Nach dieser ersten »Aktion« verkleinerten sie das Ghetto. Die Zäune wurden enger gezogen wie eine Schlinge. Mein loser Pfosten war gar nicht mehr Teil der Grenze. Ich vereinbarte mit Max einen neuen Treffpunkt. Wenn allerdings der richtige Wachmann Dienst hatte, konnten wir uns einfach in der Nähe des Tors treffen und ich schob Sachen durch den Zaun. So, wie viele es taten. Die Juden im Lager verkauften buchstäblich alles für Essen, und jeder, der draußen war, konnte hier Schnäppchen machen, deutsche Gesetze hin oder her. Manchmal musste ich Max in der Menschenmenge erst suchen. An anderen Tagen war die SS im Dienst und am Ghettotor war nichts weiter zu hören als das Rascheln einer Zeitung, die der Wind gegen den Stacheldraht geweht hatte.
Max und Chaim mussten im verkleinerten Ghetto in eine andere Wohnung ziehen. Nun teilten sie sich eine ehemalige Küche mit Dr. Schillinger, dem Zahnarzt, dem Max in Niżankowice assistiert hatte, seiner kleinen Tochter Dziusia und einem älteren Mann, Dr. Hirsch, sowie dessen erwachsenem Sohn Siunek. Sie begannen ihre Reserven zusammenzulegen, und Max brachte mir vier Goldknöpfe, ein paar Ohrringe und zwei Mäntel zum Verkaufen.
Er sollte mir diese Dinge lieber nicht anvertrauen. Das, was er mir beim letzten Mal gebracht hatte, hatte ich verloren. Genau wie einen seiner Brüder. Aber Max waren diese Schuldgefühle nicht fremd. Das sah ich jedes Mal, wenn wir über seine Eltern sprachen, in seinen Augen. Sie waren tot, er nicht. Und Izio, tot an seiner statt. Wir verstanden einander, Max und ich. Schuldgefühle brachten sie nicht zurück. Verhungern ebenso wenig. Also nahm ich mir ein Beispiel an Max und schob Schuldgefühle und Trauer beiseite. Ich wurde Expertin im Handeln und Wiederverkaufen bei Gebrauchtwarenläden. Eine Sache gegen eine andere, diese wiederum gegen die nächste. Verkaufen, verkaufen und wieder verkaufen, um uns irgendwie durchzubringen.
Es war wie ein Spiel. Am Leben bleiben. Den Nazis zum Trotz.
Es gelang mir auch, Schuhe und einen Mantel für Helena sowie einen ausrangierten Teppich zu finden. Helena spielte im Treppenhaus und auf der Straße mit den Kindern, die in unser Haus gezogen waren, und fast täglich sahen wir Emilika, obwohl sie nun nicht mehr bei mir übernachtete. Inzwischen wirkte das Haus nicht mehr so gespenstisch.
Abgesehen von der Wohnung der Diamants. Diese Räume waren immer noch leer, und manchmal, wenn ich ganz genau hinhörte, glaubte ich auf dem Flur Jiddisch zu hören. Bliny und abgestandenen Zigarettenrauch zu riechen. Und wenn ich still auf dem Fensterbrett saß, konnte ich beinahe Izios Schatten ahnen, wie er, die Hände hinter dem Kopf verschränkt und die Füße gegen das Sofa gestützt, auf dem Boden lag.
Bloß dass nichts davon Wirklichkeit war.
Ich fühlte mich wie ein ausgehöhlter Kürbis. Im Inneren ganz leer.
Eines Abends kam ich nach Hause, nachdem ich den ganzen Tag auf den Märkten unterwegs gewesen war und nichts Besseres als Kascha für unser Geld bekommen hatte. Einen Fünf-Kilo-Sack, zu groß, um ihn unter meinem Mantel zu verstecken. Also band ich Schnüre um die Manschetten meines Kleides, eine weitere Schnur um meine Taille, und dann stellte sich Helena, die über diesen Blödsinn lachen musste, auf einen Stuhl und füllte die Kascha vorsichtig in meine Ärmel und den oberen Teil meines Kleides. Ich wand mich. All die kleinen Buchweizenkörner juckten, es fühlte sich schrecklich an, und ich hatte Rundungen an seltsamen Stellen, auch wenn es mit meinem großen Mantel darüber nicht so auffiel. Das bedeutete aber auch, dass ich mich mit Max nicht am Zaun treffen konnte. Ich musste ins Ghetto gelangen.
