8

Juli 1942

Ich schrie erneut. Ich schrie ihren Namen, aber Helena rührte sich nicht. Nicht einmal, als ich sie schüttelte.

Und dann öffnete sie den Mund und seufzte.

Ich rang, die Hand an der Brust, nach Luft, und eine Stimme sagte in der Dunkelheit: »Halt! Wer ist da?«

Ein Lichtkegel schien mir ins Gesicht und blendete mich. Eine Pistole wurde entsichert.

Helena war nicht tot. Aber soeben hatte ich uns beide umgebracht. Langsam hob ich die Hände.

»Bitte«, sagte ich blinzelnd. »Meine Schwester, sie ist krank. Sie muss zum Arzt …«

Ich sah Stiefel und die Mündung der Pistole sich nähern. Ein Hund bellte.

»Einen Arzt!«, flehte ich. »Bitte!«

Die Stiefel verharrten, und ein deutscher Fuß stieß Helena in die Seite. Sie hustete, und die Stiefel ließen von ihr ab. Hinter den Lampen wurde geflüstert.

Dann gab die Stimme, die zuvor gesprochen hatte, in fürchterlichem Polnisch einen weiteren Befehl, der möglicherweise lautete »nimm sie hoch« und »komm mit«.

Ich nahm Helena auf den Arm und richtete mich mühsam auf. Sie war schwerer, weil sie bewusstlos war, und ich zitterte, aber ich schaffte es. Ein deutscher Polizist ging hinter mir, die Waffe auf meinen Rücken gerichtet, während ich dem Rest der Patrouille den Gehweg entlang folgte, eine langsame Parade.

Wir wurden festgenommen, und ich wusste, was nun geschehen würde. Sie würden mich schlagen und foltern. Herausfinden, dass ich Juden mit Essen versorgt hatte. Dass ich versucht hatte, einem Juden zur Flucht zu verhelfen. Dass ich für meine Papiere falsche Angaben gemacht hatte.

Dass mir bei ihrem bloßen Anblick übel wurde und mein Blut zu kochen begann und jeder Knochen in meinem Körper brannte.

Ihnen das zu sagen, würde mir vielleicht sogar ein gutes Gefühl geben. Aber vermutlich nur für ein, zwei Minuten.

Wir erreichten die Polizeistation, betraten sie aber durch den Hintereingang, nicht von vorne. Ich legte Helena auf eine Bank in einem schmucklosen Flur mit hellem elektrischem Licht, und zwei der Polizisten durchsuchten meinen Rucksack. Ich sah sie die Tasse, die Streichhölzer und eine halbe Scheibe Brot herausziehen. Eine halbe Scheibe Brot. Das war Helenas Anteil. Von der Rast am Bach. Ich blickte auf das reglose Gesicht meiner Schwester hinunter. Warum hatte sie ihr Brot nicht gegessen?

Einer der Polizisten kam und durchsuchte meine Taschen, dann versuchte er, mir den Mantel auszuziehen. Ich schlug seine Hände weg. Ich trug darunter nichts als Unterwäsche, und alles Geld, das ich in dieser Welt besaß, steckte in meinem BH. Und ich hatte keine Ahnung, wie sie das finden würden. Ich schlug die Hände des Mannes weg, und die anderen Polizisten lachten. Sie unterhielten sich eine Weile, wahrscheinlich über mich, und gingen dann den gleichen Weg hinaus, den wir hereingekommen waren.

Ein Deutscher mit Pistole blieb bei mir. Er redete nicht. Er sah mich nicht einmal an. Wahrscheinlich wusste er, was nun kam. Ich hatte weniger Angst, als ich vermutet hatte.

Wahrscheinlich viel weniger Angst, als ich hätte haben sollen.

Ich setzte mich neben Helena. Sie atmete, hatte aber noch nicht die Augen geöffnet. Ich streichelte ihr Haar und fragte mich, was wohl mit ihr geschehen würde.

Am Ende des Flurs öffnete sich eine Tür, und ein Mann streckte den Kopf hindurch. Er sah uns beide an und winkte mich dann herbei. Ich sah den Wachmann an, aber er reagierte nicht. Also war es Zeit. Ich bückte mich, um Helena aufzuheben.

