Ich erkunde die Umgebung der Tatarska-Straße Nummer 3. Die Frau hatte recht. Es sind eher Reihenhäuschen als Wohnungen, zwei Stockwerke mit steilen, spitzen Blechdächern. Und es ist ein kurzer Straßenabschnitt, der bergauf führt, mit sehr wenigen Häusern. Direkt gegenüber befindet sich eine leerstehende Schule, und auf dem Hügelkamm ein umfriedetes Kloster. Außerdem sehe ich die Türme von zwei Kirchen sowie Lichter anderer Gebäude, die sich hinunter in Richtung Marktplatz erstrecken. Das Gebäude ist L-förmig, der dunkle, rückwärtige Teil steht leer. Die Erde rundherum ist gefroren. Auf einer Seite gibt es einen Brunnen und einen langgezogenen, stinkenden Verschlag – dort müssen wohl die Toiletten sein.
Zwar habe ich keine Menschen gesehen, aber ich rieche sie.
Fast überkommt mich Heimweh nach dem Bauernhof.
Ich gehe an der Seite entlang und klopfe an die Tür, die die Straßenkehrerin beschrieben hat. Sie öffnet sich sofort mit einem Quietschen. Jemand hat mich hinter einem Vorhang beobachtet.
»Ja«, sagt eine Frau und blinzelt in die Dunkelheit.
»Sind Sie die Hausmeisterin der Tatarska Nummer 3? Steht das Haus immer noch leer?«
Die Frau beantwortet beide Fragen mit einem Nicken.
»Darf ich es mir ansehen? Würde es gleich jetzt passen?«
Sie grummelt und nickt, verschwindet kurz und kommt mit einem Schlüsselbund und einer brennenden Laterne zurück.
»Es ist nichts Besonderes«, sagt die kleine, untersetzte Frau mit dem ordentlich frisierten Haar und einer Schürze mit Flecken, die nach Rote Beete aussehen. Sie führt mich zu einer Holztür unweit der Toiletten und steckt einen Schlüssel ins Schloss. Nachdem sie ein wenig herumprobiert hat, öffnet sich die Tür und sie geht mit der Laterne als Erste hinein.
Wir befinden uns in einer kleinen Wohnküche, die später an das Häuschen angebaut wurde: Holzwände, ein roher Dielenboden, ein Ofen, ein Waschbecken mit Abflussrohr, aber ohne Armatur und, an einem Nagel hängend, ein Eimer für den Brunnen. Kein Strom. Es gibt zwei weitere Türen. Die erste führt in ein Schlafzimmer, hinter dem gleich noch ein weiteres Schlafzimmer liegt. Die andere Tür befindet sich gegenüber von Waschbecken und Ofen und führt in einen kleinen Flur mit rohem Lehmboden und einer Leiter.
»Was ist da oben?«, frage ich.
»Der Dachboden«, sagt die Frau.
Ich gehe zurück in die Küche und drehe dort eine große Runde, während die Frau mich beobachtet.
»Ist nichts Besonderes«, sagt sie erneut. Als hätte ich ihr irgendetwas vorgeworfen. Aber ich kann nur lächeln. Ich lächle, wie ich seit einer Woche nicht gelächelt habe.
»Es ist nichts Besonderes«, gebe ich zurück. »Es ist perfekt.«
Die Hausmeisterin heißt Frau Krajewska, und sie erwärmt sich für mich, sobald sie merkt, dass mich die Wassereimer und Außentoiletten nicht abschrecken. Sie sagt mir, ich müsse im Wohnungsamt eine Bewerbung ausfüllen, und sie würde sich freuen, ein so nettes junges Mädchen als Nachbarin zu haben. Wie schön es für ihre zwei kleinen Jungs wäre, in meiner Schwester eine Spielgefährtin zu bekommen. Ich renne zurück zur Wohnung, als würde ich eislaufen oder als besäße ich die Flügel eines Kampfflugzeugs, und breche so schnell durch die Tür, dass Helena leise aufschreit. Max ist da.
Er steht auf. »Was ist passiert?«
»Ich glaube, ich habe eine Wohnung gefunden.«
»Du hast einen Ort gefunden, um Max zu verstecken?«, fragt Helena. »Ich wusste, dass du es schaffst.«
Sie wusste es. Ich wusste es nicht. Und ich hatte Helena gegenüber gar nicht erwähnt, dass ich ein Versteck für Max suche. »Woher hast du das gewusst?«, frage ich.
