7

Juli 1942

Ich fand eine Frau, die mir für eine Nacht ein Zimmer gab, was allerdings bedeutete, dass ich am nächsten Tag kein Geld für Essen hatte.

Ich hoffte, dass er nicht auf mich gewartet hatte. Bestimmt war er, als er mich nicht neben den Latrinen sah, gar nicht gekommen. Bestimmt hatte er den Plan nicht umgesetzt.

Das Zimmer bei der Frau durfte ich nur bis zum Mittag nutzen, und da ich nichts zu essen hatte, zog ich meinen warmen Mantel an und wanderte durch Lwów, bis der Abend kam und die Gefangenen von der Arbeit kamen und wieder hineinschlurften nach Janowska. Lange Reihen gebückter Menschen strömten ins Lager, und ich bezog meinen Posten in der Nähe der Latrinen. Um die Haare hatte ich mir einen leuchtend roten Schal gebunden. Ich wartete. Izio hatte ich nicht entdeckt, aber es war auch schwierig, die vielen Männer mit den rasierten Köpfen und der grauen Kleidung auseinanderzuhalten. Ich hingegen war leicht auszumachen. Ein verdächtiges Element im Dämmerlicht.

Ich wartete. Und wartete.

Die sommerliche Dunkelheit kam spät und zögerlich. Wenn Izio nicht bald auftauchte, würde ich den letzten Zug verpassen. Wenn er überhaupt nicht kam, würde ich auf irgendeiner Wiese schlafen und das Ganze am nächsten Tag wiederholen müssen. Der Wachmann vor der Bürotür wurde abgelöst. Und dann hörte ich ein »Pssst«. Ich sah mich um. Der neue Wachmann winkte mich herbei. Ich ging langsam, während er mir im Halbdunkel entgegenstarrte. Es war der deutsche Soldat, dessen Wange ich geküsst hatte. Er schüttelte den Kopf.

»Ach, du bist das«, sagte er, und es klang nicht erfreut. »Dachte ich es mir doch. Suchst du deinen ›Schwager‹?«

Ich antwortete nicht. Etwas an seiner Art zu sprechen gefiel mir nicht. Er lallte, als wäre er betrunken, aber ich war mir nicht sicher, ob das zutraf. Sein Gesicht zeigte einen Ausdruck, den ich nicht deuten konnte.

»Ich wusste gleich, dass ich dich niemals hätte reinlassen dürfen. Niemals hätte ich …« Er sagte Worte auf Deutsch, von denen ich nur verstand, dass sie hässlich waren, und spuckte zu meinen Füßen auf den Boden.

Ich blickte hoch. »Warum sind Sie wütend auf mich?«

»Weil er deinetwegen umgebracht wurde, nicht wahr, Liebchen? Eine der Offiziersfrauen suchte nämlich die Latrinen auf, und er glaubte, das wärst du. Aber du warst es nicht. Er hatte mit dir einen Plan geschmiedet, und du bist nicht gekommen. So war es doch, oder?«

Mein Kopf dröhnte. Ein dumpfes, donnerndes Dröhnen. Es fiel mir schwer, mich dabei zu konzentrieren. Und schwer, zuzuhören.

»Das hat er uns jedenfalls am Ende gesagt. Aber am Ende hätte er alles gesagt, nicht wahr? Ich hätte dich niemals …« Der Mann verzog das Gesicht, spuckte erneut aus und murmelte: »Verdammtes Orchester.«

»Sie lügen mich an.«

Der Mann lachte. »Du bist Polin, und du sagst, ich lüge? Ich bin in Polen aufgewachsen und ich sage: Alle Polen lügen.« Er machte plötzlich einen Schritt nach vorn, packte mich an den Haaren und zog mein Gesicht an seines. Dann flüsterte er mir all die Dinge ins Ohr, die man Izio angetan hatte. Ich schüttelte den Kopf, schrie, das sei nicht wahr, aber er hörte nicht auf. Und dann stieß er mich so hart zurück, dass ich taumelte.

»Verschwinde«, sagte er. »Bevor ich den Kommandanten rufe.«

Nach Luft schnappend stand ich da, wie erstarrt.

