14

März 1943

Am nächsten Morgen um fünf Uhr dreißig gehe ich durch das tiefe, leuchtende Blau der spätwinterlichen Dunkelheit zu meiner neuen Arbeit. Die Welt hat vergessen, dass es einen Frühling gibt. Doch ich bemerke den Schnee, die Straßen und die leeren Schaufenster der ehemals jüdischen Läden kaum. Ich mache mir Sorgen um Helena und frage mich, wie sie den ganzen Tag alleine zurechtkommen wird. Auch meine Arbeit in der Fabrik, von der ich doch gar nichts verstehe, macht mir Sorgen.

Und ich mache mir Sorgen um Max.

Ich weiß nicht, wie ich es fertigbringen soll, seine Bitte zu erfüllen.

Ich weiß auch nicht, wie ich es fertigbringen soll, sie nicht zu erfüllen.

Ich sehe den Dunst, bevor ich das Gebäude sehe. Schornsteine stoßen Rauch aus, den man auf der Zunge schmeckt. Ich überquere eine Eisenbrücke, unter der die Eisenbahngleise verlaufen, erreiche die Ziegelmauern, die sich mehrere Stockwerke hoch erheben, gehe durch mehrere Flügeltüren und bin dann im Inneren der Fabrik.

Damals, als ich nach Przemyśl zog, wurden hier mechanische Spielzeuge hergestellt. Aufziehbare Autos und Clowns und kleine Hunde. Für mich war es immer ein Ort des Glücks. Jetzt ist das kleine Büro, in dem ich stehe, düster, und es riecht nach heißem Metall. Fünfzehn oder sechzehn andere Menschen, Männer und Frauen, die genauso verloren dreinblicken wie ich, warten ebenfalls vor dem Tisch, hinter dem wie immer ein Deutscher sitzt und auf dem sich wie üblich Aktenordner und Formulare stapeln. Ich wickle mir den Wollschal vom Kopf, falte ihn zusammen, damit man die ausgefransten Enden nicht sieht, und reiche ihm meine Papiere. Er hakt meinen Namen auf seiner Liste ab.

Und damit beginnt mein Leben als Fabrikarbeiterin.

Die Minerwa-Fabrik, sagt unser Vorgesetzter Herr Braun, der auf einer Kiste steht und in seinem Anzug schwitzt, ist ein System von Regeln und Vorschriften, in dem auch wir, die Arbeiter, unseren Wert haben. Solange wir nicht mit dem System oder einer Regel oder Vorschrift in Konflikt kommen. Wir können uns glücklich schätzen, diese Arbeit bekommen zu haben. Wir können uns glücklich schätzen, weil diese Arbeit uns vor dem Verhungern bewahren wird. Wir sind leicht ersetzbar, und jeder, der zu spät kommt, ineffizient, müde oder dumm ist, wird ausgewechselt. Umgehend.

Klar und eindeutig.

Meine Aufgabe ist es, sechs Maschinen zu bedienen, die Schrauben herstellen. Der Mechaniker zeigt mir, wie es geht, denn die Arbeit ist zwar ziemlich einfach, aber die Maschinen sind störungsanfällig und fallen leicht aus, und er kann nicht alle paar Minuten herkommen, um mir zu helfen. Sagt er. Mein Soll sind dreißigtausend Schrauben pro Schicht, die Differenz wird von meinem Lohn abgezogen.

In der Halle ist es laut. Unglaublich laut, wegen der Maschinen und Flaschenzüge, die zur Decke hinauf- und unter ihr entlanglaufen. Meine Maschinen sind heiß, schnell und gefährlich, wenn ich meine Finger nicht rechtzeitig wegziehe. Ich befülle sie Stück um Stück mit Metall und renne dabei hin und her. Gegen Mittag habe ich schon gelernt, wie man die Wasserpumpe repariert. In der Pause lächelt mir ein junger Mann zu, während er seine Zigarette raucht. Er hat gelbblondes Haar und blaue Augen, sieht aber Wachtmeister Berdecki überhaupt nicht ähnlich. Er ist noch ein Junge. Und ich ignoriere ihn. Ich habe genug vom Lächeln. Ein Mädchen namens Januka lässt mich von seinem belegten Brot abbeißen.