Helena verschloss die Tür hinter mir, und der Stuhl wurde an seinen Platz geschoben. Sie wusste, dass ich andere Menschen mit Essen versorgte, fragte aber nie, wen und warum. Es war einfach etwas, das ich tat. Sie glaubte mir, wenn ich versprach zurückzukommen.
Und das tat ich auch. Ins Ghetto hinein- und wieder herauszukommen würde nicht so schwer sein. Die Überwachung war jetzt weniger streng, weil das kleinere Ghetto leichter zu kontrollieren war. In den vergangenen Tagen war das Ghetto den »Ordnern« überlassen gewesen, der Judenpolizei, die vom Judenrat – Juden, die andere Juden in Hitlers Auftrag regieren sollten – eingesetzt worden war. Und wenn der patrouillierende Polizist Pole war, drückte er vielleicht ein Auge zu.
Ich trat auf den Gehweg. Die Sonne war untergegangen, und der kühle Wind brachte eine erste Ahnung von Herbstgeruch mit sich. Doch es herrschte eine angespannte Atmosphäre. Mit gesenktem Kopf und hochgeschlagenem Kragen eilten die Menschen dahin, obwohl es erst kurz nach sechs war. Und niemand sagte ein Wort. Niemand sah einen anderen an. Das machte mich vorsichtig. Ich grüßte Herrn Szymczak, den neuen Nachbarn unter uns, der gerade an der Ecke eine deutsche Zeitung kaufte, und er schüttelte bloß den Kopf.
»Stimmt etwas nicht, Herr Szymczak?«
Er ließ den Blick kurz über die Straße schweifen. »Gestapo«, flüsterte er. »Haben Sie es nicht gehört? Sie durchsuchen alle Wohnungen und Läden am Na-Bramie-Platz.«
Ich hatte davon nichts gehört. Der Na-Bramie-Platz lag nur einen Häuserblock von meinem kleinen Zimmer entfernt, aber meine Fenster gingen in die andere Richtung hinaus. »Was suchen sie?«
»Juden natürlich. Die sich verstecken vor … Sie wissen schon.«
Er meinte die »Aktion«.
»Und was haben sie gefunden?«, fragte ich, als ließe es mich kalt.
Doch mehr Informationen hatte Herr Szymczak auch nicht. Ich ging langsam zum Ghetto; dort stand ich lange im Schatten eines Hauseingangs und beobachtete unseren verlassenen Zaunabschnitt, bevor ich mich näherte. Es war niemand dort. Aber der Stacheldraht war lose – dafür hatte Max gesorgt –, und es war gerade genug Platz, um darunter hindurchzukriechen.
Mit einem Oberteil voller Kascha war das ein Kunststück, aber ich schaffte es, und nichts passierte. Kein Gebrüll, keine pfeifenden Kugeln. Die Erleichterung darüber gab mir neuen Mut. Ich zog meine falsche Armbinde – die jetzt ein akkurater Judenstern zierte – über meinen prall gefüllten Ärmel und huschte in das Ghetto wie ein Vögelchen.
Die Wohnung fand ich ohne Mühe. Sie lag an einer Hauptstraße unweit des Tors. Sie waren überrascht, mich zu sehen, und noch erstaunter, als ich meinen Mantel auszog, mich auf eine Decke stellte, meinen Gürtel und die Schnüre an den Handgelenken löste und die Kascha herausrieseln ließ. Siunek Hirsch lachte noch lauter, als Helena es getan hatte, und die kleine Dziusia mit den langen schwarzen Locken bekam die Aufgabe, jedes einzelne Körnchen aufzulesen. Woraufhin ich mir wünschte, ich hätte mehr Sorgfalt walten lassen.
