquetschte Butter und die Eier an. Dann zog sich ihr Gesicht in Falten und sie umschloss meinen Kopf mit den Händen und küsste mich auf die Wangen.
»Du bist ein gutes Mädchen, ketzele«, flüsterte sie. »Doch du verstehst es nicht. Wie könntest du auch, wenn ich es selbst nicht begreife? Aber jetzt hör mir mal zu.« Sie hielt mein Gesicht und blickte mir in die Augen. »Sie werden dich töten. Und es wird ihnen Freude machen, dich zu töten. Gib ihnen keine Gelegenheit dazu.«
»Fusia!« Ich blickte über ihre Schulter und sah Henek ins Zimmer kommen, gefolgt von einem Mädchen. Er lächelte. Ich wusste nicht, ob es mich mehr überraschte, dass er im Ghetto lächelte oder dass sein Lächeln mir galt.
»Die Leute sagen, jemand hat auf der Straße nach uns gefragt. Warst du das? Du musst vorsichtig sein. Hast du uns etwas zu …«
»Sei still, Henek!«, mahnte Frau Diamant. Sie tätschelte mein Haar und ließ mich los. »Fusia geht jetzt wieder.«
Das Mädchen, das Henek begleitete, spähte an seiner Schulter vorbei. Dunkle Locken umrahmten ihr blasses Gesicht, von dem ich nicht wusste, ob es immer diese Farbe hatte oder ob es die Farbe des Ghettos war. »Ich habe viel von dir gehört«, sagte sie mit sanfter Stimme. »Du bist die Nichtjüdin in der Familie, stimmt’s?«
Meine Augenbrauen hoben sich ein wenig. »Das ist Heneks Freundin, Danuta«, sagte Frau Diamant schnell. Das Mädchen streckte mir die Hand entgegen, und ich schüttelte sie. Seit wann hatte Henek eine Freundin? Frau Diamant begann, mich in den Mantel zu packen.
»Wo ist Izio?«, fragte ich.
»Arbeiten«, erwiderte sie. »Wenigstens bekommt er eine Suppe.«
»Darf ich warten? Ich …«
»Hörst du mir nicht zu? Nein!« Sie legte mir eine Hand auf den Rücken und ich winkte zum Abschied, während sie mich auf den Flur hinausschob. Vor der Tür blieben wir stehen.
»Was brauchen Sie sonst noch?«, fragte ich.
Sie überlegte rasch. »Seife. Und jeden Tag ein bisschen was zu essen. Gib Max nur so viel, wie er tragen kann, ja?«
Ich nickte.
»Und du kommst nie wieder hierher. Verstanden?«
Ich nickte. Sie brachte meine nachgemachte Armbinde in Ordnung und küsste mich auf die Stirn. Wie meine Mutter, als ich zwei Jahre alt war.
»Scholem alekhem«, sagte sie. Ich hatte das Gefühl, sie würde gleich weinen. »Und jetzt geh schnell. Sei klug, und sei vorsichtig, und tu, was du kannst, um am Leben zu bleiben. Versprichst du mir das?«
Ich versprach es, drehte mich um und bahnte mir den Weg durch die weinenden Kinder. Mit jedem Schritt wurde das Gehen mühsamer, als wäre ich gewachsen oder hätte an Gewicht zugenommen. Aber es war nur die Angst, die so schwer auf mir lastete. Denn ich hatte Angst.
Ich hatte Angst, sie nie wiederzusehen.