»Ich habe Gott darum gebeten. Mama hat immer gesagt, das soll man tun, wenn man sich etwas wünscht. Also habe ich es getan.«
Ja, das hatte Mama gesagt. »Aber woher wusstest du, dass ich Max verstecken will?«
»Weil du Max immer versteckst!«
Da hat sie recht. »Und du wünschst dir das auch? Du hast Gott darum gebeten?«
Sie legt den Kopf schief und blickt mich seltsam an. »Natürlich! Du nicht?«
Max steht einfach nur da und hört uns zu. Ich schaue hoch und fange seinen Blick auf. Ich wusste schon vorher, dass er mich ansieht.
»Ja«, sage ich.
Er kneift die Augen zusammen.
»Ja, Hela. Darum habe ich gebeten.« Aber ich sehe immer noch Max an.
Er sagt kein Wort. Wir blicken einander noch eine endlose Minute lang an, und dann nickt Max. Es ist, als hätten wir einen Vertrag unterschrieben.
»Wie viel Uhr ist es?«, flüstert er.
»Ich weiß es nicht …« Ich sehe mich um, als könnte in meinem Zimmer eine Uhr gewachsen sein. »Noch nicht sieben«, sage ich.
»Dann gehen wir es uns ansehen.«
»Jetzt gleich?«
Er lächelt. »Ja. Jetzt gleich.«
Wir gehen Arm in Arm die Straße entlang wie ein Paar, das einen Spaziergang macht. Max hat meinen alten Wollschal halb über das Gesicht gezogen, als sei ihm kalt. Helena war enttäuscht, dass wir sie nicht mitgenommen haben. Ich wisse ja noch gar nicht, ob wir die Wohnung überhaupt bekommen, sagte ich ihr. Ich rechnete damit, dass sie mit dem Fuß aufstampfen würde, und fügte hinzu, dass wir wegen Max möglichst wenig Aufsehen erregen wollten. Sie gab nach.
Im Moment habe ich nicht einmal Angst.
»Wo ist die Tatarska?«, flüstert Max durch den Schal. »Ich kenne diese Straße nicht.«
»Sie liegt gegenüber von der Schule, die geschlossen wurde. Ansonsten gibt es keinen Grund, sie zu kennen. Dort gibt es nicht viel.«
»Das ist gut. Das ist sehr gut …«
»Abbiegen«, sage ich und lenke Max abrupt nach links. Ein patrouillierender deutscher Polizist ist auf die Straße eingebogen und kommt direkt auf uns zu. Wir verschwinden schnell in dem kleinen Durchgang zwischen den Gebäuden, bevor er vorbeigeht, umrunden die Rückseite, warten und kommen direkt hinter dem Deutschen wieder auf die Straße, als hätten wir unseren Weg nie unterbrochen. Max grinst und legt den Arm um mich.
Ich hatte nicht gewusst, dass es ihm so viel Freude macht, die Nazis zu täuschen.
Als wir die Tatarska erreichen, blickt Max vorsichtig nach rechts, links und über die Straße, dann reckt er den Hals zum Dach empor, während wir eine Runde durch den Hof drehen.
»Bleib hier«, sage ich und lasse ihn vor der Tür von Haus Nummer 3 stehen. Dann klopfe ich wieder bei Frau Krajewska.
»Oh«, sagt sie und öffnet die Tür weit. »Sie sind wieder da?«
»Frau Krajewska, entschuldigen Sie die Störung, aber Sie waren vorhin so nett, und jetzt habe ich meinen älteren Bruder mitgebracht. Er will das Haus sehen, bevor ich die Bewerbung einreiche. Würde es Ihnen etwas ausmachen, noch einmal aufzuschließen?«
Sie seufzt. »Ich hole eine Lampe.«
Als wir zu Max zurückkommen, der immer noch in der Kälte vor der Tür steht, hebt sie ihre Laterne und mustert ihn in einer Weise, die einschüchternd wäre, wenn sie nicht vor einer Stunde genau das Gleiche bei mir gemacht hätte.
»Guten Abend«, sagt Max. Er hat die Hände in den Taschen, und plötzlich frage ich mich, ob er eine Waffe bei sich trägt.