»Wir haben einen Brief bekommen«, sagte Chaim, während ich meine Ärmel ausschüttelte. Chaim war ein Schatten seiner selbst. Er versuchte im Krankenhaus des Ghettos ohne Lebensmittel und Medizin hungernde Menschen zu heilen. Max sagte, er helfe ihnen hauptsächlich beim Sterben. »Henek schreibt, er weiß nicht, wie lange sie noch auf dem Bauernhof bleiben können.«
»Lasst den Jungen dort!«, sagte der alte Herr Hirsch, der am Boden saß. »Das ist doch besser, als hier zu sitzen und auf den Tod zu warten.«
Ich wechselte einen Blick mit Max. Wir hatten bereits darüber gesprochen, was geschehen würde, wenn die Ernte vorbei war. Wenn Henek und Danuta nicht mehr gebraucht wurden.
»Er schreibt auch, dass er Danuta gebeten hat, seine Frau zu werden«, sagte Chaim stirnrunzelnd. »Komisch, so etwas ausgerechnet jetzt zu tun.«
»Gar nicht komisch«, fuhr ich ihn an. »Henek soll so glücklich sein wie möglich. So lange wie möglich.« Ich stieß einen Arm in den Ärmel meines Mantels und suchte mit dem anderen Arm hinter mir herum, fand aber den Ärmel nicht.
Herr Hirsch winkte ab. »Der Junge soll heiraten. Warum sollte er damit auf den Tod warten?«
Dr. Schillinger lenkte Herrn Hirsch ab, während Chaim den Kopf schüttelte – mir schien es, als könnte er schon wegen dieser kleinen Bewegung umfallen. Max hielt mir den Mantel, damit ich hineinschlüpfen konnte. Er wusste genau, warum Chaims Worte mich wütend gemacht hatten.
»Es gibt Gerüchte«, sagte Max leise, »über eine weitere Aktion im Ghetto.«
Ich wandte mich um. »Das kann nicht wahr sein.«
Doch als ich ihm genau ins Gesicht sah, änderte ich meine Meinung.
»Gibt es eine Liste?«
»Vielleicht.« Er zuckte die Schultern. »Vielleicht geht es auch nach Straßen. Das weiß keiner. Es ist nicht offiziell.«
»Was wirst du tun?«
»Ich kann dir nur eines sagen, ich werde nicht hier sitzen und warten.«
Max hatte sehr große braune Augen. Sie erinnerten mich an die seines Bruders. Aber es gab einen Unterschied. Seine Augen verrieten eine Ernsthaftigkeit, die ich bei Izio nie bemerkt hatte.
Vielleicht, weil es nie Gelegenheit dazu gegeben hatte.
Max strich das Revers des Mantels glatt, der seiner Mutter gehört hatte. »Es wird nicht sein wie beim letzten Mal. Wir wissen jetzt Bescheid. Wir können uns vorbereiten. Mach dir keine Sorgen …«
Aber ich machte mir Sorgen. Gerade wegen seiner Worte war ich beunruhigt, während ich durch das Ghetto zu der Stelle ging, wo der Stacheldraht lose war. Der Mond ersetzte die Straßenlaternen, denn es gab keinen Strom.
Allerdings hätte ich wegen ganz anderer Dinge beunruhigt sein sollen. Kaum hatte ich den Draht angehoben, um auf die andere Seite zu schlüpfen, spürte ich kaltes Metall im Genick. Ich zuckte zusammen und versuchte mich umzudrehen, hatte aber aus dem Augenwinkel schon einen Blick erhascht. Auf den langen, glänzenden Lauf eines Gewehrs.
Ich erstarrte und hob langsam die Hände. Eine Stablampe klickte, und auf der anderen Seite des Zauns erschien ein gelber Kreis, in dem sich der Schatten meines Körpers abzeichnete. Schritte knirschten auf Kies und Glas, und eine weitere Waffe berührte mich am Hinterkopf. Eine Pistole, dachte ich, denn dieser Mensch war nah, nah genug, um mir das Taschentuch mit dem Stern vom Ärmel zu reißen. Es war heruntergerutscht, weil mein leerer Ärmel zu schmal war.
Ein langes Gespräch auf Deutsch begann. Ich blieb auf den Knien sitzen, mit erhobenen Händen, und stellte mir den Tod vor. Vielleicht wäre es gar nicht so schlecht, auf diese Weise erschossen zu werden. Ich würde gar nicht mitbekommen, dass es passiert war. Aber was war mit Max? Mit Chaim und den anderen? Und Helena.