»Nein. Lassen Sie mich das machen«, sagte der Mann, kam den Flur entlang und nahm sie selber hoch. Er trug eine deutsche Uniform, sprach aber sehr gut Polnisch, mit ganz wenig Akzent. Ich folgte ihm in den Raum hinter der Tür, wo uns weder Polizisten noch SS-Leute mit Waffen und Knüppeln erwarteten. Stattdessen gab es einen Tisch, ein paar Regale und einen Untersuchungstisch, auf den er Helena legte.

»Ich bin Dr. Becker«, sagte er und zog ein Stethoskop aus der Tasche. »Ist das Ihre Schwester?«

Ich nickte, starr vor Erstaunen.

»Erzählen Sie mir, was ihr zugestoßen ist.«

Das tat ich, während er Helenas lächerlich großes Kleid aufschnürte und sie untersuchte. Ihn sie berühren zu lassen, machte mir Angst, aber meine Angst, keine Hilfe zu bekommen, war genauso groß. Er stellte Fragen, was und wann wir gegessen hätten und wie sie sich vor der Ohnmacht verhalten habe. Er untersuchte ihre Blutergüsse. Helena begann sich ein wenig zu bewegen und schlug die Augen auf.

»Ganz ruhig«, sagte Dr. Becker zu ihr. Und dann zu mir: »Bitte, setzen Sie sich. Möchten Sie Ihren Mantel aufhängen?«

Ich setzte mich und schüttelte den Kopf. Den Mantel hielt ich geschlossen.

»Bitte warten Sie hier«, sagte er und verließ den Raum.

Und jetzt kommt die Polizei, dachte ich. Sie werden mich mitnehmen, und ich werde Helena nie wiedersehen. Mir brach der Schweiß aus.

Die Tür öffnete sich wieder und der Arzt kam zurück. Mit zwei Tassen Tee. Eine gab er mir, die andere brachte er zu Helena. Er setzte sie auf und hielt die Tasse so, dass sie daran nippen konnte.

»Ihre Schwester ist unterernährt und erschöpft«, sagte der Arzt. »Vor allem braucht sie Ruhe und gutes Essen.« Er zog eine Packung Kekse aus der Tasche, half Helena aufzustehen und gab ihr einen Keks. »Trinken Sie«, sagte er zu mir. »Da ist viel Zucker drin und ein bisschen Milch. Sie sehen aus, als könnten Sie das brauchen.«

Ich tat, was er sagte, und beobachtete ihn über die Tasse hinweg aufmerksam. Ich traute ihm nicht.

»Sie hat ein bisschen Fieber, und ich höre auch etwas in der Lunge«, sagte er. »Darum gebe ich Ihnen eine Packung Antibiotika und ein paar Aspirin mit. Werden Sie sie ihr geben? Werden Sie sie nicht verkaufen?«

Ich sah Helena an, die viel schneller, als höflich gewesen wäre, die Kekse vertilgte, und schüttelte den Kopf. »Ich werde sie ihr geben.«

»Gut. Ich komme morgen vorbei, um sicherzugehen, dass alles in Ordnung ist. Wo wohnen Sie?«

Ich war so verblüfft, dass ich ihm meine Adresse nannte. Daraufhin rief er zwei Polizisten, die uns nach Hause brachten, damit wir nicht von Patrouillen aufgehalten wurden. Ich verriegelte die Tür hinter uns, wusch Helena Gesicht und Hände, gab ihr das Antibiotikum und eine Aspirin und steckte sie dann in mein Bett. Emilika war nicht da. Ich hoffte, dass ihr Besuch bei ihrer Mutter anders verlaufen war als meiner.

Ich schlief auf einem Stuhl ein, während ich darauf wartete, dass die Gestapo an die Tür hämmerte.

Als es allerdings am nächsten Morgen klopfte, war es Dr. Becker. Wie er versprochen hatte. Helena saß mit gekämmten Haaren und in meinem sauberen Nachthemd im Bett, und er tätschelte ihr Kinn und horchte ihre Lungen ab und nannte sie Mäuschen und kleine Fee. Dann sagte er mir, ich solle gut auf sie aufpassen und keine weiten Märsche mehr unternehmen. Er ließ einen Sack Schrotmehl und ein Glas Vitamintabletten da.