Tot. Tot. Izio war tot.

»Raus!«, rief der Mann.

Ich trat einen Schritt zurück, dann noch einen, und schließlich rannte ich los, geradewegs hinaus auf die Wiese neben dem Lager. Der Lärm in meinem Kopf hörte sich jetzt an wie ein Tiefflieger. Er hüllte mich ein. Ich konnte nichts hören. Ich konnte nicht denken. Ich konnte kaum etwas sehen. Ich stolperte und strauchelte auf dem unebenen Untergrund, holte Izios Schuhe unter dem Mantel hervor und warf sie in zwei verschiedene Richtungen. Auch das Päckchen mit der Kappe und der Brille schleuderte ich mit aller Kraft von mir und brüllte ihm nach, während es in der Nacht verschwand. Beinah fiel ich über einen Steinhaufen, schlug mir daran das Schienbein an und setzte mich schließlich darauf.

Und dann weinte ich. Laute, zerfetzende Schluchzer, die wahrscheinlich auf der Straße und vielleicht sogar im Lager zu hören waren.

Er hatte leben wollen. Zu leben versucht, und sie hatten ihn nicht gelassen. Die Nazis hatten ihn umgebracht. Sie hatten ihn leiden lassen.

Etwas zog sich in mir zusammen. Ein stechender Schmerz und ich spürte, wie mir übel wurde.

Da zupfte mich jemand am Ärmel, und ich merkte, dass in der Dunkelheit vor mir eine Frau stand, hinter der sich die Gestalten von vier oder fünf weiteren Menschen abzeichneten. Einer von ihnen hob eine Taschenlampe. Ich sah meine dreckigen Schuhe und das zerknitterte Kleid, mein nasser Mantel lag im taufeuchten Gras.

»Bist du krank, Kind?«, sagte die Frau.

Ich streckte eine Hand aus, um mich an dem kalten Stein festzuhalten, auf dem ich saß. Der Stein war glatt, flach, und jetzt, im Licht, sah ich, dass etwas darauf geschrieben stand. Ich saß nicht auf Felstrümmern, ich saß auf einem Haufen ausrangierter Grabsteine. Mein Blick fiel wieder auf den weichen und unebenen Boden. Das hier war ein Friedhof.

Vielleicht war Izio hier.

»Hast du schon etwas gegessen?«

Zum zweiten Mal bemerkte ich, dass eine Frau neben mir stand, und jetzt hielt sie mir einen Keks hin. Ich nahm und aß ihn wie ein Kind, für das sie mich offenbar hielt.

»Hast du jemanden verloren?«, fragte eine andere Stimme.

Ich nickte.

»Armes Mädchen.«

»Können wir dich nach Hause bringen?«

Ihre Freundlichkeit tat fast ebenso weh wie Grausamkeit, denn für Izio hatte es keine Freundlichkeit gegeben.

»Zum Bahnhof«, flüsterte ich.

Sie brachten mich eilig in einem Wagen zum Bahnhof und vergewisserten sich, bevor sie mich allein ließen, dass ich ein Zugticket und ein ganzes Päckchen Salzcracker in Händen hielt. Ich weiß nicht mehr, wie viele Leute es waren. Nicht einmal an ihr Aussehen kann ich mich erinnern.

Ich erreichte Przemyśl erst nach der Ausgangssperre, ging aber trotzdem nach Hause. In mein Wohnhaus, leer wie ein Grab. Und ich sah unterwegs nicht einen einzigen Polizisten oder deutschen Soldaten auf Patrouille. Emilika hatte mir einen Zettel hinterlassen, dass sie ihre Mutter in Krakau besuchen fuhr. Ich trank ein wenig Wasser und legte mich ins Bett. War es wirklich so lange her, dass er hier gewesen war?

Ja, war es. Denn das war eine andere Welt gewesen.

Ich stand mit der Sonne auf, holte Papier und Stift und schrieb einen Brief an die Diamants. Ich teilte ihnen mit, dass Izydor im Lager gestorben sei. Dass man ihn erschossen habe, ganz schnell. Dass er in Lwów begraben sei und sie nach dem Krieg vielleicht sein Grab besuchen könnten.