Frau Krajewska grummelt vor sich hin und sperrt die Tür auf.
»Es ist nichts Besonderes«, sagt sie, während wir hineingehen. Ich lasse Max alles ansehen. Er nimmt die Lampe und geht in die Schlafzimmer, klettert die Leiter zum Dachboden hoch und sieht sich sogar die Außentoiletten an.
»Sie hatten eine Schwester erwähnt«, sagt Frau Krajewska. »Wird Ihr Bruder auch bei Ihnen wohnen?«
»Oh, nein, er lebt in Krakau«, lüge ich. »Er macht sich bloß Sorgen um mich, vielleicht übertreibt er etwas. Aber er ist ein guter Bruder …«
Max kommt wieder herein, steckt den Kopf in den Ofen und versucht durch den Schornstein zu blicken. Frau Krajewskas Gesicht wird weich wie schmelzende Schokolade.
»Na, das ist doch schön«, sagt sie. »Ich lasse Ihnen einfach die Laterne hier und Sie besprechen alles in Ruhe. Bringen Sie sie mir einfach wieder, wenn Sie fertig sind, ja?«
»Danke, Frau Krajewska.«
Als sie die Tür schließt, tritt Max nah an mich heran. Wir flüstern für den Fall, dass Frau Krajewska lauscht.
»Ich mache mir Sorgen wegen der Nachbarn«, sagt Max. »Die Wände der Schlafzimmer sind nicht sehr dick, und direkt daneben ist das andere Haus. Und alle werden direkt am hinteren Fenster und der Tür vorbeigehen müssen, wenn sie auf die Toilette wollen. Wir müssten uns sehr ruhig verhalten, das ist nicht einfach …«
»Hast du vielleicht gedacht, ich könnte eine Wohnung in der Wüste organisieren? Oder im Himalaya?«
»Tu nicht so pfiffig, Fusia.« Aber er grinst mich an. »Dieser Ort ist wie geschaffen für uns. Nur ein, zwei Zentimeter unter dem Boden ist die Erde. Wir können vielleicht für den Fall, dass jemand an die Tür kommt, einen Bunker unter den Dielen graben.«
Wieder sehen wir uns im Raum um, und plötzlich fällt mir auf, dass wir gründlich werden putzen müssen. Dass das Wasser von draußen geholt werden muss. Dass wir alles Essen den Hügel hinaufschleppen müssen. Dass ich es zur Arbeit doppelt so weit haben werde. Neun Menschen in drei Zimmern und keinerlei Privatsphäre.
Max fragt: »Bist du dir sicher?«
Ich nicke. »Ja, ich bin mir sicher.«
Arm in Arm wie ein Paar gehen wir zurück zu Helena. Es ist lange her, dass ich Max so lebendig erlebt habe.
Max bleibt bei uns, weil die Zeit vor der Sperrstunde nicht mehr ausreicht, um gefahrlos zurück zum Zaun zu gelangen. Nicht, dass dort keine Gefahr drohen würde. Inzwischen hängen zwei weitere Männer dort, die erschossen wurden, weil sie das Ghetto verlassen hatten, um draußen einzukaufen.
Es ärgert mich, dass Max das weiß und trotzdem gekommen ist.
Am nächsten Morgen zieht er gerade seine Schuhe an, als es an der Tür klopft. Energisch. Offiziell.
Wir erstarren, und dann lässt sich Max zu Boden gleiten und rutscht unter das Bett. Seine Schuhe nimmt er mit. Helena will seine Teetasse wegstellen, aber ich schüttle den Kopf und lege einen Finger auf die Lippen. Ich gehe auf Zehenspitzen in den Flur und warte. Es klopft noch dreimal, und mir bricht der Schweiß aus. Dann höre ich das verräterische Knarren einer Stufe, was bedeutet, dass jemand hinuntergeht. Ich schleiche zurück in unser Zimmer, wieder den Finger auf den Lippen, und spähe am Rand des Teppichs aus dem Fenster, bemüht, ihn nicht zu bewegen.
Und da kommt Wachtmeister Berdecki aus der Haustür und blickt noch einmal zu meinem Fenster hoch, bevor er geht.
»Du kannst rauskommen«, sage ich, aber Max kriecht bereits ächzend unter dem Bett hervor.
»War das der Polizist?«, fragt er.