Ich sah ihn nie wieder.

An diesem Tag begann der vierte Teil meiner Ausbildung in Przemyśl. Es war falsch, alle Menschen in einen Topf zu werfen. Ob sie nun Juden waren oder Polen.

Oder gar Deutsche.

Den nächsten Tag verbrachte ich bei Helena, sorgte dafür, dass sie im Bett blieb, und brauchte meine letzten Lebensmittelvorräte auf. Am darauffolgenden Morgen wartete ich am vom Nieselregen getrübten Fenster, und als ich die bewachten Männerreihen die Straße herunterkommen sah, rannte ich hinunter, um Max zu treffen. Ich wollte gerade neben ihm in die Reihe treten, die Haare tropfnass vom Regen, als er den Kopf schüttelte und über die Schulter zurückblickte. Diesmal war nicht der gewohnte Wachmann dabei, sondern ein SS-Mann. Ich nahm Abstand, und Max hielt sieben Finger in die Höhe. Um sieben Uhr abends würde er mich am Zaun treffen. Dann senkte er den Kopf und blickte nach vorn, um keine Aufmerksamkeit zu erregen.

Ich sah ihm nach. Regen tropfte aus seinen Haaren, die so dunkel waren wie Izios.

Niemals hatte ich traurigere Augen gesehen.

Er musste wohl meinen Brief bekommen haben.

Nachdenklich ging ich weiter, um schließlich an einer Straßenecke stehen zu bleiben, wo ich, den Rücken zur Straße, verstohlen nach dem Geld in meinem BH tastete. Ich hatte noch die Złoty, die für Izios Zugfahrkarte gedacht gewesen waren. Wenn ich sie gut einteilte, würden sie reichen, um Helena und die Diamants noch eine Woche lang zu ernähren. Höchstens. Und Helena brauchte ein Kleid, Schuhe, Unterwäsche, ein Nachthemd und wahrscheinlich noch andere Dinge, die mir jetzt nicht einfielen.

Ich kontrollierte in einem Schaufenster meine Haltung und ging zu dem Schneider, bei dem ich schon einmal nach Arbeit gefragt hatte, aber die Stelle war längst besetzt. Dann suchte ich jeden einzelnen Laden zwischen Mickiewicza und Marktplatz auf. Entweder gab es keine Arbeit oder ich war dafür ungeeignet, oder es existierte gar kein Laden mehr, weil er einem Juden gehört hatte. Ich gab auf, ging zum Markt und kaufte relativ günstig ein, weil nicht viele Leute bei dem Regen rausgingen. Sogar einen Rock für Helena erstand ich, etwas zu weit vielleicht. Wenn ich ein wenig Faden beschaffte, konnte ich ihn am Bund einnähen und aus ihrem zerrissenen Kleid eine Bluse machen.

Als ich mich meinem Haus näherte, klarte der Himmel auf und zwei Lkws blockierten die Straße davor. Auf den Ladeflächen stapelten sich Möbel, als sei ein Haus auf den Kopf gestellt worden. Wir bekamen Nachbarn. Ich stieg die Treppe hinauf, vorbei an Menschen und Kisten, und als ich mein Zimmer betrat, fand ich dort schon eine Nachbarin vor. Emilika hatte Helena auf dem Schoß und kämmte sie, was Helena nicht zu gefallen schien.

»Ich habe deine Schwester kennengelernt«, sagte Emilika und zog Helena das Haar straff aus dem Gesicht. Sie hat mir alles von eurem Weg nach Hause erzählt, nicht wahr?« Der letzte Satz war an Helena gerichtet, doch Emilika schien gar nicht mitzubekommen, dass meine Schwester keine Antwort gab. Ich stellte meine Pakete ab und ließ meinen Mantel darauf fallen. Wenn Emilika sah, wie viel Essen ich gekauft hatte, würde sie Fragen stellen. Sie redete und redete. Über ihre Mutter, obwohl ich keine mehr hatte. Über einen Jungen, den sie kennengelernt hatte, obwohl ich keinen mehr hatte.