Als ich mit schmerzenden Füßen und Schultern nach Hause gehe, ist die Sonne bereits auf- und wieder untergegangen. Meine Ohren klingeln vom Lärm der Maschinen. Jetzt ist die blauschwarze Luft frisch und sauber. Sie tut mir gut nach all dem Rauch. Als ich unser Haus betrete, streckt Emilika den Kopf durch die Tür.

»Da bist du ja! Ich habe gerade Hela hier gehabt. Auf einen Tee. Du siehst aus, als könntest du auch einen Tee gebrauchen.«

Ich öffne den Mund, um zu sagen nein, ich bin zu müde, doch Emilika hält die Zuckerdose hoch.

»Habt ihr Zucker?«

Ich schüttle den Kopf.

»Dann kommst du jetzt besser rein.«

Emilika schüttet Wasser, das bereits heiß ist, in eine Teekanne und lässt mich an ihrem Küchentisch Platz nehmen. Dabei spricht sie ununterbrochen von ihrem Freund – nicht dem alten, sondern dem neuen, der besser aussieht! Und von den deutschen SS-Männern, die sich im Fotostudio fotografieren lassen. So eitle Kerle!

Ich blicke mich um. Sie ist ein alleinstehendes Mädchen, aber sie hat eine ganze Wohnung, mit Sofa und Lampe, separatem Schlafzimmer und zusammenpassenden Tellern. Vor ihren Fenstern hängen anstelle von Teppichen schwere Vorhänge und schirmen das gefährliche Licht ab.

»Und dann kommt einer seine Bilder abholen«, erzählt Emilika gerade, »und die Portraits sind gut, aber er will nicht bezahlen, weil er sagt, seine Nase sei darauf zu breit. Nicht das ganze Gesicht. Nur die Nase. Sag mir, Fusia, wie soll denn die Kamera die Form einer Nase verändern? Und jetzt wirft Herr Markowski mir vor, dass ich ihm die Bilder umsonst gegeben habe – aber einem SS-Mann würde auch Herr Markowski das nicht verweigern, oder? Wenn er will, dass ich es mit der Gestapo aufnehme, dann muss er mir die Munition zur Verfügung stellen, finde ich.«

Sie setzt ihre Tasse ab und seufzt.

»Weißt du, was ich vermisse? Musik. Weißt du noch, wie die kleine Kapelle in dem Restaurant gegenüber im Sommer immer draußen gespielt hat? Und als im Club noch Hochzeiten gefeiert wurden? Da haben wir die ganze Nacht getanzt …«

Einen Augenblick lang bin ich oben in der dunklen Wohnung und tanze mit Izio am offenen Fenster zu den Klängen der Kapelle. Dann sehe ich Emilia neugierig an. »Hast du vorher auch schon hier gelebt? Ich erinnere mich nicht, dass ich dich gesehen hätte.«

»Oh, nein. Ich habe in Krakau gewohnt. Aber ich bin im Sommer bei der Schwester meiner Großmutter zu Besuch gewesen. Sie hat in dieser Wohnung gewohnt. Jetzt ist sie fort. In irgendeinem Lager. Sie hatte einen Juden geheiratet.«

Das hat Emilika, obwohl sie so viel redet, mir gegenüber noch nie erwähnt. Ich frage mich, ob ihr klar ist, dass »irgendein Lager« vermutlich bedeutet, dass ihre Großtante tot ist.