Ich hätte auf die Warnungen hören sollen. Hätte aufpassen sollen. Alles tun, bloß nicht das, was ich getan hatte.
Meine Knie schmerzten, mein Herz schmerzte, und meine Arme taten weh. Ich betete zu Gott, Christus und Maria. Die Deutschen hörten auf zu reden. Ich schloss die Augen. Versuchte ruhig zu bleiben. Und wartete die längste Minute ab, die in der Geschichte von Przemyśl je verstrichen ist.
Dann merkte ich, dass keine Waffen mehr auf meinen Kopf zielten. Der Lichtkegel mit meinem Schatten veränderte die Form und wurde länger, während Schritte sich entfernten.
Ich drehte mich nicht um. Ich rührte mich nicht. Ich atmete nicht.
Das Licht ging aus. Und war weg.
Ich wartete auf Knien in der Gasse. Und wartete. Als ich schließlich über die Schulter blickte, war die Straße leer. Ich schlüpfte unter dem Stacheldraht hindurch und rannte. Ich rannte und rannte, am Bahnhof vorbei, über die Brücke und einen kleinen Platz und bergauf eine Straße mit Kopfsteinpflaster entlang, bis ich hinter einem Wohnhaus eine Gasse fand, in der ich mich neben einem Abfallhaufen an die Wand lehnte und schnaufte. Schwitzte. Zitterte. Eines meiner Knie blutete.
Ich konnte nicht fassen, dass ich noch lebte.
Langsam hinkte ich zurück zu unserer Wohnung, den Mantel fest um meinen Hals gezogen, und versuchte die Angst aus meinem Gesicht zu radieren, bevor ich Helena entgegentrat. Neben den Plakaten mit der Aufschrift TOD ALLEN, DIE EINEM JUDEN HELFEN, die ich inzwischen kannte, hingen neue Anschläge. Manche klebten auch an Straßenlaternen. Die Gestaltung war einfach – oben das Wort »Jude«, und unten »Ungeziefer«, dazwischen eine detailgenaue Zeichnung, die wohl einen Floh darstellen sollte. Ich bog um die Ecke und brauchte eine Weile, bis ich merkte, dass die Menschen auf der Straße in Aufruhr waren. Eine kleine Menschenmenge hatte sich nur wenige Hauseingänge vor der Passage der Mickiewicza Nummer 7 versammelt. Ich hörte das Geräusch von Schlägen, Gebrüll, den Aufschrei eines Kindes. Und dann kam ein kleines Mädchen, so schnell es konnte, geradewegs auf mich zu gerannt. Es war Helena.
»Was tust du hier draußen …«
Sie schlang die Arme um mich, und die Menschen, die sich auf der Straße drängten, traten so weit zurück, dass ich sehen konnte, was geschah. Zwei Gestapo-Männer schlugen ein Kind mit Knüppeln, ein Mädchen, das jünger war als Helena, und dann kam ein alter Mann mit Bart aus dem Eingang eines Lagerhauses getaumelt, als hätte man ihn gestoßen. Was wohl auch der Fall war. Ihm folgten eine ältere Frau und ein junges Mädchen in meinem Alter, aber kleiner. Sie hatte schöne blaue Augen. Ich sah wieder den bärtigen Mann an. Herr Schwarzer. Er war mit Herrn Diamant befreundet gewesen. Ich schaute die drei an.
Sie waren Juden.
Und sie waren nicht im Ghetto.
Dann kam eine polnische Familie aus dem Lagerhaus. Ein Mann, eine Frau und zwei Kinder, gefolgt von zwei weiteren Gestapo-Leuten. Die Frau versuchte, die Männer mit den Knüppeln von ihrem kleinen Mädchen wegzuziehen, das sich nicht mehr bewegte. Also schlugen sie stattdessen auf die Frau ein.
Einer der Gestapo-Männer trat vor, und unter den Menschen, die zugesehen hatten, trat Stille ein.
»Tod den Juden und allen, die ihnen helfen!«, sagte er.
Er zog seine Pistole.