Es war nicht fair. Sie wusste es nicht. Aber ich hätte sie am liebsten aus dem Fenster geworfen.

»Na, Fusia, hast du Essiggurken gegessen?« Das bezog sich wohl auf meinen säuerlichen Gesichtsausdruck. Also erzählte ich ihr von meiner Arbeitssuche.

»Ach, es gibt jede Menge Arbeit in der Fabrik«, sagte sie, »sofern du bereit bist, für die Deutschen zu arbeiten. Gestern stand vor dem Arbeitsamt eine lange Schlange, die ganze Straße runter. Dabei haben die Leute nur ihre Bewerbungen abgegeben.«

Was bedeutete, dass ich zu spät dran war. Ich rieb mir die Schläfen.

»Aber, Fusia, es gibt immer noch eine Möglichkeit«, sagte Emilika. Sie band Helenas Haar mit einer Schnur zurück. Zu straff. »Ein kleines Geschenk könnte helfen. Etwas, was den Deutschen einen Grund gibt, deinen Namen ganz oben auf die Liste zu setzen.«

»Was meinst du damit? Welche Art Geschenk?«

»Ungefähr dreihundertfünfzig Złoty. Das habe ich zumindest gehört.«

Dreihundertfünfzig. Wie sollte ich jemals so viel Geld zusammenbekommen? Die Kiste war fast leer. Ich hatte nichts mehr, was ich eintauschen konnte.

All diese Gedanken hellten nicht gerade meine Stimmung auf, und Helenas Laune war auch nicht besser. Sobald Emilika weg war, setzte sie sich aufs Bett, verschränkte die Arme und weigerte sich, an den Tisch zu kommen, um das Butterbrot zu essen, das ich ihr gemacht hatte. Ich sagte ihr, sie müsse essen. Nein, müsse sie nicht. Ich sagte ihr, Dr. Becker habe es gesagt. Nein, habe er nicht. Ich befahl ihr zu essen. Sie sagte, sie lasse sich nichts befehlen.

Sie war meine Schwester, aber sie war auch ein Kind, und ich wusste nicht, was ich mit ihr anfangen sollte. Ich erklärte ihr, ich hätte etwas zu erledigen. Eigentlich hatte ich einfach nur das Bedürfnis zu gehen. Nachzudenken.

»Ich will mitkommen«, sagte Helena.

Mein Gesichtsausdruck muss das Wort »nein« schon vorweggenommen haben, denn sie verzog das Gesicht und ihre vor der Brust verschränkten Arme spannten sich an.

»Ich will mitkommen«, wiederholte Helena.

»Nein!«

»Dann bring mich nach Hause.«

Was ich darauf sagen sollte, wusste ich auch nicht. Ich war nicht ihre Mutter. Ich war überhaupt keine Mutter. »Ich bringe dich nicht zurück auf den Bauernhof, Hela.«

»Du willst mich hier nicht!«

»Das ist nicht wahr!«

Aber bei mir regten sich Schuldgefühle, als ich das sagte. Doch die wurden schnell von der Erleichterung erstickt, dass meine Schwester am Leben war. Ich setzte mich neben sie auf das Bett.

Sie wischte sich über die Augen und sagte: »Ich habe dich gestern Abend gehört.«

»Bei was gehört?«

»Wie du geweint hast. Du wünschst dir, ich wäre nicht da.«

Ich seufzte tief. Und dann dachte ich an Helena, allein auf dem Bauernhof, allein auch zuvor bei einem Mann, der sie schlug und vernachlässigte. An Helena, wie sie krank in einem fremden Zimmer in einer Stadt lag, die sie nicht kannte. Daran, wie es für sie gewesen sein musste, an diesem Morgen aufzuwachen und festzustellen, dass ich nicht da war. Und dann kam auch noch eine Fremde angetanzt und ruinierte ihre Haare. Ich dachte an das übriggelassene Stück Brot.

Meine Schwester sollte nicht glauben, sie müsse hungern, um bei mir bleiben zu dürfen.