»Es ist schrecklich«, sage ich vorsichtig, »was die Nazis tun.«

»Stimmt. Ich glaube nicht, dass Przemyśl je wieder wie früher sein wird. Sie ekeln mich an, die Nazis.«

Ich beuge mich vor. »Hast du dir je überlegt, in eine andere Wohnung zu ziehen, Emilika?«

»Eine andere Wohnung? Warum?«

»Eine größere. Die man vielleicht mit … ein paar anderen teilen kann.«

Emilika legt den Kopf schief. »Was für einen Plan hast du dir ausgedacht, Fusia?«

Ich kaue auf meiner Unterlippe, während ich überlege, wie ich es ausdrücken soll. Wie kann man ein Mädchen wie Emilika auf seine Seite ziehen? »Weißt du noch, der Junge, den ich besuchen wollte? Als du die Fotos von mir gemacht hast?«

Sie nickt.

»Er wollte mich heiraten. Und sie haben ihn umgebracht. Im Arbeitslager in Lwów. Er war Jude.«

Emilikas Augenbrauen heben und senken sich. Dann greift sie über den Tisch und tätschelt meine Hand. »Ich dachte mir schon so etwas. Oh, das tut mir leid. Wirklich.«

»Und jetzt … seine Brüder …« Die Worte kommen langsam und mühsam, als wollte das Geheimnis in meinem Mund bleiben. »Nun sind seine Brüder in der gleichen Gefahr. Im Ghetto. Und ich … ich denke daran, etwas dagegen zu unternehmen.«

»Unternehmen? Was denn?«

»Ich will mir eine größere Wohnung besorgen, zusammen mit jemand anderem … jemandem wie dir vielleicht, und … ich will sie verstecken.«

Ich hole tief Luft. So, jetzt ist es heraus.

Emilika lehnt sich in ihrem Stuhl zurück, die roten Lippen stehen offen. Sie starrt mich eine lange, lange Minute an.

»Was redest du da«, sagt sie langsam, »du dummes, dummes kleines Mädchen? Willst du sterben? Glaubst du, du hättest schon lang genug gelebt? Na, ich jedenfalls nicht. Ich habe vor, noch etliche Jahre zu leben, und ich werde nicht wegen eines Juden, von dem ich noch nie gehört habe, mein Leben wegwerfen! Da kannst du mich genauso gut bitten, aus dem Fenster zu springen. Und gleich selber mitspringen. Das geht wenigstens schneller, als erschossen zu werden.«

Irgendwo in Emilikas hübscher Küche tickt eine Uhr. Tick, tick, tick. Meine Hände zittern. Ich habe mich ihr anvertraut. Ich habe soeben mein Leben in ihre Hände gelegt.

Vielleicht habe ich uns gerade umgebracht.

Ich schiebe meinen Stuhl zurück, und Emilika sagt: »Warte, Fusia, warte.«

Sie atmet heftig aus und senkt die Stimme.

»Die Geheimpolizei ist überall. Das weißt du doch, oder? Sie tun so, als wären sie Bettler, Ladenbesitzer, Arbeiter, alles Mögliche. Sie bieten Juden Hilfe an, oder sie bieten an, jemandem dabei behilflich zu sein, Juden zu helfen, und wenn diese Person ja sagt, nehmen sie sie und die Juden, denen sie helfen wollte, fest. Man kann niemandem trauen …«

»Glaubst du, ich spioniere für die Deutschen?«

Emilika lächelt. Fast lacht sie. »Nein, Stefania Podgórska, ich glaube nicht, dass du für die Deutschen spionierst. Aber woher willst du wissen, dass ich es nicht tue?«

Tja, woher? »Tust du es?«

»Nein. Das bedeutet, du hast ein Riesenglück.« Sie beugt sich vor. »Die Wahrscheinlichkeit, dass das, was du vorschlägst, funktioniert, ist eins zu einer Million, und das bedeutet, es gibt neunhundertneunundneuzigtausend Möglichkeiten, dabei draufzugehen.«

»Aber die Wahrscheinlichkeit ist nicht gleich null«, sage ich.

»Was?«

»Nicht null zu einer Million. Es könnte klappen.«

»Es wäre Selbstmord. Und was ist mit Hela?«

Darauf habe ich keine Antwort.