Ich befreite mich aus Helenas Umklammerung, nahm ihre Hand und rannte mit ihr schnell in die entgegengesetzte Richtung.
»Tod den Juden!«, brüllte er. Er klang wie von Sinnen. Besessen. Und dann knallten die Schüsse.
Einer. Zwei.
Menschen schrien. Zerstreuten sich. Alle um uns herum rannten, einige auf das Geräusch der Schüsse zu, andere davon weg.
Drei. Ich zuckte zusammen. Vier.
»Was ist los?«, fragte Helena und zupfte an meiner Hand.
Unsere Nachbarn hatten Herrn Schwarzer versteckt.
Fünf. Zuck.
»Stefi, was ist los?«
Sie hatten drei Juden geholfen. Und jetzt erschoss die Gestapo ihre Kinder.
Sechs. Zuck. Sieben. Zuck.
Ich hatte Helena versprochen, ihr die Wahrheit zu sagen, selbst wenn sie schlimm war. Aber diesmal schaffte ich es nicht.
Acht.
Wir bogen um die Ecke, rannten noch einen halben Häuserblock weiter und ich bog noch einmal ab, ohne nachzudenken. Helena lief neben mir her. Ich eilte ein paar Steinstufen hinunter in einen stillen tiefer liegenden Hof hinein und stieß eine geschnitzte Eichentür auf.
Die Kirche war leer. Es war still. Wir befanden uns hier ein wenig unterhalb der Straße, und die Buntglasfenster leuchteten in gedeckten Farben. Über dem Altar brannten Kerzen, darüber hing das Kreuz mit dem Bildnis des sterbenden Jesus. Wir tauchten unsere Finger in Weihwasser, knieten nieder, bekreuzigten uns, wie wir es tausendmal zuvor getan hatten, und ich führte Helena zu einer Kirchenbank. Sie knarrte in der Stille.
Wir saßen da und atmeten den Weihrauch ein. Ich hätte gern meinen Rosenkranz bei mir gehabt. Ich wollte die Worte nicht mehr hören, die wie eine Armee durch meinen Kopf marschierten.
Sie erschießen die Kinder. Sie erschießen die Kinder. Sie erschießen die Kinder …
»Die Männer haben an unsere Tür geklopft«, sagte Helena. »Aber es war nicht das richtige Klopfen, also habe ich nicht aufgemacht …«
Angst durchbohrte mich wie eine Kugel.
»Dann haben sie die Tür aufgebrochen und sind auch so reingekommen«, fuhr Helena fort. »Aber wir hatten nicht, was sie gesucht haben.«
Ich atmete ein und aus. Helena drückte fest meine Hand.
»Stefi, was ist ein Jude?«
Ich blickte hoch zum Bildnis Christi und überlegte, was ich antworten sollte. Und dann fiel mir der Mann auf dem Markt ein. In meiner Anfangszeit in Przemyśl. Damals, als ich selbst noch ein kleines Mädchen voller Hoffnungen war. Ich streckte unser beider Arme, indem ich meine Hand nach vorn schob.
»Schau dir unsere Haut an, Hela«, flüsterte ich. »Deine ist ein wenig dunkler als meine, aber es ist beides Haut, nicht wahr? Es ist Haut über Blut über Knochen, wie bei jedem anderen Menschen. Ein Jude ist ein Mensch mit Blut und Haut und einer Familie. Manche sind gut, manche sind böse, genau wie alle anderen. Bloß, dass sie Moses anstelle von Jesus folgen. Aber denk dran, auch Jesus war ein Jude. Ein Gott für beide, Hela. Das hat unsere Mama gesagt.«
Ich war nicht sicher, dass unsere Mutter es so gemeint hatte wie ich. Sie hatte damals ratlos und irgendwie ernüchtert geklungen. Aber das brauchte Helena nicht zu wissen. Ich sah zu, wie meine Schwester nachdachte.
»Ist es falsch, einem Juden zu helfen?«, fragte sie.
»Nein«, sagte ich. »Ist es nicht.«
Wie sollte sie das alles bloß verstehen? Ich selbst verstand gar nichts mehr. Aber sie nickte, und wir warteten mit dem Heimgehen fast bis zur Ausgangssperre, wobei ich sie durch den kleinen versteckten Hinterhof unseres Gebäudes führte. Dieser Eingang lag am weitesten entfernt von den Gräueln, die sich auf der Straße abgespielt hatten.