Ich zog an dem Haarband und befreite ihre Stirnfransen. »Ich bin nicht Mama«, sagte ich. »Und ich werde auch nicht versuchen, wie sie zu sein. Aber ich bin deine Schwester. Wenn wir alle nicht zu Hause sein können, dann ist es mir lieber, du bist bei mir als irgendwo sonst auf der Welt. Wir gehören jetzt zusammen. Für mich ist wichtig, dass du tust, was ich sage, auch wenn du es manchmal nicht verstehst, und dafür verspreche ich, dass ich dir die Wahrheit sagen werde. Immer. Auch wenn es was Schlimmes ist.«

Sie zog die Stirn kraus.

»Und ich fange jetzt gleich damit an. Gestern Abend habe ich geweint, weil jemand gestorben ist, von dem ich mir wünsche, dass er noch lebt. Kapiert? Es hat nichts mit dir zu tun.«

»War es jemand, den ich kenne?«

Ich schüttelte den Kopf. Ihre nackten Füße schlugen gegen das Bettgestell.

»Ich bin kein Baby«, sagte sie. »Ich komme allein zurecht. Ich bin jeden Tag allein zum Bauernhof gegangen. Aber es ist keiner wiedergekommen.«

»Na, ich komme ganz sicher wieder. Auch das verspreche ich dir.« Ich hoffte, dass das keine Lüge war. »Ich komme wieder, Helena.«

Sie sah nicht überzeugt aus.

»So. Komm mit.«

Ich ging mit ihr zur Wohnungstür, zeigte ihr, wie der Riegel funktionierte, und dann machte ich ihr vor, wie man einen Stuhl unter die Klinke stellen konnte, sodass sie sich nicht herunterdrücken ließ. Wir vereinbarten ein Klopfsignal, damit sie wusste, dass ich draußen stand. Dann sahen wir uns all die leeren Zimmer in der Wohnung an, verriegelten die Tür unseres Zimmers und stellten auch hier einen Stuhl unter die Klinke. Helena lächelte, und ihr Lächeln wurde breiter, als ich ihr den Rock gab. Sie setzte sich auf einen der beiden verbliebenen Stühle und aß ihr Brot.

»Sie hat dich Fusia genannt«, sagte Helena mit vollem Mund. »Und Michał auch.« Sie sprach von unserem älteren Bruder. »Ich weiß nicht mehr, wie ich dich nenne. Zum Spaß.«

Kein Wunder, schließlich war sie noch ein Baby gewesen, als ich von zu Hause wegging.

»Darf ich dich Fusia nennen?«, fragte sie.

Das machten alle. Aber ich sagte bloß: »Nenn mich, wie du willst.«

Helena überlegte angestrengt und zuckte dann die Achseln. »Ich werde dich Stefi nennen.«

Später an diesem Abend, als ich, das Essenspaket für die Diamants unter meinem Mantel, die Wohnungstür hinter mir schloss, hörte ich, wie hinter mir der Riegel vorgeschoben und ein Stuhl vor die Tür gerückt wurde.

Etwas in mir wollte meine Schwester in der Wohnung einsperren, bis der Krieg vorüber war.

Etwas in mir wollte sich gleich mit ihr einsperren.

Kurz vor sieben erreichte ich den Zaun. Die Sonne hinter den Gebäuden stand schon tief, aber es war noch warm. Mein schwerer Mantel wirkte sicher seltsam. Ich wartete an der Ecke, klopfte nervös mit dem Fuß auf den Boden. Über mir hing ein neues Plakat mit der Aufschrift TOD ALLEN, DIE EINEM JUDEN HELFEN. Es gefiel mir nicht, dass es dort hing. Es war, als wüssten die Deutschen, dass jemand, der hier stand, diese Warnung nötig hatte. Dann hörte ich, dass auf der anderen Seite des Zaunes ein Tango gepfiffen wurde.

Ich ging geduckt um die Ecke in die enge Passage mit dem Zaunpfosten. Max wartete, aber statt das Paket entgegenzunehmen, hob er den Zaunpfosten aus dem Loch und zog mich hinein.

