Als ich vom Markt zurückkomme, klopfe ich mit dem verabredeten Zeichen, und als der Stuhl zurückge schoben wird und Helena die Tür öffnet, federt sie schon auf den Zehenspitzen. Ich verriegle die Tür wieder, bevor ich sie sprechen lasse, und dann platzt es aus ihr heraus.
»Hat Emilika dich die Treppe hinaufgehen sehen?«
»Ich glaube nicht. Was ist passiert?« Mein Magen verknotet sich. »War sie hier?«
»Sie hat geklopft, und ich habe gesagt, du bist gerade nicht zu sprechen, und sie hat gefragt warum, und ich habe gesagt, weil du krank bist, und sie wollte trotzdem reinkommen, weil du vielleicht Hilfe brauchst, und ich habe gesagt, das geht nicht, weil du gesagt hast, du bist ansteckend.«
Das alles erzählt Helena in einem einzigen langen Atemzug. Ich wünsche mir, sie hätte ihr einfach nur gesagt, ich sei ausgegangen und würde später zurückkehren, aber dann hätte Emilika vielleicht trotzdem hereinkommen wollen. Emilika wird ein Problem darstellen, bis wir …
Tun können, was auch immer wir tun werden.
Ich sehe Helena an, die auf mein Urteil wartet, und küsse sie auf den Kopf. »Ich werde dafür sorgen, dass ich krank bin.«
Sie ist wirklich ein kluges kleines Mädchen.
Max sitzt im Bett, als ich das Zimmer betrete, und an der leeren Tasse sehe ich, dass Helena ihm Tee gemacht hat. Er sieht furchtbar aus, aber offenbar ist wenigstens das Fieber zurückgegangen.
»Fusia«, sagt er, den Blick auf die Bettdecke gerichtet. »Ich muss dich um einen Gefallen bitten.«
Ich stelle die Pakete auf den Tisch. Wenn wir aufpassen und nur zwei kleine Mahlzeiten am Tag essen, haben wir genug für drei Tage. Wie es dann weitergehen soll, weiß ich nicht. Wenn wir nicht vorher schon erschossen werden.
Ich frage mich, was Max sonst noch von mir wollen kann.
»Mein Bruder«, sagt er. »Henek. Er weiß nicht …«
Sein letzter lebender Bruder. Henek weiß nicht, wer noch lebt und wer nicht mehr.
»Ich weiß nicht, was er tun kann«, sagte Max. »Aber er sollte nicht ins Ghetto zurückkehren. Er könnte fliehen, wenn sich eine Gelegenheit bietet. Er weiß nicht … wie es gewesen ist. Er hat nicht erlebt, wie unsere Eltern abgeholt wurden. Und was könnte ich ihm schreiben?«
Er kann ihm gar nicht schreiben. Die Deutschen würden den Brief lesen, und Henek würde dafür büßen. Ich seufze.
»Ich gehe heute hin«, verspreche ich ihm. »Angeblich bin ich sowieso krank.«
Der von den Juden aus dem Ghetto von Przemyśl bewirtschaftete Bauernhof war einst im Besitz eines Juden. Jetzt gehört er den Deutschen, er wurde für ihr Vaterland konfisziert. Er liegt elf Kilometer von der Stadt entfernt. Ich nehme die Straße um das Schloss herum, ein märchenhafter Ort mit Türmchen und verzierten Mauern, wo meine Schwestern und ich früher gepicknickt haben, doch diese Erinnerungen kommen mir vor wie alte, von der Sonne verblichene Fotos. Heute ist die Luft grau, der Wind eisig und schneidend, und es fällt mir schwer, mich in eine Zeit zu versetzen, in der ich frei war von Todesangst.
Helena mit einem versteckten Juden in unserer Wohnung allein zu lassen ist wahrscheinlich das Schlimmste, was ich je getan habe.