Die Wohnungstür stand ebenso offen wie die Tür zu unserem Zimmer. Das Holz um beide Schlösser war gesplittert. Ein Stuhl war umgeworfen, die Bettdecken durcheinander, aber abgesehen von dem Schrecken, den sie meiner Schwester eingejagt hatten, war anscheinend alles in Ordnung. Zum Glück hatte man uns nicht ausgeraubt.
Ich bat Herrn Szymczak, mir beim Wiederanbringen der Riegel zu helfen, und er tat es mit düsterer Miene, während ich Helena aus unserem Anteil Kascha ein spätes Abendessen zubereitete. Sie sang und redete und spielte vor sich hin, während sie aß, und ich konnte nicht beurteilen, wie viel sie begriff von dem, was gerade geschehen war. Herr Szymczak ließ mir seinen Hammer und eine Handvoll Nägel da. Er sagte, ich würde sie brauchen.
Ich glaube, wir taten ihm leid.
Als Helena schlief, ging ich in das leere Wohnzimmer und schaltete das Licht ein. Der Raum war dreckig und kahl und kam mir fremd vor, obwohl mir die Kratzer am Kaminsims, die durch das Aufziehen der Uhr entstanden waren, ebenso vertraut waren wie das abgerissene Stück Tapete, das Frau Diamant immer und immer wieder angeklebt hatte. Mir fiel ein, dass sie nie wieder die Tapete dort festkleben konnte. Weil sie tot war. Weil sie Jüdin war.
Warum musste all das passieren?
Ich setzte mich aufs Fensterbrett, trocknete meine Augen, stemmte meine bloßen Füße gegen den Rahmen. Es war spät und die Straßen waren, abgesehen von der deutschen Patrouille, leer. Unten lagen keine Leichen. Aber ich sah lieber hoch zum Mond. Nur für alle Fälle. Denn wenigstens der Mond war immer noch schön.
Ich hörte einen Knall und das Splittern von Glas. Und entdeckte dann direkt über meinem Kopf ein Loch in der Fensterscheibe, von dem aus sich feine Sprünge nach außen zogen wie ein Spinnennetz. Das Loch war klein. Und vollkommen rund.
Ein Einschussloch.
Ich fiel vom Fensterbrett, als hätte man mich geschubst, kroch über den Boden und schaltete die Deckenlampe aus.
Lachen drang von der Straße herauf, deutsche Stimmen, die Späße machten, während die Patrouille weiterzog. Ich hörte einen zweiten Schuss, und wieder das Splittern von Glas.
Zurück im dunklen Schlafzimmer verriegelte ich die Tür, zog einen Stuhl an eines der beiden Fenster und nagelte unseren neuen Teppich davor. Am Tag darauf kaufte ich für ganz wenig Geld einen weiteren, ziemlich hässlichen Teppich, den ich über das zweite Fenster nagelte.
Sie würden nicht den Sieg davontragen, dachte ich. Ich würde es nicht zulassen. Mich würden sie nicht unterkriegen.
Aber es gab keinen Grund, das kundzutun.
Eines nach dem anderen wurden die Fenster gegenüber dunkel, und die von Herrn Szymczak auch. Ich fragte mich, ob er mir deswegen die Nägel dagelassen hatte.
Max erzählte ich nichts davon. Und er erzählte mir nicht, was er vorhatte, wenn es zu der »Aktion« kam. Wir hatten keine Zeit dazu. Die jüdischen Ordner waren nicht so verständnisvoll, wie man hätte glauben können, denn sie standen unter der Fuchtel der Gestapo, und selbst die polnische Polizei beobachtete alles mit Argusaugen. So schob ich Max nur schnell Brot und Eier durch den Zaun.
Etwas kündigte sich an.
Und es geschah im November, mit der winterlichen Kälte, unter einer Wolkendecke, schwer von künftigem Schnee. Lärm im Ghetto. Vertrauter Lärm. Dieses Mal ging ich zur Eisenbahnbrücke und sah die Viehwaggons, die Menschenscharen, die Hunde. Und ich hörte die Schüsse. Ganze Salven. Erschießungskommandos. Panik umwaberte mich wie der Nebel.