»Pssst«, sagte er, als ich protestieren wollte. »Hast du ein Taschentuch?« Ohne meine Antwort abzuwarten, fand er es in meiner Tasche und band es mir um den rechten Oberarm. Dann führte er mich zu einer Tür und öffnete sie. Es war eine stillgelegte Lagerhalle, ein dunkler, feuchtkalter Ort, wo Ratten herumhuschten. Er neigte sich ganz nah an mein Ohr.

»Es wird hier im Lager eine Aktion geben.«

»Was für eine …«

»Jeder, der keine Arbeitskarte hat, wird in ein Arbeitslager gebracht.«

Ich traute dem Wort »Arbeitslager« nicht. »Warum flüsterst du?«

»Weil jeder jeden an die Deutschen verraten wird. Sogar Juden, wenn sie glauben, sie könnten damit ihr Leben retten.«

»Hast du eine Arbeitskarte?«

Ich spürte, wie er in der Dunkelheit nickte. »Chaim, Henek und seine Freundin auch. Unsere Eltern nicht.«

»Sie werden also fortgehen?«

Wieder spürte ich, wie er nickte.

»Wann?«

»In den nächsten Tagen. Also werden wir das hier ihnen geben.« Er hielt das Essenspaket in die Höhe. »Oder jedenfalls so viel, wie sie tragen können.«

Das alles ging so schnell, dass es mir schwerfiel, irgendwelche Gefühle zu spüren. Dafür war später noch Zeit.

»Kannst du noch mehr bringen«, fragte er, »für danach?«

»Habt ihr noch irgendwas, das ich verkaufen kann?« Und ich erzählte ihm rasch von Helena, von der Unmöglichkeit, Arbeit zu finden – außer bei den Deutschen, wo man Geld brauchte, um überhaupt angestellt zu werden.

»In Ordnung, ich werde fragen. Und, Fusia …« Ich glaube, er rieb sich die Stirn. »Ich wollte noch wissen …«

Beide hielten wir inne und lauschten. Stiefel marschierten mit lautem Klacken die Gasse entlang. Sie kamen an unserer Tür vorbei, der Stacheldraht rasselte, und schließlich marschierten sie wieder vorbei und das Geräusch verlor sich in der Ferne.

»Ich glaube, sie wissen das mit dem Zaun«, flüsterte ich.

»Vermutlich hast du recht. Wir treffen uns morgen hier drinnen, und danach überlegen wir uns einen neuen Treffpunkt.« Wieder rieb er sich die Stirn. »Ich muss dich etwas fragen. Wegen deines Briefs.«

Etwas in mir krampfte sich zusammen. Max’ Worte waren fast unhörbar.

»Es war eine Lüge, stimmt’s? Dass es … schnell ging.«

Ich brachte kein Wort heraus. Wäre ich rechtzeitig dort gewesen, wäre das alles vielleicht nicht geschehen. Vielleicht wäre Izio jetzt bei uns. Doch wenn irgendjemand diesen Schmerz verstehen konnte, dann Max. Izio war an seiner Stelle gegangen. Ich biss die Zähne zusammen und nickte.

»In Ordnung«, sagte Max. »In Ordnung.« Wir standen noch ein paar Minuten in der feuchtkalten Dunkelheit, dann lauschte er an der Tür. »Ich glaube, die Luft ist rein. Sei vorsichtig, und …« Er ergriff meine Hand und küsste sie. »Danke, dass du Mame angelogen hast.«

So schnell wie möglich schlüpfte ich durch den Zaun, und als ich um die Ecke mit dem Plakat bog, war niemand dort. Ebenso wenig am nächsten Abend, als Max mir zwei Hemden sowie eine Uhr und eine Brosche gab, die in Frau Diamants Hüfthalter sicher verstaut gewesen waren.

»Nutz das, um Arbeit zu bekommen«, sagte Max. »Erst einmal werden wir hungern, aber dafür haben wir länger zu essen, wenn du ein regelmäßiges Einkommen hast.«

Ich versteckte die Schätze unter meinem Mantel, doch diesmal hörte ich, als ich den Pfosten zurück ins Loch steckte, von der ehemaligen Lagerhalle an der Straße her eine harte deutsche Stimme, die einen Befehl brüllte. Und dann redete Max, erzählte ihnen, dass er nichts getan habe, nur nach einem Onkel gesucht, der …

Ich schaffte es um die Ecke und stand schwer atmend unter dem Plakat. Als ich das Geräusch von Fäusten hörte, die auf einen Körper einschlugen, schloss ich die Augen.

