20

Mai 1943

Die Gesetze des Ghettos befinden sich in ständigem Wandel. Strenger. Weniger streng. Kein Handel am Zaun. Dieser Bereich für Arbeiter. Dieser Bereich für Leute, die nicht arbeiten. Geh, wo auch immer du hinwillst. Geh dorthin, und wir töten dich. Und heute drücken wir vielleicht ein Auge zu, wenn du am Zaun Handel treibst. Es ist schwierig, herauszufinden, woran man ist. Gerade heißt es: schwere Bewachung am Tor, kein Überqueren der Brücke. Aber bist du erst einmal drinnen, achten wir nicht mehr auf dich.

Aber ich bin ohnehin vorsichtig. Ich habe mir die Haare zerzaust, das Gesicht mit Schmutz eingerieben, meine Handtasche versteckt und ich habe eine echte Armbinde am Mantel anstelle der falschen, die nur einem flüchtigen Blick standhält. Max hat mich letzte Nacht angefleht, nicht zu gehen, und ich verstehe, warum. Wenn mir etwas passiert, sind sie alle tot. Aber ich glaube, ich muss mir Frau Bessermann ansehen.

Es könnte eine Falle sein. Aber ich wüsste nicht, was dafür spräche.

Ich gehe an die Stelle, die wir immer benutzt haben, wo Max immer wieder den Stacheldraht gelockert hat. Er ist noch lose. Und von dort ist es nicht mehr weit bis zur Kopernika. Ich schlüpfe unauffällig in die Nummer 5, gehe im Korridor bis ganz nach hinten, wo ein gemauerter Schornstein vom Erdgeschoss nach oben führt und die verschiedenen Räume beheizt. Neben dem Schornstein führt eine Tür in eine kleine Abstellkammer unter der Treppe. Nur, dass es eigentlich keine Abstellkammer ist. Die Rückwand ist unecht. Wenn man ein Brett zur Seite schiebt und sich hindurchzwängt, findet man eine Tür, die in den Keller führt.

Max hat es schlau angestellt, als er das gebaut hat. Er ist einfach schlau.

Ich gehe die Stufen hinab, und unten brennt schon ein Licht. Henek und eine Frau mit glänzendem schwarzen Haar sitzen auf Kisten zu beiden Seiten der Laterne. Genau wie ich sie in meiner Nachricht gebeten habe. Aber ich hatte nicht damit gerechnet, wie sehr ich diesen Ort verabscheuen würde. Es ist dunkel, nasskalt, und der Geruch gefällt mir überhaupt nicht.

Vielleicht liegt es auch daran, dass ich an Max denke – wie ihm Tränen über sein verschorftes Gesicht rannen, als er mir erzählt hat, was hier geschehen ist.

Henek steht auf und küsst mich auf die Wange, aber er lächelt nicht. Ich setze mich, genau wie er, und wir wenden uns Frau Bessermann zu.

Sie ist eine schöne Frau Ende dreißig oder Anfang vierzig. Viel zu jung für den alten Herrn Hirsch. Ich frage mich, was er ihr versprochen hat. Oder was sie ihm versprochen hat. Mit gefasster Miene sitzt sie da. Vollkommen gerade.

»Frau Bessermann, warum haben Sie sich, anstatt mich einfach um Hilfe zu bitten, entschlossen, mein Leben, das von fünf weiteren Personen und das meiner siebenjährigen Schwester zu gefährden?«

»Und wenn eine Fremde sie höflich gebeten hätte, Fräulein Podgórska, hätten Sie natürlich geholfen.« Ihre Stimme trieft vor Sarkasmus.

»Genau das haben die anderen getan, Frau Bessermann.«

Sie presst die Lippen aufeinander. Ich warte. Sie faltet ihre Hände und löst sie wieder voneinander. Irgendwo tropft Wasser. Ihr Rücken wird noch gerader. Sie wirkt elegant, auch hier auf einer Kiste in einem dreckigen Keller sitzend, in dem Menschen gestorben sind. »Dann bitte ich Sie, Fräulein Podgórska. Ich flehe Sie an um Hilfe. Für mich und meine beiden Kinder.«

Henek hebt die Augenbrauen. Ich blicke auf meine Hände.

