In dieser Nacht bin ich bei der Arbeit so müde, dass ich von Glück sagen kann, um Mitternacht noch alle meine Finger zu haben. Der Mechaniker, der die Schicht betreut, kommt und tippt mir auf die Schulter, wobei er mit dem Kinn in Richtung des Reparaturtisches deutet. Ich schlafe eine Stunde und arbeite dann weiter.
Als ich nach Hause in die Tatarska-Straße komme, liegt Helena auf der nackten Matratze auf dem Boden und zittert im Schlaf, weil es immer noch bitterkalt ist und sie weiß, dass sie allein kein Feuer machen darf. Aber sie hat unsere Kleidung an den Haken im Schlafzimmer aufgehängt, die hässlichen Teppiche, die an unseren Fenstern hingen, auf den Boden gelegt, und das Geschirr im Regal neben dem Waschbecken gestapelt. Ich decke sie mit meinem Mantel zu, entfache ein Feuer und baue das Bett wieder zusammen. Für das Frühstück sind noch zwei Eier und eine halbe Tasse Milch übrig. Ich muss auf den Markt gehen. Und ich muss Max eine Nachricht zukommen lassen. Falls er uns in der Wohnung sucht, wird es dort niemanden mehr geben, der ihn versteckt.
Ich schreibe drei Worte auf einen Fetzen braunes Packpapier. Umgezogen. Krank? Wann? Und sobald Helena die Augen öffnet, sage ich: »Hast du deinen Ball mitgebracht?«
Eine Stunde später steht Helena am Ghettotor und spielt, den Zettel in der Tasche, mit ihrem Ball, während ich wieder hinter der ehemaligen Eisbude Position bezogen habe. Allerdings wird sie diesmal, wenn sie Max den Zettel zugesteckt hat, noch weiterspielen, um abzuwarten, ob vielleicht eine Antwort kommt. Ich hoffe, er wird mir sagen, wer am Leben ist, wer noch krank ist und wann sie in die Tatarska kommen können. Helena tritt den Ball und lässt ihn von der nackten Ziegelwand eines Wohnhauses zurückprallen.
»Maxi! Maxi! Fusia Brief!«, ruft sie.
Heute treiben sich auch andere Kinder am Zaun herum. Manche von ihnen versuchen mit Helena zu spielen, doch sie geht nicht darauf ein. In der Nähe des trockenen Brunnens auf dem ungenutzten Platz stehen vier Jungs, Jugendliche mit Flaum auf der Oberlippe. Sie bilden einen engen Kreis und reichen eine Zigarette herum. Helena wirft den Ball zu dem diensthabenden Wachmann – einem SS-Mann, allerdings nicht dem gleichen wie zuvor – und er blafft sie an, ruft etwas Unfreundliches, was man kaum versteht, weil gerade ein Auto hupt. Sie spielt ihr Spiel und ruft weiter, hält aber Abstand zu dem Wachmann.
Gut gemacht, Hela.
Und dann sehe ich Max auf der anderen Zaunseite vorbeigehen, ziemlich weit vom Zaun entfernt. Hela wirft den Ball mit ihrer ganzen Kraft gegen die Wand und lässt ihn, als er zurückprallt, unter dem Zaun durchrollen, anstatt ihn mit dem Fuß zu bremsen. Der Wachmann hat ihr gerade den Rücken zugewandt. Max hält den Ball auf und kommt rasch herbei, um ihn ihr zurückzugeben. Ob Helena ihm den Zettel gibt, kann ich nicht sehen.
»Stefania Podgórska, was stehen Sie da auf der Straße herum?«
Ich zucke zusammen, als wäre ich gezwickt worden. Neben mir steht Frau Wojcik, ihren kleinen Hund auf dem Arm. Ich versuche zu lächeln.
»Ich warte bloß auf jemanden.«
»Und auf wen?«, will sie wissen.
Ich kann diese Frau wirklich nicht leiden. Und überhaupt, was macht sie hier auf der anderen Seite der Schienen? Ich werfe einen Blick zu Helena. Sie spielt sehr nah am Zaun. Max sehe ich nirgends.