Bitte, lieber Gott, lass nicht zu, dass sie Max töten.

In dieser Nacht fand ich keinen Schlaf.

Doch am Morgen, zur gleichen Zeit wie immer, blickte Max auf seinem Weg zu den Kohlenplätzen zu meinem Fenster hoch. Er hatte einen blauen Fleck im Gesicht und eine geschwollene Lippe, aber er war noch am Leben. Ich verbrachte den ganzen Tag damit, die Sachen der Diamants zu verkaufen, und am nächsten Tag hatte ich 340 Złoty.

Hoffentlich war das genug.

Frühmorgens stellte ich mich in die Schlange beim Arbeitsamt.

Chuzpe, hatte Frau Diamant immer gesagt. Die brauchte ich heute.

Ich trat in der Schlange von einem Fuß auf den anderen, die Arme vor meinem knurrenden Bauch verschränkt, die Haare gut frisiert und den Mund ein klein wenig rot angemalt. Als der Vormittag halb um war, hatte ich es ins Gebäude geschafft. Am Spätnachmittag war ich schließlich an der Reihe. Ich straffte die Schultern und ging entschlossen auf den Tisch zu, wobei ich lächelte, als wäre der Deutsche, der dahintersaß, der einzige Mensch auf Erden, dem ich jemals etwas hatte verkaufen wollen.

Dieser Mann trug keine Brille mit Drahtgestell. Er hatte einen Leberfleck auf dem Kinn.

»Guten Tag«, sagte ich. »Ich hoffe, Ihnen geht es heute gut.«

Der Mann wandte den Blick von meinem übertrieben freundlichen Gesicht zu der Schlange hinter mir. Er zögerte einen Moment. »Papiere«, sagte er müde. Ich setzte mich auf einen Stuhl.

»Ich hoffe Arbeit zu finden«, sagte ich. »Und ich hoffe, dass es schnell geht. Wissen Sie …« Ich beugte mich vor. »Ich habe eine kleine Schwester. Sie ist sechs Jahre alt, und ihre Mutter ist fort. Unsere Mutter und unser Bruder sind momentan nicht da, sie arbeiten hart für Ihr Vaterland, genau wie Sie …«

Der Mann seufzte und wischte sich mit dem Uniformärmel die Nase ab. Vielleicht hatte ich ein wenig zu dick aufgetragen.

»Und während sie weg sind, muss ich für meine Schwester sorgen …«

»Papiere«, sagte er erneut und streckte die Hand aus.

»Darum hoffe ich«, fuhr ich fort, »dass Sie Verständnis haben und meinen Namen oben auf die Liste setzen.« Ich reichte ihm meine Dokumente und sah zu, wie er sie auseinanderfaltete. Ich versuchte seinen Gesichtsausdruck zu deuten, als er das Geld zwischen den Seiten entdeckte. Einen Moment lang herrschte Stille.

»Ich bin eine sehr gute Arbeiterin«, sagte ich schnell. »Ich arbeite seit meinem zwölften Lebensjahr. Und ich bin immer pünktlich.«

Der Mann öffnete eine Schreibtischschublade, stellte meine Papiere auf die Kante und ließ die Złoty geschickt hineingleiten, um die Schublade dann wieder zuzuknallen. Er gab mir meine Dokumente zurück und schob dann ein Formular und einen Stift über den Tisch. »Füllen Sie das aus, Fräulein.«

Ich tat es, während mein Magen sich verknotete. Das Geld war weg. Aber ich lächelte den Mann erneut an, als ich das Formular ausgefüllt hatte.

»Und die Arbeit?«

»Sie bekommen einen Brief.«

»Aber …«

»Man wird Sie benachrichtigen, Fräulein.«

»Aber …«

»Der Nächste!«

Ich drückte meine Papiere an mich und ging. Die Uhr. Die Brosche. Das waren Opfer, und ich hatte sie gerade an einen Nazi verspielt. Für nichts.