»Ich habe in meinem kleinen Haus schon sieben Menschen zu versorgen. Wenn Henek und Danuta kommen, sind wir zu neunt.« Ich höre ihren Atem in der Dunkelheit. »Da machen drei mehr keinen großen Unterschied.«

Reglos sitzt sie da, während sie die Bedeutung meiner Worte zu fassen versucht. Dann fällt ihre gefasste Miene in sich zusammen und sie fängt an zu weinen.

Wir schweigen und lauschen ihren Schluchzern.

Wer sonst ist da, denke ich, außer mir?

Henek nimmt mich beiseite, bevor ich den Keller verlasse, und wirft Frau Bessermann hinter uns einen Blick zu. »Bist du dir sicher, Fusia?«

»Trauer kann grausam machen«, flüstere ich und denke an meine Babcia. Henek schüttelt den Kopf.

»Es ist ein Fehler«, sagt er.

»Das glaube ich nicht.«

»Aber bist du dir wirklich sicher? Ein Fehler kann dich das Leben kosten. Und das meines Bruders.«

Ich mustere Henek. Es ist das erste Mal, dass er vor mir zugibt, dass er in Gefahr schwebt. Er ist dünn, natürlich, wie alle hier. Aber er wirkt stark, trotz des Typhus. Er hat sich den Schnurrbart gestutzt.

»Wann kommst du mit Danuta?«

»Wir sind noch nicht so weit. Wir arbeiten beide. Es ist in Ordnung.«

Das ist der Henek, den ich kenne.

»Ihr solltet bald kommen. Der Judenrat meinte, dass es bald sein muss.« Ich bemerke seine Verwirrung, aber wir haben keine Zeit für Erklärungen, und das weiß auch er.

»Uns bleibt noch genug Zeit, um in deinem Bunker zu hocken, Fusia. Wenn Gefahr droht, wissen es die Menschen im Ghetto als Erste.«

»Aber ihr kommt bald?«, frage ich wieder.

»Bald«, antwortet er.

»Das ist ein Fehler«, flüstert Max, als ich es ihm erzähle. »Ich glaube nicht, dass man ihr trauen kann.«

»Sie sagt, sie sei diejenige, die einen Fehler gemacht hat. Sie wusste nicht, was sie sonst tun sollte. Ich glaube, sie ist einfach verzweifelt. Sie hat immerhin zwei Kinder.«

»Oh, Fusia.« Er seufzt.

Ich reiche ihm eine Scheibe Brot, und als er meint, ich sehe nicht hin, bricht er eine Ecke ab und krümelt sie für die Hühner auf den Boden. Ich boxe ihn gegen die Schulter, und Dr. Hirsch lehnt sich auf dem Sofa zurück, raucht und betrachtet uns.

Am nächsten Tag nach der Arbeit gehe ich auf den kleinen Markt an den Gleisen, am Fischplatz, wo Cesia Bessermann, fünfzehn Jahre alt, und ihr kleiner Bruder Janek, zehn, am Kartoffelstand auf eine junge Dame mit einem hellroten Schal warten. Sie folgen mir zur Tatarska Nummer 3.

Und ich weiß, dass es mein Fehler ist.

Zwei Tage später ruft Max mich zum Fenster mit dem Vorhang, und ich schlage mir die Hände vor den Mund, um mein erschrockenes Keuchen zu dämpfen. Frau Bessermann steht im Hof, hübsch gekleidet mit einer Tasche im Arm, und unterhält sich angeregt mit Frau Krajewska.

»Sie sollte nicht vor nächster Woche kommen!«, flüstere ich.

Max schüttelt den Kopf, als Frau Krajewska sich verabschiedet und Frau Bessermann vorsichtig durch den Schlamm zu meiner Tür trippelt.

Er muss es nicht aussprechen. Ich glaube, es war ein Fehler.

Zwei Wochen später schütte ich Wasser aus dem Eimer in einen Topf, um es zum Geschirrspülen zu erhitzen, als Dr. Schillinger von seiner Wache am Fenster in die Küche kommt. »Leute im Hof«, flüstert er.