Lügen.

Abgesehen von der Tatsache, dass er tot war.

Ich gab den Brief unserem Postboten, Herrn Dorlich, mit. Er tippte sich an die Mütze. Er war Jude, durfte aber immer noch die Post austragen, solange er anschließend ins Ghetto zurückkehrte. Die SS-Leute warteten am Tor auf ihn. Ich sah ihn mit seinem Pferdewagen und meinem Brief über das Kopfsteinpflaster davonfahren und hievte dann einen gepackten Rucksack auf meinen Rücken.

Ich brauchte jetzt meine Mutter.

Ich brauchte meine Schwestern.

Ich wollte nach Hause.

Geld hatte ich keines.

Also ging ich zu Fuß.

Ich ging wie eine Maschine. Eine dröhnende Hülle aus Metall und mechanischen Teilen. Und fünfundzwanzig Kilometer und eine kurze Fahrt auf einem Fuhrwerk später lief ich den Weg zu unserem Bauernhof entlang.

Die Sonne stand schon tief, leuchtende Strahlen tauchten Hügel und Felder in ihr orangefarbenes Licht. Doch auf den Feldern war niemand zu sehen. Hafer wogte im Wind, die Äste am nahen Waldrand winkten, aber als ich in die Nähe des Hauses kam, wusste ich, dass etwas nicht stimmte. Man hörte keine Hühner. Es gab gar keine Hühner, und auch keine Kühe. Kein leises Pferdegewieher, kein Schnauben. Der Stall war leer. Und die Hintertür des Hauses stand offen.

Ich ging langsam, vorsichtig hinein.

Die Küche war geschrumpft, seit ich zuletzt hier gewesen war. Der Tisch war niedriger, die Feuerstelle kleiner, und es herrschte Unordnung. Stühle waren umgeworfen, eine Schranktür hing lose in den Scharnieren, die Regale waren staubig und leer. Die Luft war abgestanden. Unbelebt. Ohne Wärme.

»Mama?«, flüsterte ich. »Stasiu? Ist hier jemand?«

Ich ging von Zimmer zu Zimmer und wiederholte die gleichen Fragen, aber das Haus hatte keine Antworten. Alles von Wert, was man mitnehmen konnte, war weg, sogar die Kissen von den Betten. Ein paar von Mamas ältesten Kleidungsstücken hingen noch im Schrank, auch ein oder zwei Jacken von Tata, aber ihr Schmuck fehlte ebenso wie das vergoldete Ei meiner Großmutter, das man öffnen konnte wie eine Dose.

Und dann kam ich in das Zimmer, das meines gewesen war. Die Scharniere quietschten, als ich die Tür aufdrückte. Die Wände waren anders gestrichen, verblichene gelbe Baumwollgardinen flatterten am offenen Fenster. Und in der Mitte des Zimmers lag auf einer nackten Matratze, auf der einst ich geschlafen hatte, ein braunhaariges Mädchen, zusammengerollt zu einer Kugel.

»Helena!«, sagte ich. Sie begann zu weinen.

»Wo ist Mama?«, fragte ich sie zum zehnten Mal, aber sie weinte nur und ließ sich von mir wie ein neugeborenes Kalb die Treppe hinuntertragen. Ich stellte einen Stuhl wieder auf, setzte sie darauf und sah mich nach etwas – irgendetwas – um, worin ich Wasser kochen konnte. Alles, was ich fand, war ein alter Nachttopf, der der Katze als Trinkschüssel gedient hatte. Strom gab es keinen, hatte es hier nie gegeben, aber ich fand auf dem Kaminsims Streichhölzer, die zurückgeblieben waren, und etwas Feuerholz war auch noch da. Ich holte am Brunnen Wasser, kochte es, schüttete es aus der Hintertür und setzte den nun sauberen Nachttopf erneut auf.