»Wie kommst du darauf?«
»Wie? Hast du noch mehr Freunde, die um sechs Uhr dreißig bei dir klopfen?«
»Nein«, antworte ich schnippisch. »Meistens übernachten sie einfach hier.« Ich sehe, wie sich seine Augenbraue leicht hebt und dann ein Lächeln sein Gesicht überzieht. Es macht ihm nichts aus, geneckt zu werden, denn er ist glücklich. Er ist glücklich, weil wir die Tatarska-Straße gefunden haben.
»Aber, Fusia, hier übernachtet doch niemand außer Max!«, sagt Helena. »Und kommst du nicht zu spät zur Arbeit?«
»Ich muss aufs Wohnungsamt«, sage ich. »Ich habe den Szymczak-Jungen beauftragt, eine Nachricht zur Minerwa zu bringen.« Was dort nicht gut ankommen wird. Aber die Öffnungszeiten des Wohnungsamts überschneiden sich ziemlich mit meiner Schicht.
»Ich muss auch los«, sagt Max. Seine Fröhlichkeit ist dahin. »Bevor die nächste Wache ihre Schicht beginnt. Diejenigen, die nachts Dienst hatten, sind jetzt müde.«
»Max«, sage ich, und jetzt bin auch ich ernst. »Du solltest nicht mehr hierherkommen. Du solltest im Ghetto bleiben, bis …«
Bis es Zeit ist, das Risiko einzugehen, es für immer zu verlassen.
»Ich muss einfach wissen, ob du das Haus bekommst«, sagt er. »Ich will Henek, Danuta und den anderen nichts sagen, bis ich weiß, wie es laufen wird. Und wir werden Zeit für die Vorbereitungen brauchen.«
»Wird die Post immer noch gelesen?«
»Soweit ich weiß ja.«
Wir denken einen Augenblick darüber nach. »Ich kann dir einen Brief bringen, Max.«
Wir drehen uns beide zum Tisch um, wo Helena das Geschirr zum Abwaschen stapelt. Jetzt, da ich arbeite, hat sie das übernommen.
»Ich kann dir einen Brief an den Zaun bringen«, sagt sie.
Ich ziehe meinen Mantel an. »Nein, Hela.«
»Aber ich kann das! Ich habe schon öfter dort gespielt, und auf Kinder achten die Wachleute nicht. Nicht mal, wenn wir ganz nah an den Zaun gehen.«
»Wann warst du am Zaun?«
»Letzte Woche. Ich hab Max gesucht.«
»Das stimmt«, sagt Max. »Kinder werden nicht beachtet.«
»Wir lassen uns etwas anderes einfallen«, sage ich. »Hela, wasch das Geschirr ab und sei vorsichtig. Und für dich gilt das Gleiche«, sage ich zu Max. »Abgesehen vom Geschirr.«
»Komm«, höre ich Max sagen, als ich den Flur entlangeile. »Ich helfe dir abtrocknen, bevor ich gehe …«
Im Wohnungsamt erwartet mich keine Brille mit Drahtgestell. Stattdessen bringt mir eine nette polnische Sekretärin die richtigen Bewerbungsformulare für die Tatarska Nummer 3. Als ich damit nicht weggehe, sondern mich zum Ausfüllen in eine Ecke zurückziehe und auf dem Ende des Stifts kaue, heben sich ihre Augenbrauen. Ich gebe ihr die Dokumente zurück.
»Wie lange?« frage ich.
»Zwei Tage«, sagt sie.
»Und Sie sind sicher, dass die Wohnung noch leer steht? Dass niemand sonst sich beworben hat?«
Die Frau lächelt. »Ich glaube nicht, kleiner Schmetterling. Sie bekommen einen Brief.«
Ich renne aus der Tür und lege den Weg durch Przemyśl bis zur Fabrik im Laufschritt zurück, und als ich in die Halle stürme, erwartet mich dort schon Herr Braun. Er hält die Maschinen an und brüllt mich auf Deutsch und Polnisch an. Kommentare und Entschuldigungen könne ich mir sparen. Ich sei ein dummes, faules Mädchen, dem niemals wieder einfallen werde, zu spät zur Arbeit zu kommen. Ich werde fünf Minuten zu früh eintreffen. Ich werde mein Soll übererfüllen. Wenn ich mein Soll nicht übererfülle, werde ich dankbar und froh sein, weiter arbeiten zu können, bis es so weit ist.