Ich beschleunige meinen Schritt. Das Land hier ist flach und offen, es gibt nicht einmal einen Hügel, hinter dem man sich verstecken könnte, und als ich in der Ferne die Scheunendächer sehe, die sich über den Feldern erheben, sind sie noch weiter weg, als ich denke. Ich gehe schneller und bin, als ich den Wachmann erreiche, außer Atem.
Der Mann ist Pole, hat eine rosige Nase und raucht mit bis zu den Ohren hochgezogenem Kragen Zigaretten, während sein Gewehr am Tor des Bauernhofs lehnt. Wenn ich mich genau umsehe, werde ich wahrscheinlich in der Nähe auch eine Flasche Wodka finden. Ich frage nach Henek, aber dem Wachmann scheint ziemlich egal zu sein, ob ich mit einem Gefangenen spreche oder nicht. Er ist auch nicht sonderlich bemüht, sie zu bewachen. Wo sollten sie auch hingehen?
Ich finde Henek und Danuta in einem Teil der Scheune, der mit hölzernen Stockbetten mit seitlichen Leitern ausgestattet worden ist. Einige davon sind besetzt, während andere Gefangene sich um ein Feuer versammelt haben, das mehr Rauch als Wärme abgibt. Ich rieche Kühe.
Henek springt auf und küsst mich auf beide Wangen, was mich überrascht. Danuta schüttelt mir die Hand. Es ist kalt und schmutzig in der Scheune, und sie sehen beide dünn aus, aber auf andere Weise als die Menschen im Ghetto. Und sie haben auch nicht den gleichen Blick wie die Menschen im Ghetto. Etwas fehlt in ihrem Gesichtsausdruck.
Sie haben keine Angst.
Henek lässt mich auf einem Holzklotz in der Nähe der Scheunentür Platz nehmen, und ich erzähle ihm, weshalb ich hier bin. Dass Chaim tot ist und Max am Leben, aber verletzt und bei mir versteckt. Er runzelt die Stirn und fährt sich mit der Hand über den Kopf. Genau wie Max. Das war mir nie zuvor aufgefallen.
»Aber wir wissen nicht sicher, dass Chaim tot ist, oder?«, sagt Henek. »Max hat nicht gesehen …«
»Er ist nicht gesprungen, Henek. Er ist im Zug geblieben.«
»Das meine ich ja«, sagt er. »Wie Mame und Tate.«
»Und was wird Max jetzt tun?«, unterbricht Danuta.
»Das wissen wir nicht, aber …« Ich beuge mich ganz nah zu ihnen. Zwar sehe ich keine Wächter, wohl aber andere Gefangene, die zu lauschen versuchen, und wer weiß, welcher von ihnen beschließt, dass eine Extraration Essen oder irgendwelche Privilegien einen Verrat an die Deutschen wert sind. »Er sagt, ihr sollt nicht ins Ghetto zurückkehren. Nicht, wenn es sich vermeiden lässt. Und« – ich blicke mich um – »hier könntet ihr ziemlich leicht abhauen. Ich glaube, ihr könntet …«
»Hier abhauen?«, sagt Henek. »So schlimm kann es nicht sein. Max reagiert zu heftig. Das Schlimmste ist wahrscheinlich schon vorbei.«
Ich spüre, wie meine Augen sich weiten. »Henek, im Ghetto wird man euch umbringen. Max sagt, dass sie alle Juden tot sehen wollen …«
»Und was sollen wir seiner Meinung nach tun? Im Wald leben und verhungern? Hier haben wir zu essen und ein Dach über dem Kopf, und das Ghetto müsste inzwischen fast leer sein. Wir hätten wahrscheinlich eine Wohnung ganz für uns.«
Zu verblüfft, um etwas zu erwidern, hocke ich auf meinem Holzklotz. Wie kann Henek nach allem, was ich ihm gerade erzählt habe, so reden? Nach allem, was mit seinen Eltern, zweien seiner Brüder und wahrscheinlich auch seiner Schwester geschehen ist?