»Auf Ihren Polizisten?«, fragt Frau Wojcik. »Stimmt doch, oder? Da ist doch schon was im Busch? Mir können Sie nichts vormachen. Ich war zweiunddreißig Jahre verheiratet, habe zwei Söhne großgezogen und rechne damit, bald wieder einen Ehemann zu haben.« Hier macht sie eine Pause. Offenbar hofft sie, dass ich nachhake. »Also, mir können Sie nichts vormachen. Ich kenne die Männer.«
Ich bin viel zu müde für all das. »Frau Wojcik, ich habe nur eines zu sagen.« Sie beugt sich erwartungsvoll vor. »Und das ist gejn in drerd!«
Frau Wojcik hat sicherlich keine Ahnung, dass sie gerade auf Jiddisch zum Teufel geschickt worden ist, aber an ihrem Gesichtsausdruck sehe ich, dass sie es sinngemäß verstanden hat.
Der Hund jault, während Frau Wojcik wutschnaubend davonmarschiert, und als ich mich umdrehe, spielen immer noch die Kinder vor dem Tor, und der Wachmann steht dort und spricht mit einem der Jungs mit der Zigarette. Helenas Ball rollt noch am Zaun entlang.
Aber Helena ist nicht da.
Ich trete hinter der Eisbude hervor.
»Hela?«, rufe ich. »Helena?«
Ich gehe hinaus auf den leeren, gepflasterten Platz. »Helena!«, rufe ich und drehe mich im Kreis. Und dann sehe ich hinter dem Zaun Max, der mit einer hastigen Bewegung nach rechts deutet. Der SS-Mann unterbricht sein Gespräch und sieht mich an. Ich deute nach rechts und forme mit den Lippen: »Da entlang?«
Der Wachmann hebt seine Waffe, aber ich renne auf Max’ Nicken hin in die angegebene Richtung, bevor der Wachmann mich auch nur anblaffen kann.
»Helena!«
Menschen drehen sich um und starren mich an, während ich zur nächsten Straßenecke renne, wo ich schlitternd zum Stehen komme und mich in beiden Richtungen umsehe. Ich kann sie nicht entdecken. Wegen der Eisenbahnschienen geht es nur in eine Richtung weiter. Aber in welche Nebenstraße soll ich abbiegen?
»Haben Sie ein kleines Mädchen vorbeilaufen sehen?«, frage ich einen Mann, der an einer Straßenlaterne lehnt. Er grummelt vor sich hin und deutet nach links. Ich renne in die angegebene Richtung, am Ghettozaun entlang und in ein Wohnviertel. Ein paar Mädchen malen gerade Quadrate für Himmel und Hölle auf das Pflaster.
»Habt ihr ein Mädchen in diese Richtung laufen sehen?«, frage ich außer Atem. Ein Mädchen mit Zöpfen schielt zu mir hoch und schüttelt den Kopf.
»Aber ein paar Jungs«, sagt sie. »Und einen Soldaten.«
Ich denke an die Jungs mit der Zigarette. An den, der mit dem Wachmann gesprochen hat. Oh nein.
Nein, nein, nein.
Was hat Max ihr gegeben?
»Wo sind sie hingelaufen?«, frage ich. Meine Stimme wird vor Panik lauter. »In welche Richtung? Was für ein Soldat?«
Aber das weiß das Mädchen nicht.
Ich blicke die Straße entlang und sehe mindestens vier Seitenstraßen, in die Helena abgebogen sein könnte. Aber wenn man zur Fußgängerbrücke über die Gleise will, wenn man ein Rudel Jungs und einen Gestapo-Mann abschütteln und zurück zur Tatarska will, dann wäre diese Gasse, von der viele kleinere Gässchen abgehen, keine schlechte Wahl.
Ich renne die Gasse entlang und nehme jeden Weg, den Helena vielleicht genommen haben könnte, sehe aber nichts und niemanden. Dann laufe ich heimwärts, fliege förmlich über die Brücke und den Markt und dann die Hügel hinauf, bis meine Füße den gefrorenen Boden des Hofes der Tatarska-Straße Nummer 3 spüren. Ich sperre die Tür auf. Vielleicht ist sie durchs Fenster hineingekommen.