Manchmal ist es am besten, bloß zu nicken.
Ich arbeite die Pause durch, und als ich aufblicke, steht der blonde Junge auf der anderen Seite meiner Maschinen. Lubek heißt er, das sagt jedenfalls Januka, das Mädchen, das gelegentlich sein Butterbrot mit mir teilt.
»Sag Bescheid, wenn du Hilfe brauchst«, sagt er und schlendert dann davon.
Am Tag darauf brauche ich tatsächlich Hilfe, und Lubek bringt mir mehr Metallvorrat, mit dem ich die Maschinen befüllen kann, sodass sich keine Zeit verliere. Ich übererfülle mein Soll. Gerade so. Und am nächsten Tag wieder. Sobald es so weit ist, renne ich aus der Halle, ziehe meinen Mantel an, während ich, den Schal in der Hand anstatt um den Kopf, über die Eisenbrücke renne. Ich will nicht auf einen Brief warten. Und ich habe noch dreiundzwanzig Minuten, bis das Wohnungsamt schließt.
Ich presche durch die Tür. Der kleine Wartebereich ist voller Menschen, und nach meinem Spurt in der klaren kalten Luft ist es hier stickig heiß und riecht nach Schweiß. Die Sekretärin blickt von ihrem Schreibtisch auf. Ihre Augenbrauen heben sich. Dann nimmt sie einen Packen Papiere und schüttelt sie in meiner Richtung.
»Habe ich sie?«, rufe ich über alle Köpfe hinweg.
Sie nickt.
Ich schiebe mich durch die Menge, umfasse das Gesicht der Sekretärin und verpasse ihr einen schmatzenden Kuss auf die Wange.
»Hören Sie auf damit«, sagt sie lachend und gibt mir die Dokumente sowie einen Schlüsselbund.
»Kriege ich auch eine Wohnung, wenn ich Ihnen einen Kuss gebe?«, ruft ein Mann.
»Küss doch mich!«, sagt ein anderer. Jetzt lachen alle im Raum.
Ich schlendere unter einem Himmel voller Sterne zurück in die Wohnung, und als ich die Neuigkeit Helena erzähle, hüpft sie auf und ab. An diesem Abend schlafe ich mit dem Gedanken ein, wie man wohl mit einem Bett umzieht.
Und ich träume überhaupt nicht.
Am nächsten Morgen gehe ich früh aus dem Haus und am Zaun vorbei, nur für den Fall, dass ich Max abpassen kann. Eigentlich will ich Max gar nicht treffen, denn ich habe Angst davor, was passieren könnte, wenn er die Aufmerksamkeit der Deutschen auf sich zieht. Oder die der polnischen Polizei. Aber gleichzeitig muss ich Max auch treffen, um ihm von der Tatarska zu erzählen. Der Bereich hinter dem Zaun, gewöhnlich voller verzweifelt umherlaufender Menschen, ist leer. Man hört nur das Klacken der Stiefel des patrouillierenden SS-Mannes. Ich umrunde die Stelle, wo der Draht lose ist, aber er ist nicht mehr lose. Das Loch ist jetzt mit Holzbrettern vernagelt, und als ich zu dem Kellerfenster gelange, in das sich Max letztes Mal geschoben hat, ist auch dort niemand. Jetzt muss ich zur Arbeit rennen. Nur um festzustellen, dass ich dank Herrn Braun ab sofort für die Nachtschicht eingeteilt bin. Ich muss erst in zwölf Stunden antreten.
Als ich wieder nach Hause komme, erschrickt Helena fast zu Tränen, weil sie denkt, ich hätte meine Arbeit verloren. Sie steht, die Schürze um den Bauch, am Spülbecken in der Küche und spült mit Wasser, das sie auf dem Ofen erhitzt hat, das Geschirr. Ich küsse sie auf den Kopf und helfe ihr mit dem Rest.
»Schau, was ich gefunden habe«, sagt sie und zieht die alte Holzkiste, die Frau Diamant mir einmal geschenkt hat, aus der Ecke hinter dem Bett. Dort verstaut sie jetzt ihre Sachen – die übrigen Zeitschriften zum Ausschneiden und die Schnur und Murmeln und Knöpfe und was sie sonst noch auf der Straße findet. Jetzt holt sie einen Ball ohne Luft heraus.