Die ganze Zeit über saß Helena mit gefalteten Händen da und sah mir zu. Ihr kurzes braunes Haar war verfilzt, ihr Kleid so zerrissen, dass es ihren Körper kaum bedeckte. Durch die Löcher sah ich blaue Flecken an ihren Armen und der Rückseite ihrer Beine. Ich holte die Tasse, die ich eingepackt hatte, aus dem Rucksack, füllte sie mit heißem Wasser und gab einen Teelöffel Zucker aus meinem Vorrat sowie einen Zweig Minze aus Mamas Blumenkasten dazu.

Ich sagte Helena, sie solle pusten, bevor sie trank. Sie tat es und stürzte dann den Tee in einem großen Schluck hinunter. Ich bereitete eine zweite Tasse zu. Ihre Augen waren riesig. War Helena jetzt sechs oder sieben? Sechs, entschied ich.

»Sie haben sie mitgenommen«, flüsterte sie. »Die Männer mit dem kaputten Kreuz.«

Mir war klar, dass sie das Hakenkreuz meinte. Ich setzte mich auf einen Stuhl. »Wen haben sie mitgenommen?«

»Mama und Stasiu.«

Aber wir sind doch katholisch, dachte ich. »War sonst noch jemand hier?«, fragte ich. »Haben sie noch jemanden mitgenommen? War Marysia hier?«

»Nein. Ich weiß nicht.«

»Wann hast du zuletzt etwas gegessen, Hela?«

»Heute Morgen. Ich habe im Wald Himbeeren gefunden.«

Sie mussten überreif gewesen sein. »Wie viele Himbeeren hast du gefunden?«

»Vier.«

»Und wann hast du davor zuletzt etwas gegessen?«

»Gestern früh. Ich habe Himbeeren gefunden.«

»Und wo hast du davor geschlafen?«

»Bei Frau Zielinska. Mama hat mich dort gelassen.«

Aha, jetzt kamen wir der Sache näher.

»Und seit gestern bist du ganz allein hier?«

Sie nickte. Tränen liefen ihr über die Wangen. »Warum hat sie mich hiergelassen, Stefi?«

Ich konnte ihr darauf keine Antwort geben. Weil sie nicht wusste, was sie sonst hätte tun sollen? Mir war selbst zum Weinen zumute. Wegen allem, was passiert war. Aber ich durfte nicht. Ich lächelte Helena zuliebe. »Lass uns etwas essen.«

»Muss ich zurück zu den Zielinskis?«

Ich betrachtete ihre blauen Flecken. Frau Zielinska war eine enge Freundin meiner Mutter gewesen und hatte Helena schon als Baby auf den Knien geschaukelt. Aber seit die deutsche Armee einmarschiert war, war offenbar jeder zu allem fähig.

Die Deutschen. Sie hatten mir meine beiden Familien genommen. Meine Eingeweide zogen sich zusammen. Vor Wut.

Helena wartete auf eine Antwort. Ich wusste genauso wenig wie Mama, was ich mit ihr machen sollte, also sagte ich: »Lass uns heute Nacht hierbleiben.«

Ich gab ihr den Rest der Salzcracker zu essen, die die Leute auf dem Friedhof mir zugesteckt hatten, während ich einen grünen Stecken von dem Weißdorn vor der Eingangstür schnitt und es schaffte, damit Brot und Käse aus meinem Vorrat zu rösten. Sie aß langsam und genoss jeden Bissen. Ich begnügte mich mit einem Apfel.

Dann häufte ich im Herd Kohle auf, verschloss die Tür und ging mit Helena, einem Topf warmem Wasser und einer Laterne, die ich im Stall gefunden hatte, wieder nach oben. Ich wusch sie, so gut ich konnte, die schmerzenden Stellen ganz vorsichtig, kämmte ihr die Haare und ließ sie eines von Mamas liegengebliebenen Hemden anziehen. Bettwäsche war keine da. Dann legte ich mich neben sie auf die nackte Matratze, und sie war Sekunden später eingeschlafen.

Mir tat alles weh. Ich hatte fast nichts gegessen und seit Lwów bloß ein paar Minuten geschlafen, und ich war an einem Tag fast dreißig Kilometer zu Fuß gegangen. Ich hatte Izio verloren, und meine Mutter und Stasiu. Vielleicht noch andere Menschen, ohne davon zu wissen. Meine Füße schmerzten. Mein Kopf tat weh. Und am allermeisten schmerzte die abgrundtiefe Traurigkeit in meiner Brust.