»Diese Leute, Fusia. Es ist furchtbar. Es ist traurig. Aber du bist nicht schuld daran, dass diese Dinge geschehen, und du kannst nichts dagegen tun. Es liegt nicht in deiner Verantwortung. Verantwortlich bist du für Hela. Wenn du schon nicht an dich selbst denken willst, denk wenigstens an sie.«

Dieses Mal lässt sie zu, dass ich meinen Stuhl zurückschiebe. Ich lasse meine halbvolle Tasse auf dem Tisch stehen. »Es tut mir leid. War eine dumme Idee.«

Sie winkt ab und lächelt. »Du bist traurig wegen deines Freundes, das ist alles. Ich verstehe schon.«

»Ich hoffe, du wirst von diesem … unserem Gespräch niemandem erzählen?«

»Was? Welches Gespräch? Ich weiß gar nicht, wovon du redest. Offenbar leide ich an Gedächtnisschwund …«

Ich stapfe langsam die Treppe hinauf, während Emilikas Tür hinter mir ins Schloss fällt. In mir spüre ich einen Schmerz. Und was so schmerzt, das merke ich, ist die Enttäuschung.

Sie ist nicht verantwortlich, ich bin nicht verantwortlich. Wessen Verantwortung ist es dann, Emilika?

Helena umarmt mich immer wieder und bringt mir ein wenig Brot mit Butter. Ich falle ins Bett, während ich noch den letzten Bissen kaue, und sie zieht mir die Schuhe aus und kuschelt sich neben mich. Und ehe ich mich recht versehe, bin ich eingeschlafen. Ich träume.

Von einem dunklen Wald, wo die Bäume haushoch sind. Das Moos und die Blätter unter meinen Füßen sind hart wie Beton, die Strahlen des riesigen, tief hängenden Mondes hell wie Scheinwerferlicht. Ich bahne mir den Weg durch Geäst, das mir wie zerbrochenes Glas das Gesicht zerschneidet, schneller und schneller, weil ich Schreie höre. Ein Mann, eine Großmutter, ein Baby, so viele Menschen, Hunderte, ein Kauderwelsch aus verschiedenen Worten, die doch alle gleich sind, weil sie alle dasselbe bedeuten. Gnade. Gnade.

Und dann knallen die Schüsse. Ich renne und renne, lasse die Äste mein Gesicht zerschneiden, denn ich muss die Erschießung stoppen. Doch je schneller ich renne, desto schwächer wird der Lärm, desto seltener die Schüsse, bis da kein Geräusch mehr ist und keine Menschen und keine Bäume. Nun renne ich in einer Schwärze, einer Leere, die sich anfühlt wie der Tod …

Ich öffne die Augen, keuchend und schwer atmend, als wäre ich wirklich gerannt. Aber ich liege nur mit Helena im Bett, immer noch in meinem Kleid, und der Ofen gibt beim Abkühlen leise tickende Geräusche von sich. Wie Emilikas Uhr. Helena tätschelt meine Hand.

»Auf der Straße hat jemand geschossen«, flüstert sie schläfrig. »Aber jetzt ist es vorbei …«

Ich schließe die Augen, und Max ist mit mir im Wald.

»Los«, sagt er. »Lauft!« Er spricht nicht mit mir, sondern mit Henek und Danuta. Er nimmt sie beide an die Hand und zwingt sie, einen Weg zu nehmen, den sie nicht nehmen wollen. Auf einem gewundenen Pfad zwischen den Bäumen, die jetzt aus Ziegeln und Stein bestehen. Flugzeuge kreischen wie Vögel über unseren Köpfen. Ich jage den anderen nach, obwohl meine Flanke heftig schmerzt, und es sind noch andere Leute bei uns, kleine Schatten flitzen zu meiner Rechten und meiner Linken und vor mir. Sie stolpern und fallen und stehen nicht mehr auf, und als ich hinunterblicke, merke ich, dass der Schmerz in meiner Seite nicht vom Rennen kommt. Blut spritzt zwischen meinen Fingern hervor.