»Herr Szymczak hat mir gestern erzählt, dass er eine Luftpumpe für Reifen hat, mit der man meinen Ball wahrscheinlich aufblasen kann«, sagt sie.
»Meinst du nicht, dass er wahrscheinlich irgendwo ein Loch hat und darum keine Luft drin ist?«
»Das macht nichts. Er braucht die Luft nicht lange zu halten. Nur lang genug, um ihn gegen den Ghettozaun zu treten.«
Ich setze mich auf die Fersen. »Wie meinst du das?«
»Ich meine, dass ich zum Zaun gehen und mit meinem Ball spielen und Sachen rufen werde wie: ›Maxi! Maxi! Fusia Brief!‹ Und der Wachmann wird nicht wissen, was das bedeutet, aber Max schon, und er wird rauskommen und ich werde den Ball unter den Zaun treten, wenn der Wachmann nicht herschaut, und Max wird ihn zurückgeben, und dabei kann ich ihm den Brief zuschieben. Ich habe schon zweimal mit den Wachleuten Ball gespielt, um zu sehen, ob es funktioniert. Es ist ganz einfach.«
Ich sehe meine kleine Schwester an. Die mit der SS Ball spielt.
»Ich schaffe das«, sagt sie.
Wir treffen eine Vereinbarung. Sie darf es probieren, aber ich gehe mit und sehe von einer Straßenecke aus zu. Wenn Max nach fünf Minuten nicht da ist, hört sie auf. Wenn es aussieht, als könnte irgendwas schiefgehen, sorge ich dafür, dass sie aufhört. Ich beziehe hinter einer ehemaligen Eisbude in der Nähe der Schienen Position, während Helena den Ball, den Herr Szymczak mit Luft befüllt hat, springen lässt. In der Tasche hat sie einen Zettel, auf dem steht: »Wir haben es. Fenster. Zwei Tage.« Was bedeutet, dass wir die Wohnung in der Tatarska-Straße haben und dass Max mich zwei Tage später am Kellerfenster – das mir als sicherster Ort erscheint – treffen soll.
Mein Herz schlägt so heftig in meiner Brust, dass mir fast schlecht wird.
Weil ich die schlimmste Schwester bin, die es je gegeben hat.
Helena schießt den Ball gegen eine Hausmauer und fängt ihn auf, als er zurückprallt. »Maxi! Fusia Brief!«, ruft sie. Sie tritt und ruft wieder. Als sei es ein Spiel. Ich sehe, wie der SS-Mann sie auf seinem Weg am Zaun entlang einen Augenblick lang beobachtet. Dann dreht sie sich um und schießt den Ball in seine Richtung. Er fängt ihn und wirft ihn ihr zu. Sie lacht und schießt den Ball zurück.
Oh, Helena macht das gut.
Der SS-Mann lächelt und wirft ihr den Ball erneut zu, dann deutet er auf die Ziegelwand des Hauses. Helena ruft, schießt den Ball an die Wand und fängt ihn. Ruft und fängt.
Und dann ist Max da. Wie ein Schatten taucht er in einem Hauseingang innerhalb des Zaunes auf.
Ich glaube nicht, dass Helena ihn sieht. Sie tritt den Ball, während Max sich näher heranschleicht, und dann, als der SS-Mann ihr den Rücken zuwendet, kurz bevor er am äußersten Ende des Zauns umdrehen wird, tritt Helena den Ball hart gegen den Zaun.
Er rollt darunter hindurch. Max holt sich den Ball, während Helena wartend die Nase durch den Zaun streckt, und als er den Ball unter dem Zaun hindurchschiebt, sehe ich, wie das zerknitterte Papier von ihrer Hand in seine wechselt. Und ein weiteres von seiner Hand in ihre.
Das hatte ich nicht erwartet.
Es dauert nur Sekunden, dann verschwindet Max wieder und Helena wirft den Ball erneut an die Wand und fängt ihn. Der Wachmann macht kehrt und geht nun den Zaun in die andere Richtung ab. Sie spielt noch ein, zwei Minuten weiter und rennt dann um die Ecke. Grinsend.
»Hier«, sagt sie und gibt mir das Papier. Ich nehme ihre Hand, und wir gehen schnell, bis wir zwei Straßen weiter vor einer Bäckerei stehen bleiben, vor der sich gerade eine Schlange zu bilden beginnt.