»Hela?«, rufe ich immer wieder, sogar zum Dachboden hinauf. Aber ich spüre, dass niemand da ist, und renne sofort wieder auf den Hof. »Helena!«
Frau Krajewska streckt den Kopf aus der Tür. »Was ist denn los?«
»Haben Sie meine Schwester gesehen?«
»Ist sie nicht direkt hinter Ihnen?«
Ich wende mich auf dem Absatz um und sehe Helena über den Hügel kommen – von den Hinterhöfen her, nicht von der Straße. Ihre Lippe blutet, Tränen strömen ihr übers Gesicht.
»Entschuldigen Sie die Störung«, rufe ich über die Schulter Frau Krajewska zu und ziehe Helena ins Haus. Kaum habe ich die Tür hinter uns geschlossen, falle ich auf die Knie und umarme sie, so fest ich kann. Ihr Rücken hebt und senkt sich unter gewaltigen Schluchzern.
»Die Jungs …«, sagt sie. »Sie haben mich beobachtet. Sie wollten … Leute erwischen, die Juden helfen, und sie haben gesehen … einer von ihnen hat gesehen … wie Max mir den Zettel gegeben hat.«
Ich schaue Helena ins Gesicht und wische ihr mit einem Ärmel das Blut von der Lippe, bemüht, ihr meine Angst nicht zu zeigen. Denn in ihre Jackentaschen habe ich schon gegriffen. Sie sind leer, und in ihren Händen sehe ich auch keinen Zettel.
Vielleicht müssen wir fliehen. Jetzt, sofort.
»Der große …« Helena schluchzt. »Er hat gesagt, ich soll ihm geben, was der Jude mir gegeben hat, und als ich weggerannt bin, hat er den Soldaten mit der schwarzen Mütze gerufen, und sie haben mich gejagt. Ganz lange, und ich konnte … kaum mehr … laufen, und dann haben sie mich erwischt …«
Ich werfe einen Blick aus dem Fenster, aber die Straße ist immer noch leer. »Hela, was stand auf dem Zettel?«
»Ich weiß es nicht! Ich habe nicht geschaut! Ich weiß nicht, welche Worte …«
Falls Max unsere Namen oder unsere Adresse aufgeschrieben hat, irgendetwas, was uns verraten könnte, dann gibt es jetzt keinen sicheren Ort mehr für sie alle. Oder für uns. »Was haben die Jungen getan, als sie ihn genommen hatten?«
Helena zieht die Stirn in Falten.
»Wer hat den Zettel genommen, die Jungs oder der Soldat? Was haben sie gesagt? Haben sie ihn gelesen?«
»Nein«, sagt Helena und wischt sich die Tränen ab. »Das konnten sie nicht.«
»Wieso nicht?«
»Weil ich ihn aufgegessen habe.«
Ich lasse mich auf die Fersen zurücksinken. »Du hast Max’ Zettel aufgegessen?«
»Es tut mir leid, Stefi! Aber ich hatte Angst, dass etwas Wichtiges draufsteht, also habe ich ihn zerrissen und … in den Mund gesteckt. Aber ich bin ja gerannt und er war so schwer zu schlucken … ich musste würgen, und dann haben sie mich erwischt, und der Junge hat mich geschlagen, und dann … ist er runtergerutscht!«
Ich sehe sie weiter an und umarme sie dann noch einmal. Noch fester.
»Und dann kam der Soldat mit der schwarzen Mütze …«
Ich lehne mich wieder zurück, um sie anzusehen.
»Und er wollte mich mitnehmen, und … und …«
Ich umschließe ihr Gesicht mit meinen Händen.
»Und dann habe ich ihn getreten, und er hat mich zu Boden gestoßen, und dann habe ich ihn gebissen.«
»Du hast ihn gebissen?«
»Ins Bein! Bist du böse auf mich?«, fragt sie, und dann fragt sie noch mal. »Bist du böse auf mich?« Diesmal allerdings dämpfen meine Haare ihre Stimme.
Ich schüttle den Kopf.
»Aber vielleicht stand was Wichtiges drauf …«
»Und genau aus diesem Grund hast du ihn verschluckt, du kluges, kluges Mädchen. Du bist tapferer als die gesamte polnische Armee, denn ich wette, dass von denen noch keiner jemals einen Nazi ins Bein gebissen hat. Kein einziges Mal.«
»Wirklich?«
»Wirklich.«
Ich küsse sie auf die Stirn und auf beide Wangen und dann wieder auf die Stirn, und noch bevor ich damit fertig bin, trocknen Helenas Tränen und ein Lächeln stiehlt sich auf ihre lädierten Lippen. Ich bin so stolz auf sie, dass ich platzen könnte.