»Ich bin angeschossen worden«, sage ich. Max verlangsamt sein Tempo und dreht sich um. Danutas Augen weiten sich. Die Schatten huschen vorbei und lassen uns zurück. »Lauft!«, brülle ich. »Rettet euch!«

Doch es ist Izios Stimme, die aus meinem Mund kommt. Nicht meine eigene. Max setzt sich in Bewegung, aber in die falsche Richtung. Er hat Henek und Danuta verlassen und kommt auf mich zu.

Und dann schüttelt mich Helena und sagt mir, dass die Kirchenglocken geläutet haben. Es ist schon nach fünf.

Auf dem Weg zur Fabrik sehe ich zwei Leichen steif und gefroren am Ghettozaun hängen. Sie wurden umgebracht, so besagt ein Schild, weil sie Geschäfte mit Juden machten. Ich gehe zur Arbeit und drehe 28 208 Schrauben. Der Aufseher, ein Pole, schreibt 30 208 auf. Ich gehe auf dem Heimweg über den Markt, kaufe, was dort übrig ist, und schlafe. Und habe Albträume. Ich habe in dieser Woche jede Nacht Albträume.

»Heute war Max hier«, sagt Helena am Freitagabend. »Er hat unser Klopfzeichen benutzt, darum habe ich ihn reingelassen. Er wollte wissen, ob du ihm etwas zu sagen hast, aber ich wusste von nichts. Ich habe ihm den Rest Brot gegeben. Dann kam der Polizist, aber den habe ich nicht reingelassen. Ich habe ihm gesagt, er soll weggehen …«

»Der, der schon mal da war?«

Helena nickt.

»Ist er gekommen, als Max hier war?«

Sie schüttelt den Kopf.

Aber was wäre, wenn? Ich stellte mir vor, wie Max und Wachtmeister Berdecki vor meiner Tür aufeinandertreffen, und mir wird ganz schlecht. Max sollte das Ghetto nicht verlassen. Er muss aufhören, Risiken einzugehen. Der andere Polizist, der, den er gewürgt hat, könnte ihn entdecken. Oder einer der Nachbarn. Oder Emilika.

Vielleicht hat es Max ja auch gar nicht zurück ins Ghetto geschafft. Vielleicht ist Max schon tot.

Vielleicht brauche ich gar keine Entscheidung mehr zu treffen.

»Fusia, was ist los?«, fragt Helena und zupft mich am Kleid.

Ich versuche sie anzulächeln, meine Angst zu verbergen, aber ich schwitze. Und dann sage ich: »Du hast mich Fusia genannt.«

»Ich weiß«, sagt Helena. »Ich habe es aufgegeben.«

Am Samstagmorgen sind meine Augen trüb und ich bin so durcheinander vom Schlafmangel, dass ich vergesse, den Jungen in der Fabrik zu ignorieren. Ich lächle geistesabwesend, als er mich grüßt, und taumle durch meine Schicht. So unaufmerksam, wie ich bin, könnte ich leicht eine Hand einbüßen.

»Stefania! Stefi!«

Ich blicke auf, überrascht, inmitten des Lärms meinen Namen zu hören. Es ist der Mechaniker, und aus den Messern in meiner Maschine steigt Rauch auf. Die Wasserpumpe arbeitet nicht mehr.

»Was ist denn los mit dir!«, ruft der Mechaniker und schaltet die Maschine ab. »Du bist heute gar nicht bei der Sache! Bist du krank oder verliebt?«

Wenn dieser Mann meine Lieben kennen würde, würde er hundert Kilometer in die entgegengesetzte Richtung rennen.

»Ich weiß nicht, was ich tun soll«, sage ich, bevor mir einfällt, mit wem ich da rede. »Ich meine … ich fühle mich nicht wohl. Mir ist schwindelig …«

»Warum hast du das nicht gesagt?«, fragt der Mann. Er mustert mich. »Also, komm mit.«

Er führt mich in den Reparaturbereich, wo ein großer Holztisch steht, der mit Werkzeugen, Ersatzteilen, Metallstücken und Ölflecken übersät ist. Unter diesen deutet er, und als ich mich bücke, sehe ich ein unter dem Tisch angebrachtes Brett, gerade groß genug für einen Menschen, nur ein paar Zentimeter über dem Boden. Jemand hat dort ein Kissen liegen lassen.