Niemand sagt ein Wort. In absoluter Stille schleichen sie zum Bunker. Das klappt so gut, weil keiner Schuhe tragen darf und Max sie hundertmal hat üben lassen. Jede Person ist für ihre Habseligkeiten verantwortlich. Keine Zigarettenstummel, keine Jacken oder Kämme – insbesondere für Herren – dürfen zurückgelassen werden. Wer gerade isst, nimmt das Essen mit. Max hebt die Dielen weg, und in der für heute vereinbarten Reihenfolge klettern erst die Kinder – Cesia, Janek und Dziusia – und dann Schillinger, Hirsch und Max in den Bunker. Als die Dielen wieder an Ort und Stelle liegen, rutscht Frau Bessermann unter das Bett, während Siunek unter das neue kriecht, das ich vor fünf Tagen einem Schrotthändler abgekauft habe. Es ist ziemlich eng da unten. Ich gehe sicher, dass das Essen fort ist, Helena überprüft die Zimmer nach übersehenen Gegenständen, und meine Leute sind in weniger als einer Minute verschwunden.

Ich konnte noch nicht einmal nachsehen, wer an der Tür ist. Es klopft und eine tiefe Stimme ertönt auf der anderen Seite.

»Fräulein Podgórska!«

Die Stimme ist verstellt.

»Haben Sie Männerbesuch?«

Ich öffne die Tür einen Spalt breit.

»Überraschung!«, ruft Januka. »Wir haben dich gefunden! Und heute ist dein freier Tag!« Sie hält eine Flasche Wodka und eine Zigarettenschachtel in die Luft. Die Extraration, die wir für die Arbeit in der Fabrik erhalten.

»Stefi! Willst du uns nicht reinlassen?«, fragt sie.

Ich mache auf, und da stehen noch Lubek und drei Mädchen, die ich nicht kenne, aber schon in der Fabrik gesehen habe, und zwei Pärchen, die mir vollkommen fremd sind. Sie strömen in mein kleines Wohnzimmer und die Küche.

»Was … macht ihr hier?«, frage ich.

»Wir treffen uns sonntags immer, wenn die Rationen ausgegeben wurden, das weißt du doch!«

Jemand kurbelt an einem Koffergrammophon, das plötzlich auf meinem halben Küchentisch neben einem Teller Kekse steht.

»Aber wie habt ihr …«

»Wir wollten zu Anna …«, sagt Lubek.

Ich weiß nicht, wer Anna sein soll.

»… und Januka hat dich am Brunnen entdeckt.«

»Ist das aber süß«, sagt Januka und steckt ihren Kopf ins Schlafzimmer. »Was für hübsche Vorhänge!«

Ich weiß, dass meine Leute gut versteckt sind, aber ich will trotzdem zu ihr rennen und die Tür zuknallen.

Januka ist in Hochstimmung. Ein bisschen beschwipst. Ich schätze, der Wodka ist schon auf.

»Ahhh!«, quiekt sie. »Seht mal her! Hühner!«

Es gibt viel Geschrei um meine kleine Diele voller Hühner. Als würde ich zum Spaß Hühner als Haustiere halten. Auch wenn Helena das glaubt. Ich sehe mich um und entdecke meine kleine Schwester in einer Ecke, zitternd und mit aufgerissenen Augen.

»Ist das deine Schwester«, fragt eine Fremde. Ihre Lippen sind rubinrot.

»Hela«, sage ich und strecke meine Hand nach ihr aus. Sie kommt zu mir und ich gehe in die Hocke, um ihr ins Ohr zu flüstern. Eine Schallplatte wird aufgelegt und ich muss lauter sprechen.

»Warum gehst du nicht raus zum Spielen? Du musst nicht hierbleiben …« Falls etwas schiefgeht. »Nur bis ich sie losgeworden bin.«

»Schickst du sie weg?«, flüstert sie, ihr Blick huscht zum Schlafzimmer.

»Ja. Aber das dauert ein paar Minuten. In Ordnung?«

Sie nickt, als ich mich wieder aufrichte, und flitzt wie ein geölter Blitz davon.

»Ist sie schüchtern?«

Ich blicke auf, und da steht Lubek mit seiner Zigarette.

»Ziemlich«, meine ich und lasse es dabei bewenden. Aber die Art, wie er uns beobachtet hat, gefällt mir nicht.

Die Pärchen legen eine neue Schallplatte auf und tanzen vor dem Sofa. Januka reicht mir eines meiner eigenen Gläser, bis zum Rand voll mit Wodka.

»Wenn das mal keine schöne Überraschung ist!«, sagt sie. »Es muss toll sein, allein zu leben. Ohne Eltern!«

Ja, toll. Wenn alle Verantwortung allein auf deinen Schultern lastet.

Sie hat ja keinen blassen Schimmer.