Und ich bin auch entschlossen, dass sie nie, niemals wieder so klug oder tapfer wird sein müssen.
Das bedeutet, dass ich mich morgen selbst ins Ghetto schleichen werde.
Ich beschließe, frühmorgens nach der Arbeit hinzugehen. Das ist die Zeit, die Max immer bevorzugt, weil er sagt, die Nachtwachen schliefen dann im Stehen ein. Der einfachste Weg, so meine Einschätzung, ist vermutlich der durch das Kellerfenster. Falls es nicht verriegelt ist. Und wenn nicht ein polnischer Polizist jeden meiner Schritte überwacht.
Was ich tun soll, falls er auftaucht, weiß ich nicht.
Ich nehme den hinteren Weg um den Zaun, im Zickzack durch Gassen und hinter Gebäuden entlang, bis ich den zurückgesetzten Eingang des aufgegebenen Ladens erreiche. Von dort aus beobachte ich das Ghetto durch die leeren Schaufenster. Ich stehe lange dort. Keine Patrouille ist in Sicht, was bedeutet, dass entweder keine da ist oder dass sie jeden Moment kommen wird. Ich warte noch eine Weile, gehe dann zum Ende der Gasse und bücke mich, als müsste ich einen Schuh schnüren. Ich blicke die gesamte Länge des Zauns entlang. Es ist niemand da.
Ich flitze los und krieche unter dem Stacheldraht durch. Das Fenster ist so nah, dass ich es schon öffnen muss, als ich erst halb durch den Zaun bin. Aber es geht auf und ich krieche hinein, wobei ich mich ziemlich verrenken muss, um meine Füße nach vorn zu bekommen. Ich rutsche in den Keller und lande mit einem harten Aufprall. Meine Fußsohlen stechen. Mir war nicht klar gewesen, dass es so weit ist bis zum Boden. Das Fenster lässt sich schwerer schließen, als es sollte, und jetzt zieht sich ein Riss die Scheibe entlang, eine Scheibe, die so dreckig ist, dass kaum Licht hereindringt.
Dunkelheit umgibt mich.
Und dann bewegt sich etwas. Ein Schatten, größer als eine Ratte, der sich plötzlich aufrichtet. Ich muss mit aller Kraft einen Schrei unterdrücken, bis ich höre: »Fusia?«
»Max!«, flüstere ich. »Bist du das?«
»Hier, steck das ins Fenster, damit es offen bleibt …«
Als das Stöckchen das Fenster einen Spalt breit offen hält, kann ich seine Augen erahnen und auch seinen Umriss im schwachen Licht, aber viel mehr erkenne ich nicht.
»Was machst du hier drin?«, frage ich.
»Ich warte darauf, dass du zum Zaun kommst, damit ich dir sagen kann, du sollst es lassen. Ich dachte, du würdest ein Steinchen ans Fenster werfen. Was ist mit dem Zettel passiert?«
»Hela hat ihn runtergeschluckt, während sie weggelaufen ist, aber ohne zu wissen, was draufstand. Wie geht es Henek? Und Dr. Schillinger?«
»Sie werden überleben. Es gibt viele Fälle von Typhus. Es ist gefährlich für dich, hier reinzukommen. Schillinger war so schwach, dass die Gestapo ihn fast erschossen hätte.«
»Wie meinst du das, fast erschossen?«
»Sie haben alle erschossen, die zu schwach waren, um aus dem Bett aufzustehen. Wir haben Henek in den Bunker im Keller gebracht, aber Schillinger musste ich unters Bett schieben. Dziusia saß darauf und ließ die Beine baumeln …«
Wie er auf die Idee gekommen ist, liegt nahe. Und dann fällt mir ein, wie beiläufig wir über die kaltblütige Ermordung kranker Menschen sprechen.
»Du hättest wirklich nicht kommen sollen«, sagt er. »Das Ghetto ist jetzt gefährlich. Das Rein- und Rausgehen.«
Allerdings hat er gewusst, dass ich es tun würde, das ist mir klar.