Ich betrachtete die schlafende Helena im Licht der Laterne. Sie war dünn, aber ihr Gesicht war immer noch weich, kindlich rund. Ich konnte an nichts anderes denken, als dass sie meine Schwester war. Meine Familie. Und sie war da. Jetzt. Sie brauchte mich. Alle anderen konnte meine Hilfe nicht erreichen.

Ich schob Izio an einen tiefen, tiefen Ort in meinem Inneren und baute einen Damm gegen die Wogen meiner Traurigkeit. Damit würde ich mich später befassen, wenn ich eine Vorstellung davon hatte, wie das gehen sollte. Ich nahm Helena in den Arm und schlief ein.

Am Morgen machte ich mich auf den Weg über die Felder. Seltsam, an was man sich erinnert. Ich kannte mich hier genauso gut aus wie auf den Straßen von Przemyśl. Nach etwa einem halben Kilometer setzte ich Helena vor dem Tor der Zielinskis auf dem Boden ab. Meine Arme waren fast taub. Helenas Gesicht über dem kaum noch vorhandenen Kleid war ernst, und sie umklammerte meine Hand so fest, dass es schmerzte. Ich klopfte, und ein alter Mann, ein Fremder mit ein paar weißen, zerzausten Haarsträhnen blinzelte mit trüben Augen in die Sonne.

»Könnte ich bitte mit Frau Zielinska sprechen?«

»Nein«, erwiderte der Mann. Ich spürte, wie meine Brauen sich zusammenzogen.

»Warum nicht?«

»Weil sie tot ist. Ich hole meinen Schwiegersohn.«

Die Tür schloss sich wieder. Das war also Frau Zielinskas Vater. Er hatte früher nicht hier gewohnt. Ich sah zu Helena hinunter. »Du hast mir nicht erzählt, dass Frau Zielinska gestorben ist.«

»Du hast nicht gefragt«, erwiderte Helena. Sie war wieder den Tränen nahe. Ihre Hand in meiner zitterte. Ich drückte sie fester. Wieder öffnete sich die Tür, und da stand Herr Zielinski. Helena wich zurück.

»Oho, noch eine Podgórska. Was willst du?«

Der Mann war betrunken. Schon vor acht Uhr morgens. Und Helena hatte er wohl nicht einmal bemerkt. Mir fiel ein, warum ich Herrn Zielinski nie gemocht hatte. »Ich will wissen, was mit meiner Mutter und meinem Bruder passiert ist.«

Er zuckte die Achseln. »Soldaten sind gekommen und haben sie weggeschleppt. In ein Arbeitslager in Deutschland. Arbeiten jetzt für Hitler, und der Bauernhof geht zum Teufel.«

Die Deutschen. Ein Arbeitslager. Wie Izio. Übelkeit flammte wieder in mir auf.

»Wie lange ist das her?«

Er zuckte die Schultern. »Sechs, sieben Wochen.«

Während ich mich um die Diamants gekümmert hatte. Wenn ich da gewesen wäre, hätte ich sie vielleicht warnen können. Ihnen klarmachen, wie die Deutschen waren. Sie verstecken. Sie zur Flucht bewegen.

Ich stopfte diese Schuldgefühle hinter den Damm in meinem Inneren. Um mich später damit zu bestrafen.

»Und Sie haben sich um meine kleine Schwester gekümmert«, sagte ich.

»Um wen?«

»Meine Schwester, Helena.«

Er lehnte sich an den Türrahmen. Das half ihm, aufrecht zu bleiben. »Das war die Sache meiner Ela. Aber jetzt ist sie weg.«

Ich wusste nicht, ob er Helena oder seine Frau meinte.