Danuta nimmt meinen Arm. »Danke, dass du gekommen bist, Fusia. Ich begleite dich bis zum Wachhaus.«
Kaum haben wir die Scheune verlassen und uns von der Tür entfernt, sieht sie mich an. »Sei nicht böse. Er macht sich nur etwas vor. Nur so kann er …« Sie beißt sich auf die Lippe. »Er hat nicht gesehen, wie seine Mutter und sein Vater abgeholt wurden, und die Dinge, die er gesehen hat, leugnet er. Das macht es ihm leichter.«
Ich begreife nicht, nicke aber.
»Sag Max, ich werde mit Henek reden. In drei Tagen sollen wir zurückgeschickt werden, aber vielleicht finden wir eine Möglichkeit, weiter hier zu arbeiten. Irgendetwas, was dringend getan werden muss …«
»Danuta!«, ruft Henek von der Scheune aus.
Danuta zuckt zusammen. »Ich muss gehen«, sagt sie. »Gib mir deine Adresse, dann kann ich dir schreiben, wo wir sind.«
Ich gebe sie ihr und winke noch, als ich am Wachmann vorbei durch das Tor hinausgehe. Danuta hat ein hübsches Lächeln, eine Stupsnase und Locken, die ein paar Bürstenstriche nötig hätten. Sie scheint nicht auf den Kopf gefallen zu sein. Ich frage mich, was sie von einem Dummkopf wie Henek will.
Ein Mann mit einem Eselskarren bietet mir auf dem Rückweg an, mich in die Stadt mitzunehmen, aber er fährt zu langsam. Die unwahrscheinlichsten Szenarien, wie die Gestapo Max und meine Schwester in der Wohnung aufgespürt haben könnte, spulen sich in meinem Kopf ab wie ein Kinofilm, den ich nicht sehen will. Ich lege die elf Kilometer zurück, als müsste ich einen Zug erwischen, und als ich die Wohnungstür aufschließe, ist alles still. So vollkommen still, dass ich meinen eigenen Herzschlag höre und mir ganz flau im Magen wird.
Es ist niemand da.
Sie sind abgeholt worden.
Sie sind fort.
Ich renne ins Schlafzimmer.
Und da liegen Helena und Max, Seite an Seite, ganz friedlich. Helena hat die Arme um seinen verletzten Hals geschlungen. Sie schlafen.
Wenn die Gestapo in genau diesem Moment an die Tür klopfen würde, würde ich mit meinen Fingernägeln gegen die Nazis kämpfen, bloß damit die beiden so liegen bleiben können.
Doch drei Tage später klopft nicht die Gestapo, sondern Danuta.
»Ich bin weggelaufen«, sagt sie. »Vor Henek!«
Sie wirkt ebenso überrascht wie ich es bin.
»Ich glaube, Max hat recht«, sagt sie. »Im Ghetto wartet nur der Tod auf uns. Und …« Sie atmet zitternd ein. »Meine Eltern sind nämlich auch tot.«
Ich öffne die Tür ein wenig weiter und lasse sie herein.
Was soll ich bloß mit ihr machen?
Ein einziges Zimmer bietet wenig Platz für vier Menschen, und es dauert genau drei Tage, bis jemand die Nerven verliert. Helena tritt gegen ein Tischbein, als ich sage, dass sie nicht mit den anderen Kindern auf der Straße spielen darf, denn wie können wir uns darauf verlassen, dass sie nichts ausplaudert? Um es mir heimzuzahlen, isst sie die Butter restlos auf. Löffelweise. Ohne Brot. Und dann gehen mir die Nerven durch. Max sitzt steif im Bett, ohne Hemd, bis wir ihm ein neues beschaffen können. Er ist immer noch schwarz und blau und übersät mit bösen roten Schorfkrusten, die immer wieder aufbrechen und bluten. Aber er hat kein Fieber mehr.