»Ich habe einen Plan, um uns hier rauszubringen, aber es wird ein paar Tage dauern, die richtige Kleidung und alles, was wir brauchen, zu organisieren. Siunek Hirsch und ich werden als Erste kommen. Heute in einer Woche. Wir warten am Bahnhof auf dich, am Gleis, dann können wir, falls du zu spät kommst, so tun, als warteten wir auf einen Zug. Dann gehst du voraus und wir folgen dir, und wenn Polizei da ist, lenkst du sie ab und ich führe Siunek in die Tatarska-Straße.«
»Um welche Uhrzeit?«
»Sechs Uhr morgens, am Ende der Nachtschicht.«
»Wenn ich da noch Nachtschicht habe, kann ich erst um halb sieben da sein. Falls ich auf Tagschicht bin, müssen wir uns um fünf treffen.«
»Geh am Tag zuvor am Tor vorbei und halte sechs oder fünf Finger hoch, dann weiß ich Bescheid.«
»Das mache ich.«
Ich spüre Max’ Arme, die mich umschließen. Er ist warm und voller Sand vom Kellerboden. Und sehr dünn.
»Danke, Fusia«, sagt er.
Dann lässt er mich los.
»Du musst dich beeilen«, sagt er. »Alles wird überwacht. Auch das Kellerfenster. Ich weiß nicht, wie du es geschafft hast, nicht erwischt zu werden …«
Ich frage mich, ob es daran liegt, dass mein polnischer Polizist über das Fenster wacht.
»Nimm den alten Weg nach draußen. Es ist ganz nah, an der Tür links und durch die nächste Gasse bis zum Ende. Ich habe den Draht wieder gelockert und glaube nicht, dass sie es mitbekommen haben. Und hier. Nimm das mit.«
Max dreht sich um, tastet im Dunkeln zu seinen Füßen herum und schiebt mir ein Bündel in die Hand.
»Ich wünschte, ich könnte mit dir gehen, aber wir beide zusammen … Wenn du siehst, dass gerade Wachablösung ist, wenn du irgendwas Verdächtiges siehst, versteck dich. Oder setz dich auf den Boden. Leg dich hin. Als wärst du müde. Und wenn du jemand rufen hörst ›Schwammberger‹, dann rennst du einfach los. So schnell du kannst. Versprich mir das.«
»Wer ist Schwammberger?«
»Der Kommandant, der für das Ghetto zuständig ist. Er erschießt gern im Vorbeigehen Leute. Wenn du seinen Namen hörst, renn einfach. Versprich es mir.«
»Ich verspreche es.«
»Geh in fünf Tagen am Zaun entlang. In sechs Tagen werde ich am Bahnhof sein.«
Und dann wird er in der Tatarska sein. Auf Gedeih und Verderb.
Max bringt mich zu der Treppe, die aus dem Keller führt. Zwei schiefe Türen führen direkt auf die Straße. Ich stoße sie auf, als er zischt, »Fusia!«.
Ich drehe mich um.
»Kauf mir eine Schaufel!«
Ich schleiche hinaus auf die Straße, als würden gleich Bomben fallen.
Es ist viel schlimmer als beim letzten Mal. Menschen drängen sich in kleinen Gruppen aneinander oder sitzen einfach allein in der Kälte. Und dann merke ich, dass viele von ihnen tot sind oder dem Tod so nahe, dass es fast keinen Unterschied macht. Typhus. Und Hunger. Und wer weiß, was noch alles. Ich nehme den Weg durch die Gasse, wie Max gesagt hat, drücke mein Bündel an die Brust und versuche nicht hinzusehen.
Da höre ich einen harschen Befehl.
»Stehen bleiben!«
Die Stimme ist hinter mir. Ich blicke über die Schulter.
»Sie da! Stehen bleiben!«
Ein Mann kommt schnellen Schritts die Gasse entlang. Er trägt einen schmutzigen Overall wie ein Arbeiter und hat die Mütze tief ins Gesicht gezogen. Seine Stiefel hallen laut auf dem Pflaster.