»Sie finden also, es sei Ihre Sache, unschuldige Kinder zu schlagen und hinauszuwerfen, damit sie im Wald verhungern, Herr Zielinski?«

Er hob belehrend einen Finger. »Ihre Mutter hat gesagt, sie würde bezahlen, hat aber keinen einzigen Złoty geschickt. Kein Geld, kein Essen. Und wenn das Gör nicht putzen will, dann bekommt es meine Hand zu spüren.«

Ich starrte auf seinen schmuddeligen Schnurrbart, die Tränensäcke und das Fett, das sich unter seinen Achseln angesammelt hatte. Er stank. Dabei hätte das gar nicht sein müssen. Ich hielt Helena hinter mir und trat einen Schritt vorwärts.

»Gott wird es Ihnen vergelten«, sagte ich.

Er sah ein wenig erschrocken aus.

»Für jedes Mal, das Sie sie geschlagen haben, werde ich beten, dass ein deutscher Soldat kommt und Sie zehnmal mit einem Knüppel schlägt. Und für jeden Tag, den Sie sie haben hungern lassen, werde ich beten, dass sie zehn Tage lang nichts zu essen und vor allem auch nichts zu trinken bekommen. Ich werde beten, dass Furunkel auf Ihrer Haut sprießen. Dass Sie von einem tollwütigen Hund gebissen werden. Dass Ihre Zähne schwarz werden und Ihre … Ihre Teile von Ihnen abfallen …« Ich sah nach unten, und er tat es mir nach. »Und dass der grässliche Wodka, den Sie in Ihrer Scheune brauen, Sie langsam von innen verfaulen lässt!«

Herr Zielinski öffnete den Mund. Und schloss ihn wieder.

»Und unter uns gesagt, Herr Zielinski, ich glaube, Sie wissen, wessen Gebete Gott erhören wird, Sie jämmerlicher Schmock.«

Ich schnappte mir Helena, wandte mich um und marschierte von dem Haus weg, nicht ohne das Gartentor mit einem Knall hinter mir zuzuwerfen. Die Haustür fiel krachend ins Schloss, und ich hörte mit einem Funken Befriedigung den Riegel fallen. Helena hatte die Arme fest um meinen Hals geschlungen.

»Hast du irgendwelche Schuhe oder Kleidung in dem Haus da?«, flüsterte ich.

»Nein. Sie haben alles verkauft.«

»Gut.« Ich glühte vor Zorn.

»Ich muss also nicht zurückgehen?«, fragte Helena.

»Nein.«

»Nie mehr?«

»Nie mehr.«

Sie lehnte ihren Kopf an meine Schulter, ihre Füße baumelten auf Höhe meiner Knie. Und dann kicherte sie.

Je weiter wir uns von den Zielinskis entfernten, desto lockerer wurde Helenas Klammergriff. Nach einer Weile lief sie neben mir her. Ein bisschen später sprang sie. Drei Kilometer weiter begann ich darüber nachzudenken, was ich da tat. Wie sollte ich ein kleines Mädchen ernähren? Sie kleiden? Musste sie nicht eigentlich zur Schule gehen? Ich hatte keine Ahnung, wie man sich um ein Kind kümmert.

Aber Helena hatte nur mich. Also würde ich mich um sie kümmern.

Wenn Gott einen Funken Gerechtigkeit walten ließ, dachte ich, während ich die Straße entlanglief, bergauf und bergab, dann würde er meine Gebete für Herrn Zielinski erhören. Und dann betete ich, die Deutschen mögen tausendmal schlimmere Höllenqualen erleiden. Wegen des Ghettos. Weil sie mir Mutter und Bruder genommen hatten. Weil sie Züge anhielten. Und für das, was sie Izio angetan hatten.

Helena musste sich jetzt etwa jeden Kilometer ausruhen. Sie sagte, ihr Kopf und ihre Füße schmerzten, also trug ich sie auf dem Rücken, und dann musste ich mich ausruhen. Ich teilte das letzte Stück Brot mit ihr, trank aus einem Bach und wir liefen weiter. Wir sahen den ganzen Tag lang weder ein Auto noch einen Karren, und da wir so oft anhalten mussten, brauchten wir doppelt so lange wie ich allein beim Hinweg, bis wir schließlich zwischen den Hügeln herunterkamen und am anderen Flussufer die Lichter von Przemyśl sahen.