»Komm, Hela, setz dich zu mir«, sagt er. »Ich erzähl dir eine Geschichte.«
»Ich habe die Geschichten satt!«, brüllt sie.
Max hat ihr alle in Polen bekannten Geschichten schon mindestens zweimal erzählt. Ungefähr seit gestern erfindet er einfach welche. Mit mehr oder weniger Erfolg.
»Wisst ihr, was ich denke?«, fragt Danuta. Da niemand je weiß, was Danuta denkt, interessiert es uns. »Ich denke, dass Hela weiß, wie man ein Geheimnis bewahrt. Nicht wahr, Hela?«
Ich schüttele den Kopf. Dieses Geheimnis ist zu viel verlangt von einer Sechsjährigen. Unser aller Leben steht auf dem Spiel. Aber Helenas Miene hellt sich auf. Danuta breitet die Arme aus, und Helena klettert auf ihren Schoß.
»Also, was würdest du sagen, wenn jemand fragt, wer in deiner Wohnung wohnt?«, fragt Danuta.
»Ich würde sagen, meine Schwester«, erwidert Helena.
»Sonst noch jemand?«
Sie schüttelt den Kopf.
»Und wenn jemand sagt, ›aber ich habe in eurer Wohnung Stimmen gehört, kleines Mädchen …‹?« Danutas Stimme hat einen lächerlichen deutschen Akzent angenommen, der Helena zum Kichern bringt. Ich hebe eine Augenbraue. »›Deine Schwester, kleines Fräulein, hat sie einen Mann da oben?‹ Was würdest du darauf antworten?«
»Dass meine Schwester eine gute Geschichtenerzählerin ist und manchmal eine Männerstimme nachmacht und dass das lustig ist.«
Mein Blick begegnet dem von Max, und er zuckt die Schultern. Ich muss zugeben, das war eine gute Antwort. Danuta lächelt.
»Und wenn jemand mit dir raufkommen will, nur um die Wohnung zu sehen? Was würdest du dann sagen, Hela?«
»Ich würde sagen, meine Schwester ist krank und ansteckend. Und dann würde ich sagen, dass ich auch krank bin, und versuchen, denjenigen zu umarmen.«
Danuta lacht, und Helena grinst mich triumphierend an.
»Na schön, dann geh spielen«, seufze ich. »Wir probieren es für eine Stunde, und wenn alles gut geht, machen wir morgen noch mal einen Versuch. Einverstanden?«
Aber Helena rennt bereits in den Flur und öffnet die Wohnungstür. Ich versuche, ruhig zu atmen. Wie ich vermutet habe, überfällt mich die Angst. Das Frühstücksgeschirr klappert, als ich es aufstaple.
Ich hasse es, Angst zu haben.
»Stefi?«
Wir erstarren. Danuta ist gerade dabei, Max’ Bettdecke auszuschütteln. Die Stimme kam von unserer Wohnungstür. Der Tür, die niemand abgesperrt hat, nachdem Helena gegangen ist.
»Fusia!«, ruft die Stimme. Dann kommen Schritte den Flur entlang.
Max springt auf den Boden, rollt unter das Bett, und schon öffnet sich die Zimmertür.
»Hallo«, sagt Emilika. »Ich habe Hela runtergehen sehen, also dachte ich, du musst wohl wieder gesund sein. Endlich.«
Ich mache meinen Mund zu, der offen stand. Danuta hält immer noch die Decke in der Hand. Emilika blickt zwischen uns hin und her. »Wer ist das?«, will sie wissen.
Danuta erwacht aus ihrer Starre und breitet die Decke über das Bett – so, dass sie seitlich lang herunterhängt, damit man Max nicht sieht. Emilika sieht mich erwartungsvoll an.