»Was machen Sie hier?«, will er wissen. »Was haben Sie da?«
Er ist zu sauber, um ein Arbeiter zu sein. Und ich bin auch zu sauber für das Ghetto.
Etwas in mir wird ganz ruhig, aber mein Geist nimmt Fahrt auf. Ich blicke nach unten und merke, dass mein Bündel zwei Hemden und etwas, das wie Vorhänge aussieht, umfasst. »Vorhänge kaufen«, sage ich. »Weiter nichts.«
»Sie wissen ja, dass Sie hier nichts kaufen dürfen. Oder verkaufen.«
Ich versuche es mit einem Lächeln. »Aber ich habe eine Schwester zu ernähren, und ich brauche …«
»Kommen Sie mit«, sagt er und packt mich am Arm. »Sofort!«, fügt er hinzu, als ich Widerstand leiste. »Oder soll ich die SS holen?«
Er marschiert mit mir die Gasse und dann die Straße entlang, vorbei an den Lebenden und den Toten, und in ein Gebäude, in dem sich wohl Büros befinden, obgleich auch hier Menschen schlafen. An einer Wand stehen Feldbetten.
»Wer sind Sie?«
»Judenrat«, sagt der Mann.
»Die jüdische Polizei? Wo ist Ihre Uniform?«
Er gibt keine Antwort, sondern führt mich einfach zu einem Raum mit einem Tisch und lässt mich Platz nehmen. Zwei weitere Männer treten ein, Ordner, diesmal in Uniform, und sie führen ein langes Gespräch im Flüsterton, das ich nicht verstehe. Dann nehmen sie mir mein Bündel ab und untersuchen es. Sie schütteln die beiden Hemden und die zwei Gardinenpaare heraus. Ich weiß nicht, wo Max diese Gardinen herhat, aber das Material ist dunkel und dick und mit weißen Lilien bedruckt, und ich weiß sofort, wozu sie gedacht sind. Um versteckte Juden vor Blicken zu schützen, die durch die Fenster der Tatarska Nummer 3 dringen könnten.
Sie lassen die Sachen auf dem Tisch liegen. Der Mann, der mich festgenommen hat, wird von einem anderen abgelöst, der ebenfalls keine Uniform trägt. Dieser setzt sich hinter den Tisch, während die beiden Ordner in strammer Haltung hinter ihm stehen. Der Mann sieht wohlgenährt, aber erschöpft aus. Und entschlossen.
»Papiere, bitte«, sagt er.
Ich reiche ihm meine Dokumente und beschließe, nicht zu erwähnen, dass die Adresse nicht stimmt.
»Podgórska«, sagt er, während sein Blick über mein Bild wandert. Er blickt auf. »Wir wissen, wer Sie sind.«
»Mein Name steht in den Papieren.«
Er lächelt. »Vielleicht sollte ich sagen, wir wissen, was Sie sind. Und wir wissen, was Sie tun.«
»Sie wissen, dass ich im Ghetto Vorhänge kaufe?«
Er lächelt freudlos. »Wir wissen, Fräulein Podgórska, dass Sie vorhaben, Juden zu verstecken.«
Wenn ich plötzlich Hitler hinter dem Tisch hätte sitzen sehen, hätte ich auch nicht überraschter sein können. Wie kann es bloß sein, dass ich erwischt werde? Jetzt? Wo es noch nicht einmal über die Bühne ist? Ich lehne mich in meinem Stuhl zurück.
»Ich verstecke keine Juden. Ich habe lediglich billige Vorhänge von Menschen gekauft, die sie nicht mehr brauchen.«
Der Mann legt meine Papiere weg und öffnet eine gelbe Mappe. »Sie sind beobachtet worden, Fräulein Podgórska, wie Sie im Ghetto ein und aus gehen. Wir haben gesehen, wie Sie am Zaun Waren übergeben haben. Wir haben Ihre Schwester am Zaun gesehen …«
Das rüttelt mich auf. Er blättert die Akte durch und liest.
»… und wir wissen von Ihrem Plan, einen … Dr. Schillinger und seine Tochter zu verstecken. Siunek Hirsch und seinen Vater, Dr. Leon Hirsch. Henek Diamant und Danuta Karfiol.«
Sie haben Max vergessen, denke ich.