Allerdings waren es nur wenige Lichter. Die Stadt war schummrig, die Fenster dunkel, nur hie und da eine zwischen den Gebäuden fast versteckte Straßenlaterne. Eine Uhr hatte ich nicht, aber sicher war es weit nach Mitternacht. Ich hielt Helenas Hand und kaute nachdenklich auf meiner Unterlippe.

Ein-, zweimal war ich bereits nach der Sperrstunde in die Stadt zurückgekommen, weil es für Frau Diamants Sachen in den Dörfern bessere Preise gab als in den Läden der Stadt. In jenen Nächten hatte ich auf den Feldern geschlafen und darauf gewartet, dass die Sonne aufging und ich wieder auf der Straße sein durfte. Aber die Dämmerung war noch fern und es gefiel mir nicht, wie meine Schwester aussah. Still und großäugig schwankte sie beim Stehen, und statt zu schwitzen, froren wir jetzt. Sie zitterte, und ich traf eine Entscheidung. Als ich zuletzt nach der Sperrstunde heimgekommen war, hatte ich keine deutsche Patrouille gesehen. Und wir konnten die finsteren Seitengassen benutzen.

»Komm, Hela. Es ist nicht mehr weit. Wir trinken einen Tee und nehmen ein warmes Bad, und du kannst die ganze Nacht in einem Bett schlafen …«

Sie nickte, als würde sie träumen, halbnackt in ihrem zerfetzten Kleid. Wieder biss ich mir auf die Lippen. So konnte sie nicht unter Menschen gehen, selbst wenn diese schon in den Betten lagen. Ich führte sie hinter einen Baum, zog mein eigenes Kleid über den Kopf und warf es ihr über. Sie wachte ein wenig auf, streckte die Arme durch die weiten Ärmel, während ich den Gürtel festzog. Der überschüssige Stoff wölbte sich über dem Gürtel, aber zumindest würde sie nicht stolpern. Ich holte meinen Mantel aus dem Rucksack und zog ihn über meine Unterwäsche.

»Siehst du«, sagte ich zu ihr. »Keiner wird etwas merken. Aber du musst ganz leise sein, schnell gehen und genau das tun, was ich dir sage, ja? Es ist wie ein Spiel. Wir versuchen zu meinem Haus zu kommen, ohne dass uns jemand entdeckt …«

Ich trabte los, Helena stolperte neben mir her, und wir schlichen uns hinein nach Przemyśl. Hinter den ersten Gebäuden, abseits vom Licht, blieben wir geduckt stehen, lauschten und spähten in alle Richtungen. Die Stadt war so ruhig, wie ich es noch nie erlebt hatte, nur ein Zug rumpelte in der Ferne. Dann kamen wir auf die Mickiewicza. Hier, auf der Hauptstraße, gab es wenig Deckung.

»Beeil dich, Hela!«, flüsterte ich und zog sie an der Hand hinter mir her. Wir wichen den gelben Lichtkegeln der Straßenlaternen aus, rannten an den Stufen von Läden und Wohnhäusern vorbei.

»Stefi …«, schnaufte Helena. »Ich kann nicht …«

»Komm schon!«, flüsterte ich.

»Ich kann nicht … atmen …« Helena gab ein ersticktes Geräusch von sich, das in der Stille viel zu laut war. Und dann wurde ihre Hand schlaff, und sie fiel mit dem Gesicht voraus auf den Gehweg.

Sie stand nicht auf. Sie rührte sich nicht.

Ich fiel auf die Knie und drehte sie um. Sie hatte sich die Stirn aufgeschlagen, und das Blut war sehr rot auf ihrem weißen, weißen Gesicht. Ihre Wangen waren kalt. Ihre Hände waren kalt. Ihre Brust bewegte sich nicht. Und ich konnte ihren Herzschlag nicht fühlen.

Plötzlich brach der Damm in mir, und Trauer überflutete mich. Ich würde sie alle verlieren. Jeden einzelnen Menschen, den ich liebte. Und es war immer meine Schuld.

Meine Schuld. Meine Schuld. Meine Schuld …

Ich blickte hinunter auf Helenas regloses Gesicht, und ich schrie.