»Leg dich da drunter und mach ein Nickerchen«, sagt er. »Ich repariere deine Maschinen und wecke dich in einer halben Stunde.«

Ich glaube, ich danke dem Mann noch, bin aber so müde, dass ich nicht weiß, ob ich die Worte wirklich ausgesprochen habe. Ich krieche auf das Brett und lege den Kopf auf das Kissen.

Und inmitten des Fabriklärms träume ich.

Wieder sind wir im Wald, bloß dass die Bäume nun quadratisch sind und die Äste zwischen Fenstern in den Stämmen hervorwachsen. Max rennt Hand in Hand mit Henek und Danuta, und ich habe Helena auf meiner einen Seite und Dziusia Schillinger auf der anderen. Die Blätter, die wir beiseitetreten, klappern wie Blechdosen.

Und ich weiß, dass jemand hinter uns ist. Näher und näher. Ich spüre, dass er sich anschleicht wie der Tiger, den ich als Kind in einem der Bücher meines Tata gesehen habe.

»Wir sind fast da«, sagt Max. Und dann sehe ich, wo wir hinrennen. Ein Loch im Boden. Ein unterirdischer Bunker. Ein Zufluchtsort vor den Nazis.

Dort werden sie uns nicht finden.

»Los, Dziusia«, flüstere ich, lasse ihre Hand los und schiebe sie auf das Loch zu. Sie schlüpft hinter Max, Henek und Danuta hinein, dann zupft Helena mich am Ärmel. Ich drehe mich um, und hinter uns sind zwei Soldaten, auf deren Helmen Totenköpfe grinsen. Die Totenköpfe haben winzig kleine Schnurrbärte, und die Männer auch.

»Wu senen sej gegangen?«, sagt einer der Totenköpfe, und ich finde es seltsam, dass ein SS-Mann Jiddisch spricht. Dann sagt er auf Polnisch: »Wo sind sie hingegangen?«

Ah, denke ich, das ist besser.

»Wo sind sie hingegangen?«, beharrt der Totenkopf. »Wo sind die Juden?« Und jetzt habe ich Angst. Helena hebt den Arm und deutet in die entgegengesetzte Richtung.

»Sie sind da hinten«, sagt sie.

»Ja«, bestätige ich. »Aber eher dort drüben.« Ich zeige in eine andere Richtung, leicht zu unserer Linken, weg von dem unterirdischen Schutzraum. Die Totenköpfe sehen verwirrt aus, wie das sein kann, weiß ich nicht. Aber die Männer darunter wirken nicht verwirrt. Ich sehe, wie ihre Schnurrbärte zucken. Sie wissen, dass ich lüge …

Der, der näher bei mir steht, hebt die Hand. Seine Hand ist eine Waffe. Er legt auf mich an und senkt sie ganz langsam. Er wird in das Loch schießen. Er wird Max erschießen.

Ich schreie.

Ich erwache in der Werkzeugfabrik, und ich weiß, dass ich gerade geschrien habe, aber bei dem Lärm hat mich niemand gehört. Ich bleibe zusammengerollt unter dem Tisch liegen, bis der Mechaniker zurückkommt und mir freundlich sagt, ich sei zu nichts zu gebrauchen, aber er werde es nicht melden, und ich solle nach Hause gehen.

Ich gehe nicht direkt nach Hause, sondern wandere durch Przemyśl, bis meine Füße den Weg zur Kathedrale finden. Ich drücke die schwere Tür auf, bekreuzige mich, zünde eine Kerze an und setze mich in eine Kirchenbank. Hoch über mir hängt der sterbende Christus.

Der Tod ist gar nicht so schrecklich, denke ich. Traurig ist, wenn man die Chance verliert zu leben. So wie bei mir und Izio. Izio ist gestorben, weil ich nicht rechtzeitig kam, um ihn zu retten. Aber was wäre gewesen, wenn ich gar nicht versucht hätte zu kommen?