»Das ist meine Cousine«, sage ich rasch. »Danuta.«
»Ach«, sagt Emilika. »Deine richtige Cousine.« Sie zwinkert mir zu. »Gibt es einen Grund dafür, dass ihr beide euch hier oben versteckt? Sehr krank siehst du nämlich nicht aus.«
Emilika blickt mich an, aber ich sehe über ihre Schulter Danuta, und die sieht sehr wohl krank aus. Ich lächle, stelle das Geschirr ab und schließe hinter Emilika die Tür.
»Ich hätte wissen müssen, dass ich vor dir nichts geheim halten kann«, sage ich seufzend. »Ja, es gibt einen Grund, warum wir uns verstecken. Aber du darfst es niemandem erzählen, Emilika. Bitte.«
Emilika schüttelt den Kopf. Ihr Blick ist erwartungsvoll. Ich habe das Gefühl, Danuta könnte sich jeden Moment auf den Boden übergeben.
»Danuta versteckt sich, weil sie …«
Ich sehe Danuta tief Luft holen.
»Weil sie schwanger ist und ihre Eltern es nicht wissen dürfen.«
Danuta lässt sich schwer auf den Stuhl neben dem Bett fallen.
Die Gabe, sich schnell Lügen einfallen zu lassen, muss in der Familie liegen.
»Oh«, sagt Emilika, an Danuta gewandt. »Oh! Arme kleine Maus! Du siehst wirklich krank aus …«
Emilika geht hinüber, setzt sich auf das Bett und tätschelt Danuta die Hand. »Brauchst du …« Ihr Blick wandert erst zu mir, dann zurück zu Danuta. »Brauchst du … einen Rat?«
Ich sehe Danuta an. Sie sieht mich an. Wir sehen einander an.
»Denn wenn du einen Rat brauchst«, sagt Emilika, »dann kann ich dir genau sagen, was du tun musst.«
»Ich denke, wir wären sehr dankbar für deinen Rat«, sage ich, und sobald Emilika nicht mehr hersieht, hebe ich die Hand, um Danuta zu verstehen zu geben, sie solle mitspielen. Danuta nickt Emilika mit einem schwachen Lächeln zu.
»Du brauchst einen Topf«, sagt Emilika. »Einen großen Topf. Den füllen wir mit Wasser, so heiß, wie du es gerade noch aushältst, verstanden? Und dann setzt du dich dreißig Minuten in diesen Topf …«
Oh, armer Max, denke ich.
»… und nach dreißig Minuten rennst du die Treppe rauf und runter, so schnell du nur kannst. Alle drei Stockwerke, bis du richtig schwitzt, und dann setzen wir dich wieder in den Topf …«
Danuta nickt.
»Am besten fangen wir sofort an. Ich habe einen Topf unten«, sagt Emilika. »Fusia hat nichts, was groß genug wäre.« Sie tätschelt Danuta das Knie. »Ich bin gleich zurück!«
Und damit stürzt sie aus der Tür.
Danuta springt auf und geht auf mich los. »Wie kannst du bloß …«
»Sie rettet dir das Leben«, sagt Max, der den Kopf unter dem Bett hervorstreckt.
»Du«, flüstere ich. »Du drehst dich zur Wand und schließt die Augen. Und wag bloß nicht zu niesen. Oder dich zu recken oder die Füße herauszustrecken. Am besten, du atmest nicht mal. Und hör bloß nicht zu!«
Max verschwindet unter dem Bett.
»Ich könnte dich umbringen«, flüstert Danuta, als Schritte wieder die Treppe heraufgerannt kommen.
»Vielleicht übernimmt das auch die Gestapo«, gebe ich zurück.
Sie hält den Mund.
Nachdem Danuta ihren Unterleib zweimal in einem Topf verbrüht hat und dazwischen die Treppe hinauf- und hinuntergelaufen ist, frage ich Emilika, um welche Zeit sie denn im Fotostudio sein muss. Emilika sagt, »Oh!«, küsst uns dann beide auf die Wangen, sagt, wir sollen dranbleiben und eilt zur Tür hinaus.