Das Böse, dachte ich. So sieht also das Böse aus.
Ich musste mich abwenden.
Halt durch, Max, dachte ich. Chaim. Dr. Schillinger und Dziusia. Dr. Hirsch und Siunek. Oder versteckt euch. Tut, was ihr tun müsst. Lasst bloß nicht zu, dass sie euch umbringen.
Ich hörte die Pfeifen der Lokomotiven kreischen, als sie aus dem Bahnhof von Przemyśl fuhren, und wieder brach ich mein Versprechen Helena gegenüber.
Denn wie hätte ich ihr erklären sollen, dass das ihre Welt war?
Ich wusste nicht, wie viel Essen ich an diesem Tag kaufen sollte. Oder am nächsten. Oder am übernächsten. Das Ghetto war streng bewacht, und es herrschte Schweigen. Die äußeren Zäune wurden abgebaut. Nach innen gerückt. Sie pferchten die verbleibenden Juden ein wie Tiere in einer Falle. Ich ging die neue Umzäunung entlang. Keine Spur von Max. Ich wusste, dass er tot war. Aber ich konnte es nicht akzeptieren.
Vielleicht wollte ich mich einfach nicht geschlagen geben.
Ich wusch unsere Kleidung. Zeigte Helena, wie sie beim Singen Schnur zwischen den Fingern spannen und Muster weben konnte, die zum Reim passten. Wir gönnten uns heißen Tee mit Zucker und gingen zu Bett.
Und ich lauschte ins Dunkel.
Woher hatte die Gestapo gewusst, dass sich Herr Schwarzer in dem Lagerhaus versteckt hielt? War er gesehen worden? Erkannt worden? Oder suchten sie einfach überall, brachen Türen auf, bis sie etwas fanden, was nicht erlaubt war?
Oder war jemand von uns, einer seiner Nachbarn, zur Gestapo gegangen und hatte acht Leben verkauft?
Wenn das der Fall war, gab es keinen erdenklichen Grund, warum man mir nicht das Gleiche antun sollte.
Ich versuchte mich zu erinnern, ob ich je unvorsichtig gewesen war. Hatte ich erwähnt, wie viel Essen ich kaufte? Hatte irgendwer einmal einen Kommentar über mein Kommen und Gehen abgegeben? Hatte Helena einer ihrer Freundinnen im Treppenhaus etwas erzählt?
Was, wenn die beiden Deutschen, die mir Waffen an den Kopf gehalten hatten, wussten, wer ich war? Wenn sie mir nach Hause gefolgt waren und hofften, mich bei Schlimmerem zu erwischen, als Juden mit Essen zu versorgen? Wenn sie mich hatten gehen lassen, weil sie auch meine kleine Schwester drankriegen wollten?
Die Angst kommt mit der Dunkelheit, wenn man still daliegt und auf das Klopfen an der Tür wartet. Und Angst ist nicht immer rational.
Ich setzte mich in der Finsternis auf.
Przemyśl hatte mich seit jener Fahrt im Postwagen, als ich zwölf Jahre alt war, vieles gelehrt. Die Stadt hatte mich gelehrt, dass Menschen gern mit Wörtern Grenzen zwischen einander ziehen. Jude. Katholik. Deutscher. Pole. Aber das waren die falschen Wörter. Es waren die falschen Grenzlinien. Freundlichkeit. Grausamkeit. Liebe und Hass. Das waren die Unterschiede, die zählten. In Przemyśl hatte ich gelernt, was im Leben wirklich wichtig war.
Der weitere Weg lag dunkel und gerade vor mir.
Ich legte meinen Kopf neben Helenas singenden Atem auf das Kissen. Horchte. Dachte nach. Versuchte den Schlaf zuzulassen.
Bis ich meine Augen aufschlug, weil ein Echo durch die Dunkelheit klang.
Ein Klopfen an der Tür.
Bis ich in den Flur rannte und nicht die Gestapo vorfand.
Und auch nicht Izio.
Bis ich Max Diamant vor der Tür stehen sah.