Wenn ich diesen Krieg überlebe, kann ich dann damit leben, dass ich nichts unternommen habe, oder wird mein Leben von Selbstvorwürfen vergiftet sein?

Was sollte ich Helena sagen, wenn sich herausstellen würde, dass Max tot ist?

Wie sollte ich es meiner Mutter sagen, dass meine Entscheidung Helena das Leben gekostet hat?

Dazu würde ich nie Gelegenheit bekommen. Weil ich ebenfalls tot wäre.

Aber wer sonst sollte sie retten außer mir?

Oh, großer Gott. Mutter Maria. Gebt mir die Antwort.

Über mir herrscht Schweigen.

Ich schlendere aus der Kirche, und jetzt tragen mich meine Füße in eine ehemals jüdische Straße, nicht weit von unserer eigenen. Die Gebäude stehen leer, reihenweise, die Fenster sind zerbrochen, die Türen fort – wahrscheinlich als Feuerholz verbrannt –, und als ich den Kopf hineinstecke, sehe ich, dass selbst die Fußböden herausgerissen wurden. Diese Wohnungen wären eigentlich ähnlich wie meine. Standard. Jeder kennt ihren Grundriss. Jeder weiß, wie viele Zimmer sie haben und wie groß diese sind. Niemals könnte man aus einer solchen Wohnung ein Versteck für Juden machen. Genauso wenig wie aus meiner. Der Unterschied würde sofort auffallen.

Ich müsste sieben Menschen unter dem Bett verstecken.

Die Sonne ist fast untergegangen, der Himmel auf der einen Seite glühend orangerot, auf der anderen leuchtend blau. Meine Schuhe tappen über die Pflastersteine, der Wind heult durch die fehlenden Fenster. Die Leere ist beunruhigend. Unheimlich. Ich halte meinen Mantel gegen die Kälte geschlossen und denke, dass es auch im Ghetto eines Tages so klingen wird. Echos und Wind. Ich höre auf zu gehen und stehe einfach nur da. Ich schließe die Augen.

Und da ist die Stille. Als wäre ich der einzige Mensch in Przemyśl.

Nur dass die Stille nicht leer ist.

Da spüre ich einen leichten Stoß im Rücken.

Ich öffne die Augen und taumle, verliere fast das Gleichgewicht. Zwei Frauen sind um die Ecke gebogen, Besen in den Händen. Sie fegen den menschenleeren Gehweg.

Vielleicht wissen sie von einer leerstehenden Wohnung. Frag sie.

Etwas in meinem Kopf widerspricht, das sei lächerlich. Warum sollten sie von einer leerstehenden Wohnung wissen?

Fragen kostet nichts.

Ich sollte zum Wohnungsamt gehen.

Frag sie!

Meine Füße setzen sich in Bewegung, und die zwei Frauen schauen von dem Haufen Unrat auf, den sie zusammengekehrt haben. Sie blicken mir entgegen.

»Entschuldigen Sie«, sage ich, »aber wissen Sie vielleicht von einer leerstehenden Wohnung?«

»Hä?«, fragt eine der beiden und schielt mich an.

»Wissen Sie von irgendwelchen Wohnungen, die leer stehen und frei sind?«

Ich verlagere mein Gewicht auf den anderen Fuß. Ich komme mir blöd vor.

»Ich kenne eine«, sagt die andere Frau, auf ihren Besen gestützt. Ihr Gesicht ist runzelig und wettergegerbt, die Nase rot von der Kälte oder vom Wodka, ihr graues Haar kräuselt sich unter dem Schal hervor. »In der Tatarska-Straße Nummer 3 steht was leer. Aber keine Wohnung. Es ist ein Haus, fast jedenfalls …«

»Ein Häuschen«, sagt die andere.

Ich blicke in ihre schmutzigen, faltigen Gesichter und frage: »Wo ist die Tatarska-Straße?«