»Sie sehen, Fräulein Podgórska, lügen ist zwecklos. Wir wissen Bescheid.«
Ich habe zu dem, was dieser Mann weiß, nichts zu sagen. Das Einzige, was mich interessiert, ist – wie kann er es wissen? Und gibt es noch irgendeine Möglichkeit für mich, da rauszukommen? Ich lächele ihn verhalten an.
»Das Problematische an Ihren Informationen ist, dass sie nicht zutreffen.«
»Sie verstecken Juden, Fräulein Podgórska. Oder werden das sehr bald tun.«
Einer der Ordner grinst süffisant. Sie scheinen zu glauben, sie seien jetzt mit mir fertig. Der Mann streicht die Papiere im Ordner säuberlich glatt und legt ihn auf den Tisch.
»Wie das Gesetz es vorschreibt, werden Sie jetzt ins Büro der Gestapo gebracht, wo Sie sich erklären und die Verantwortung für Ihr Handeln übernehmen können. Mein Wachtmeister hier wird …«
»Wessen Gesetz?«, frage ich.
Er blickt überrascht auf. »Das deutsche Gesetz natürlich.«
»Sie alle sind Juden«, sage ich. »Und Sie werden mich der Gestapo übergeben, weil ich Juden rette?«
Der Mann verzieht das Gesicht. »Auch wir versuchen Juden zu retten, Fräulein Podgórska. Sie müssen das verstehen. Wenn sich jeder an die Regeln hält, wird es keine Vergeltungsaktionen geben. Aber wenn auch nur ein Jude bei einem Vergehen ertappt wird, dann, so hat die SS angekündigt, werden Hunderte bestraft werden. Sie haben sechs Juden kriminelle Aktivitäten ermöglicht, Fräulein Podgórska. Das könnte Tausende Menschenleben kosten. Wenn irgendwer das überleben soll, müssen wir für Ordnung sorgen. Wir müssen die Unschuldigen schützen …«
»Aber die Nazis töten doch die Unschuldigen! Ihre eigenen Leute! Und währenddessen halten Sie die ›Ordnung‹ aufrecht, damit diese Ungeheuer ein ganzes Ghetto voller Opfer haben, die sie noch leichter umbringen können!«
Der Mann zieht die Brauen zusammen.
»Sie wissen, dass ich die Wahrheit sage.« Ich starre die anderen beiden Anwesenden an. Jetzt lächelt keiner mehr. »Nicht wahr? Sie wissen es? Oder hat noch nie jemand gewagt, es Ihnen ins Gesicht zu sagen?«
»Wir werden so viele wie möglich retten«, sagt der Mann am Tisch.
»Indem Sie sich zurücklehnen, während andere ermordet und ausgehungert werden? Indem Sie sie auf Züge verladen, um …« Ich sehe die Männer an, die zurückstarren, als hätte ich den Verstand verloren. »Hoffentlich bringen Sie mich wirklich zur Gestapo«, sage ich. »Dann kann ich diesen Leuten sagen, was ich jetzt auch Ihnen sage. Dass Sie Feiglinge sind. Natürlich will ich Juden verstecken, das gebe ich zu. Es ist die Wahrheit. Ich will sie verstecken und retten, bis jemand sich entschließt, diesen Krieg zu beenden. Und bis es so weit ist, werde ich für möglichst viele kämpfen, auch wenn Sie das nicht tun, und ich werde mich dafür auch nicht entschuldigen.«
Ich stehe auf. So, als sei ich abmarschbereit.
Meine Beine fühlen sich an wie zwei weiche, schlabberige Gummiteile.
»Also, bringen Sie mich zur Gestapo. Nur zu. Und wenn man mich umbringt, und alle, die ich hätte retten können, wird Gott Ihnen hoffentlich vergeben. Obwohl ich mir das kaum vorstellen kann.«
»Lassen Sie uns allein«, sagt der Mann hinter dem Tisch. Aber er spricht mit seinen Wachtmeistern. Sie gehen hinaus und die Tür schließt sich mit einem Klicken.
»Setzen Sie sich.«
Ich bleibe stehen.
»Ich sagte, setzen Sie sich!«
Ich setze mich.