Allein schon der Gedanke machte mich krank.

In dieser Nacht wachte ich auf, Sorge um Max und düstere Gedanken wegen meiner vergeblichen chuzpe quälten mich. Und dann merkte ich, was mich geweckt hatte. Ein Schrei. Ein Frauenschrei in der Ferne.

Und ich kannte diese Stimme.

Die Matratze ächzte, als ich die Decke zurücktrat, Helena schlafend zurückließ und aus dem Zimmer durch die leere Wohnung in Herrn und Frau Diamants ehemaliges Zimmer rannte. Ich riss das Fenster auf und lehnte mich so weit ich es wagte hinaus in die kühle Nacht.

Ich sah Lichter im Ghetto, Scheinwerfer, die derart hell waren, dass alles, was sie nicht erfassten, in tiefster Dunkelheit versank. Eisenbahnwaggons wurden aneinandergereiht, Menschen drängten sich so dicht, dass man unmöglich einzelne Gestalten hätte ausmachen können. Aber ich konnte sie hören. Laute Schreie, Kinderweinen. Hundegebell. Schüsse knallten, manchmal aus Pistolen, manchmal aus Maschinengewehren, und dann sah ich, dass am Ende der Schlange die Menschen in die Züge geschoben wurden. Einer nach dem anderen, in Waggons, die zu hoch waren, um einzusteigen. Die Leute robbten auf dem Bauch oder auf dem Rücken hinein. Manchmal fielen sie herunter. Manchmal zogen die Hunde sie herunter. Ich wollte mir gegen den Lärm am liebsten die Ohren zuhalten. Die Augen schließen.

Aber aus allen anderen hörte ich wieder die Stimme heraus. Das Weinen und Schreien einer Frau.

Es war meine Babcia. Ich wusste es. Frau Diamant wurde in einen dieser Züge gesteckt.

Ich stand am Fenster, bis die Menge fast verschwunden war und die Züge sich in Bewegung setzten. Dampf quoll aus dem Rauchfang der Lokomotiven in die Luft.

Als ich am nächsten Morgen darauf wartete, dass Max auf dem Weg zur Arbeit vorbeikam, konnte ich auf dem Gehweg kaum stillstehen. Der gewohnte Wachmann starrte mich an, gab es jedoch auf, als ich auf seinen Blick nicht reagierte. Ich trat neben Max in die Reihe. Aber ich sagte nichts. Max war blass, Schatten lagen unter seinen Augen. Er marschierte im Gleichschritt, und er sah aus, als würde er im nächsten Moment Streit anfangen. Explodieren. Dann begann er zu sprechen. Langsam. Wohlüberlegt.

Henek und seine Freundin Danuta waren fort, allerdings nur auf einem Bauernhof, um bis zum Herbst auf den Feldern zu arbeiten. Aber seine Eltern. Er hatte gebettelt, dass sie sich versteckten. Sie angefleht. Sie hatten gesagt, es sei ja nur ein Arbeitslager. Ein Arbeitslager war vielleicht in Ordnung. Wenn sie sich versteckten und gefunden würden, bedeutete das den Tod. Doch dann waren die Züge gekommen, und der SS-Mann hatte gelacht, als Max seinen Eltern Tee zu bringen versuchte. Seine Eltern bräuchten keinen Tee, hatte der Mann gesagt. Seine Eltern würden nie mehr Tee brauchen. Denn die Züge führen an einen Ort namens Bełżec, und Bełżec sei kein Arbeitslager, du dummer Jude.

Bełżec war eine riesige Tötungsmaschine.

Max hörte auf zu reden, richtete den Blick starr geradeaus, und ich trat aus der Reihe und stellte mich in das Getriebe auf dem Gehweg. Wir waren schon fast bei den Kohlenplätzen.

Herr und Frau Diamant. Sie waren tot. All diese Männer, Frauen und Kinder, die ich gesehen hatte, als sie in die Züge gesteckt wurden. Sie waren tot.

Wir waren noch am Leben. Aber wir lebten offenbar in der Hölle.