»Kaufen wir Brötchen?«, fragt Helena.
»Du bekommst einen Keks«, sage ich. »Weil du das schlauste Mädchen bist, das ich kenne.«
Freudestrahlend lacht sie mich an. Und dann falte ich den Zettel von Max auseinander.
Typhus. Essen und Medizin.
Und ich frage mich, wer stirbt.
Wer immer es ist, wir werden warten müssen, bis ich morgen meinen ersten Lohn bekomme.
Als Nächstes gehe ich mit Helena in die Tatarska-Straße. Eine von uns trägt einen Besen, die andere einen Mopp und ein altes Geschirrtuch. Helena rennt von Zimmer zu Zimmer, knallt die Türen zu, klettert die Leiter hoch, wirbelt mit ausgestreckten Armen durch die Küche.
»So viel Platz!«, ruft sie.
Es muss ihr vorkommen, als sei ihre Zeit auf dem Bauernhof eine Ewigkeit her.
Ich bringe im Ofen mit dem Holz, das wir hinter der Leiter in dem kleinen Flur finden, ein Feuer in Gang. Dann machen wir uns an die Arbeit. Wir bürsten die Wände ab und schrubben den Boden, wobei wir mehr Mäuse aufschrecken, als mir lieb ist. Helena lernt die Pumpe zu bedienen und Wasser aus dem Brunnen zu holen. Sie füllt Eimer für Eimer und muss sich dabei gegen die beiden Krajewska-Jungs wehren, und am Ende sind wir dreckiger als das Haus.
In der Dämmerung eile ich nach Hause, wasche mich und haste wieder hinaus, zur Arbeit, wo ich kurz vor meinem Schichtbeginn eintreffe. Es ist niemand da, den ich kenne, und keiner hilft mir, mein Soll aufzubessern. Ich schaffe zu wenig, aber der Aufseher sieht mein müdes Gesicht und drückt ein Auge zu. Und als ich gehe, gibt mir der Deutsche hinter dem Tisch einen Umschlag, auf dem mein Name steht. Mein Lohn. Ich drehe mich um und stecke ihn in meinen BH.
Im Morgengrauen laufe ich zu den Läden und betrete die Apotheke gleich, als sie öffnet. Das Aspirin kostet meinen halben Lohn, was beunruhigend ist. Ich tröste mich mit dem Gedanken, dass bald wieder ein Lohn kommt, und gehe auf den Markt. Die Bäuerin, bei der ich gewöhnlich einkaufe, baut gerade erst ihren Stand auf und beschwert sich, ich sei ihr untreu gewesen. Ich sage, nein, ich hätte bloß jetzt einen Job und hätte morgens früh die Arbeit antreten müssen. Ich kaufe Eier, Käse, Butter und ein halbes Hühnchen. Kranke brauchen Eiweiß. Das hat jedenfalls Mama über Frauen im Kindbett gesagt, und ich nehme an, dass es bei Kranken ähnlich ist.
Ich stolpere zur Wohnungstür hinein, sage Helena, sie solle sich eine Scheibe Brot und ein Ei nehmen, schlafe drei Stunden und packe dann das Essen für Max zusammen. Es sind zwar noch keine zwei Tage vergangen, aber da wusste ich ja auch noch nichts vom Typhus. Hoffentlich reimt sich Max das zusammen. Ich schnüre ein Bündel aus braunem Papier und meiner Schürze und nehme dann den hinteren Weg am Ghettozaun entlang bis zu dem Kellerfenster. Das bewachte Tor meide ich.
Die schmale Gasse ist leer, abgesehen von ein paar Müllhaufen und den eisigen Flecken, die sich auf ausgekipptem Abspülwasser gebildet haben. Die Fenster über mir fühlen sich wie Augen an. Ich halte mich im Hintergrund, lehne mich, das Bündel fest in der Hand, an ein Gebäude. Es ist kalt. Bitterkalt. Wenn ich die Gestapo wäre, denke ich, dann würde ich in einigen dieser Wohnungen Männer abstellen, die den Zaun beobachten, ohne dass man sie von unten sehen kann. Der Gedanke lässt mich erschaudern. Als lange Zeit nichts passiert, werfe ich ein Steinchen gegen das Kellerfenster.