»Meinen Sie, mir gefällt meine Aufgabe hier, Fräulein Podgórska? Meinen Sie, ich hatte eine Wahl? Vielleicht denken Sie, ich sei freiwillig hier? Dass die SS nicht jederzeit mein Haus stürmen und meine Familie erschießen kann?«
Er öffnet eine Schublade und beginnt auf einem kleinen Stück Papier, das er von einem Block abreißt, etwas aufzuschreiben.
»Wir versuchen sie zu retten«, sagt er, »indem wir ihnen falsche Listen geben und dadurch die Deportation verzögern. Indem wir die Vergeltungsaktionen, die von Menschen wie Ihnen verursacht werden, in Grenzen halten, damit irgendwer irgendwo vielleicht gerettet wird. Wenn Sie andere Vorschläge haben, wie ich mein Volk schützen kann, dann sagen Sie es mir bitte.« Er setzt seinen Stift ab und wartet auf meine Antwort. »Nein? Dann nehmen Sie Ihre Sachen und kommen Sie mit.«
Ich tue, was man mir sagt, und falte die Vorhänge und die Hemden zusammen. Meine Tapferkeit schmilzt dahin wie Schnee in der Sonne. Wenn sie mich töten, was passiert dann mit Max? Und mit all den anderen?
Und was geschieht mit Helena?
Ich hätte mehr für Helena tun müssen.
Ich nehme meine Papiere an mich, drücke die gefalteten Stoffe an meine Brust, und der Mann öffnet die Tür. Ich folge ihm durch einen langen, schwach beleuchteten Flur, der vom Vordereingang, durch den ich hereingekommen bin, wegführt, vorbei an weiteren langen Reihen von Feldbetten. Auf manchen davon schlafen Menschen.
Was soll ich bloß tun?
Kämpfen? Bewaffnet mit nichts weiter als einem Vorhang und ein paar Fingernägeln?
Weinen? Das werde ich vielleicht sowieso.
Diesen Mann zu Boden werfen, zutreten, so fest ich kann, und dann um mein Leben rennen?
Ich würde es nicht aus dem Ghetto herausschaffen.
Wir erreichen einen kleinen Raum am Ende des Flurs, eine provisorische Küche, in der es warm ist und nach Kohl riecht. Der Mann drückt die Hintertür auf.
»Nehmen Sie das«, sagt er und gibt mir das Papier, das er von dem Block gerissen hat. »Gehen Sie zum Vordertor und geben Sie es der Wache.«
Ich blicke von dem Papier auf. »Und dann?«
»Gehen Sie nach Hause, Fräulein Podgórska.«
Ich starre wieder auf das Papier. Verständnislos.
»Gehen Sie nach Hause«, wiederholt er, »und kommen Sie nicht wieder. Und …« Ich muss mich anstrengen, um seine nächsten Worte mitzubekommmen. »Und wenn etwas getan werden muss, dann tun Sie es besser schnell. Verstanden?«
Ich nicke, und nicke noch einmal, und trete rasch aus der Tür. »Warten Sie«, sage ich und drehe mich um. »Woher wussten Sie das alles?«
»Gerede«, erwidert er.
»Wessen Gerede?«
»Die Leute reden gern.«
»Und wer hört gern zu?«
Er hebt die Schultern und eine Augenbraue. »Darauf weiß ich keine Antwort. Seien Sie vorsichtig, Fräulein Podgórska. Möge Gott uns allen vergeben.«
Er tritt zurück und schließt die Tür, und ich stehe mit großen Augen da. Zu überrascht, um meine Erleichterung wirklich zu spüren, nachdem ich so viel über das Elend im Ghetto gehört habe.
Ich denke an das, was er über seine Familie gesagt hat. Vielleicht hatte er ebenso wenig wie wir anderen gewusst, was kommen würde. Vielleicht hatten sie alle nicht gewusst, was sie erwartete, bis es zu spät war.
Er hat mir nicht einmal seinen Namen gesagt.
Ich eile zum Tor, zeige der Wache meinen Zettel und werde zu meiner Überraschung tatsächlich rausgelassen. Und als ich in der Tatarska die Tür hinter mir geschlossen und abgesperrt habe und die Lampe brennt und Helena Tee macht, kann ich nur noch an »Gerede« denken und daran, wie lange es dauern wird, bis es der Gestapo zu Ohren kommt.