Danuta kämpft sich auf die Beine und ich reiche ihr ein Handtuch. Sie trocknet sich ab, rot vor Hitze, Anstrengung und Scham.
»Glaubst du, das funktioniert wirklich?«, fragt sie und zupft sich das Kleid zurecht.
Ich zucke die Schultern. Meine Mutter war Hebamme, und ich glaube, sie hätte bloß gelacht. Ich sehe Danuta mit hochgezogenen Augenbrauen an.
»Wieso, ist das etwa tatsächlich nötig?«
»Bitte!«, klingt Max’ Stimme dumpf unter dem Bett hervor.
Danuta verpasst mir einen Klaps auf den Arm und lächelt.
Dann kommt Helena die Treppe heraufgesprungen. Auch ihre Wangen sind gerötet, weil es draußen frisch ist. Sie ist außer Atem und glücklich.
»Ich habe nichts verraten«, sagt sie, als ich hinter ihr die Tür verriegle. »Habe ich dir ja gleich gesagt. Wo ist Max?«
Sie hebt die Bettdecke an und krabbelt unters Bett.
Emilika klopft in den nächsten zwei Tagen noch dreimal an die Tür, um zu fragen, ob ihr Rat Danutas Problem gelöst habe. Wir bejahen es. Und etwas Wahres ist ja auch dran. Dank Emilika glaubt nun jeder im Haus, Danuta sei meine lasterhafte Cousine aus Bircza. Und wenn ich sie auch nicht in die Läden schicken kann, so kann sie zumindest ohne Angst auf dem Dachboden Wäsche aufhängen und muss nicht jedes Mal, wenn ein Nachbar wegen des Wäscheschlüssels klopft, unter dem Bett verschwinden.
Darum steht Danuta, als ich das nächste Mal die Tür öffne, im Flur direkt hinter mir. Bloß ist es keiner unserer Nachbarn. Und auch nicht Emilika. Es ist ein Mann. Ein Fremder in einem abgetragenen Mantel, der weder guten Tag sagt noch eine Frage stellt. Er zeigt mit dem Finger über meine Schulter und sagt: »Das ist die Jüdin, die ich suche.«
Ich lehne mich an die Tür und sehe den Fremden an, als wäre er ein Teufel, mit dem zusammen ich mich gerade eingesperrt hätte. Der Mann zappelt herum und dreht einen Hut in den Händen, während Danuta am Tisch sitzt und den Brief liest, den er mitgebracht hat. Er sieht nicht aus wie von der Geheimpolizei. Aber das wäre ja auch nicht im Sinne des Erfinders, nicht wahr? Ich beschließe, dass Emilikas Wäschetopf die beste Waffe im Raum ist. Dann schnieft Danuta und legt den Brief weg.
»Henek«, sagt sie. »Er ist wieder im Ghetto, und er will mich bei sich haben. Er hat diesen Mann am Zaun getroffen und gesagt, er werde ihn dafür bezahlen, dass er mich zurückbringt. Er wartet jetzt dort. Oh, er liebt mich wirklich. Was soll ich bloß tun?«
Ich denke, sie sollte zu Henek gehen und ihm einen möglichst kräftigen Fußtritt verpassen. Was hat er sich bloß dabei gedacht, einem Fremden am Zaun meine Adresse zu geben und ihm zu erzählen, dass sich Juden in meiner Wohnung aufhalten? Und dann schreibt er auch noch alles in einen Brief, den dieser Mann durch die Straßen trägt.
Er wird dafür sorgen, dass wir umgebracht werden.
Oder ich werde ihn vorher umbringen.