Und verfehle es. Ich werfe ein zweites, diesmal klickt es leise. Ein paar Sekunden später öffnet sich das Fenster und Max streckt den Kopf heraus. Und dann höre ich Schritte, laute Schritte, den Zaun entlangkommen. Max verschwindet, das Fenster schließt sich geräuschlos, und ich ducke mich in den zurückgesetzten Eingangsbereich eines aufgegebenen Ladens. Ich beobachte durch das Schaufenster die Stelle im Zaun, und ein Polizist geht vorbei, ein Pole, die Mütze tief in die Stirn gezogen.
Wenn ich bloß wüsste, wie oft die Patrouille vorbeikommt.
Ich schleiche wieder zum Zaun, und Max schiebt wieder den Kopf durchs Fenster und winkt mich herbei. Ich eile zu ihm, knie mich hin und schiebe das Päckchen durch den Stacheldraht. Er zieht es ins Fenster.
»Wer ist krank?«, flüstere ich.
»Henek und Dr. Schillinger.«
Bitte lass Max nicht noch einen Bruder verlieren. »Hier ist Aspirin«, sage ich.
»Ich habe ihnen von dem Haus erzählt«, sagt Max. »Ich habe einen Plan, wie …«
Die Schritte kommen zurück. Max verschwindet, das Fenster schließt sich, und ich rapple mich auf. Stiefel knirschen auf dem Kies zwischen den Pflastersteinen, sie nähern sich schnell. Ich renne hinüber in die Gasse, habe aber keine Zeit, mich in einem Hauseingang zu verstecken. Also lehne ich mich an die Wand, als sei mir langweilig.
Ein blauer Blitz. Ein polnischer Polizist läuft vorbei. Und dann bleibt er stehen, geht zurück und schaut in die Gasse.
Es ist Wachtmeister Berdecki.
Seine blauen Augen leuchten, und wir sehen einander an. Seine Wangen sind gerötet.
Er sieht wirklich gut aus. Wie jemand in einer Illustrierten.
Ich sehe aus, als würde ich da am Ghettozaun herumhängen und auf jemanden warten.
Er müsste mich festnehmen.
Aber er geht davon. Kopfschüttelnd.
Ich frage mich, wie ich es angestellt habe, dass dieser Mann mich so mag, dass er mich laufen lässt. Schon wieder.
Oder wie ich später dafür werde büßen müssen. Er weiß, wo ich wohne.
Ich renne nach Hause, presche durch die Wohnungstür und sage: »Hela, wir ziehen um. Heute noch.«
Wir brauchen drei Stunden, um all unsere Habe zusammenzupacken, aber das liegt nur daran, dass ich eine Stunde damit zubringe, jemanden zu suchen, der mir einen Wagen vermietet. Zwei Kisten tragen wir selbst in die Tatarska, und ich lasse Helena mit ihnen dort, während ich zurückgehe, um das Geschirr, das Bettgestell und die Matratze aufzuladen. Ich beeile mich, damit ich verschwunden bin, bevor die Schicht von Wachtmeister Berdecki zu Ende ist und bevor Emilika nach Hause kommt. Ich fürchte mich davor, ihr ins Gesicht zu sehen, denn sie wird wissen, was ich tue. Da lasse ich sie lieber im Unklaren.
Ich ziehe die Matratze ungeschickt die Treppe hinunter, bringe sie ganz oben auf dem beladenen Karren ins Gleichgewicht, gebe dem Jungen der Szymczaks etwas Geld, damit er alles für mich bewacht, und renne dann noch einmal hoch, um mich zu vergewissern, dass wir nichts zurückgelassen haben.
Ich betrachte den leeren Raum, überraschend viel Dreck und Staub auf dem nackten Fußboden, und gehe dann jeden Zentimeter der hallenden Wohnung noch mal ab. Die Erinnerung an das, was war, und der Anblick dessen, was nun ist, prallen in meinem Kopf aufeinander wie Tangos in verschiedenen Tonarten. Ich hätte noch fegen können, denke ich. Frau Diamant hätte es so gewollt. Sie hat den Boden immer sauber gehalten, besonders im Laden.
Nein, denke ich. Meine Babcia hätte gewollt, dass ich ihre Söhne rette.
Ich lasse den Schlüssel auf dem Kaminsims liegen, schließe die Tür und schiebe den bedenklich voll beladenen Wagen durch ganz Przemyśl in die Tatarska-Straße Nummer 3.