»Wenn ich jetzt nicht mitgehe«, sagt Danuta, »dann soll ich unterschreiben, zum Zeichen, dass ich den Brief gelesen habe. Soll ich jetzt zurückgehen, Fusia? Was soll ich …«
»Du kannst jetzt nicht ins Ghetto gehen«, fauche ich. »Wir müssten das planen, uns vergewissern, dass es einen sicheren Weg hinein gibt …«
»Aber dieser Mann geht nur mit mir oder meiner Unterschrift.«
Der Fremde räuspert sich. »Der jüdische Junge hat gesagt, er bezahlt mir mehr, wenn ich die Unterschrift bringe, und das werde ich tun.«
Mehr bräuchte dieser Mann auch für die Gestapo nicht.
»Ich bin kein Mörder«, sagt er. »Ich will bloß mein Geld.«
Ich gebe Danuta meinen einzigen Stift, so wütend, dass er ein wenig gegen ihre Handfläche schlägt. Der Mann schnappt sich den Brief, sobald sie unterschrieben hat.
»Ich bin kein Mörder«, wiederholt er, drückt die Klinke herunter und huscht aus der Tür.
Max streckt den Kopf unter dem Bett hervor. »Vielleicht hat Henek recht und der Mann will einfach nur sein Geld.«
Und wir, denke ich, haben keine Möglichkeit, das herauszufinden.
»Was für ein yutz«, sagt Max vom Boden aus. Er meint seinen Bruder.
Da stimme ich ihm voll und ganz zu.
Max und Danuta führen ein langes Gespräch im leeren Wohnzimmer der Diamant’schen Wohnung, und als sie zurückkommen, sagt Max, er habe mich um eine Nacht gebeten, und ich hätte ihm zwei Wochen geschenkt. Und zum Dank würden sie nun mein Leben und das meiner Schwester in Gefahr bringen. Ich hätte genug getan. Sie würden ins Ghetto zurückkehren.
Ich will nicht, dass Max zurückgeht. Er hat fast jede Nacht Albträume. Und vor Angst, dass vielleicht keiner von ihnen je wieder herauskommt, ist mir ganz schlecht. Einerseits bin ich erleichtert, dass Helena in Sicherheit sein wird. Andererseits fühle ich mich einfach nur verloren. Leer.
Sobald die Sonne untergeht, sind sie startbereit, und Helena weint, weil Max fortgeht. Max küsst sie auf die Stirn und sagt, wenn der Krieg vorbei sei, werde er sie mit an den Strand nehmen, damit sie den Sand spüren und im großen salzigen Meer spielen könne. Wahrscheinlich hat er ihr einmal, als ich draußen oder auf dem Markt war, vom Strand erzählt, denn Helenas Miene hellt sich auf wie eine Lampe.
»Versprochen, Max?«
Er lächelt. »Versprochen.«
Ich wünsche mir, Max würde keine Versprechen machen. Noch dazu, wo sein Gesicht kaum verheilt ist.
Wir sperren Helena in der Wohnung ein, und ich gehe ein Stück die Treppe hinunter, um sicherzugehen, dass kein Nachbar einen Mann aus meiner Wohnung kommen sieht. Je länger ich über diese Entscheidung nachdenke, desto schlechter erscheint sie mir. Max wird im Ghetto gar keine Essensration bekommen, weil die Deutschen ihn für tot halten. Und was passiert mit ihm, wenn sie herausfinden, dass er noch lebt? Danuta versucht mich zu beruhigen. Er werde den Nazis aus dem Weg gehen. Und den Ordnern. Und den Polen. Sie habe auch ein wenig Geld, das sie teilen könne.
Aber es ist ein schreckliches Gefühl. Wie als ich meine Babcia zum letzten Mal sah. Wie als ich den Gesichtsausdruck des deutschen Soldaten vor dem Arbeitslager Janowska sah.
Es lässt mich alles in Frage stellen.
Diese Angst, denke ich, ist Hitlers beste Waffe.
Wir haken Max zu beiden Seiten unter und gehen los.