Wenn ich Januka wäre, mit einer Arbeit, etwas Geld, ohne eine Schwester, aber mit einer eigenen Wohnung, dann wäre das vielleicht eine schöne Überraschung. Ich würde am Wodka nippen, Kekse backen, die Zigaretten weiterreichen und tanzen, wenn ein Junge mich auffordert.

Aber ich bin nicht Januka.

Ich muss mir überlegen, wie ich sie alle rausschaffe.

Ich greife mir die Wodkaflasche, gehe damit zur Spüle und schütte den Inhalt meines Glases zurück. Ich hasse es, Rationen zu verschwenden. Meine verkaufe ich immer.

»Du trinkst also auch keinen Wodka?«, fragt Lubek.

Du musst unbedingt Januka suchen, denke ich, während ich das leere Glas abspüle.

»Wie lange wohnst du schon hier?«, will er wissen.

»Ein paar Wochen.«

»Eine gute Gegend. Aber die Nachbarschaft könnte besser sein.«

Ich blicke auf. Lubek ist sehr groß. »Wie meinst du das?«

»Der SS-Mann, den ich ins Vorderhaus habe gehen sehen. Den hätte ich nicht gern als Nachbarn.«

Ein SS-Mann. In Frau Krajewskas Haus. Was will er da?

»Ist er gerade dort?«

»Ja.«

Hinter meinem linken Auge blitzt ein so scharfer Schmerz auf, dass ich zusammenzucke.

»Ich war im Ghetto«, sagt Lubek. »Mit meinem Onkel. Er wollte heiraten, und da war ein Goldschmied, den er kannte. Er dachte, er könnte ihm trotzdem einen Ring machen. Du würdest nicht glauben, was die SS dort anstellt.«

Würde ich doch.

Da ist ein SS-Mann nebenan. Ein SS-Mann nebenan …

»Ich habe gehört, das Ghetto soll verschwinden.«

»Wo hast du das gehört?«

»Das hat die Polizei gesagt. Am Zaun.«

»Komplett verschwinden?«

»Keiner soll übrigbleiben. Judenfrei. Sie behaupten, sie siedeln die Juden um, aber das glaube ich nicht.«

»Was, glaubst du, tun sie dann?«

»Die Tore versperren und es niederbrennen. Das sind solche Scheißkerle.«

Ich schüttle den Kopf. »Nein. Kein Feuer. Sie werden sie erschießen. Jeden Einzelnen.«

Henek. Danuta. Ihr müsst da raus.

»Auf jeden Fall bringen sie sie um«, meint Lubek. »Und dann sind wir dran.« Er runzelt die Stirn. Nachdenklich. Und dann sagt er: »Ich glaube, das Glas ist sauber.«

Ich sehe nach unten. Ich spüle immer noch das Glas.

»Warum zeigst du mir nicht den Rest vom Haus?«, fragt er.

»Es gibt nichts weiter zu sehen. Nur Schlafzimmer.«

»Dann zeig mir doch die.«

Fast lächle ich. Nein, Lubek, du musst weder mein Schlafzimmer sehen noch, was dort versteckt ist. Und auch nicht das andere, das wir als Toilette benutzen.

Es ist wirklich eine Schande, dass ich nicht sagen kann, was ich denke.

Ich begnüge mich mit: »Jungs dürfen nicht in mein Schlafzimmer.«

»Wirklich?« Jetzt grinst er. »Und was ist mit denen?«

Ich drehe mich um und sehe, wie eines der Pärchen in das Nebenzimmer tanzt, das Grammophon nehmen sie mit.

»Wartet«, rufe ich. »Wartet. Ihr könnte da nicht rein …«

Ich renne ins Schlafzimmer. Die Musik ist so laut, dass sie mir in den Ohren schmerzt. Ein Pärchen tanzt auf der freien Fläche, das andere sitzt auf dem Bett über dem Bunker und knutscht. Da ertönt ein Geräusch unter dem Bett, eine Art gedämpftes Grunzen, dann ein dumpfer Schlag. Als ob Holz gegen Holz prallt.

Was passiert da unten?

Mein Brustkorb schnürt sich zusammen, bis er nur noch ein kleiner, pochender Ball ist.

»Stefi!«, sagt das Mädchen auf dem Bett und löst sich von seinem Freund. Ich habe keine Ahnung, wer sie ist. Noch einmal ist der dumpfe Schlag auf Holz zu hören. »Was war das? Hast du da eine Katze unter dem Bett? Ich liebe Katzen.«

Sie windet sich aus der Umarmung ihres Freunds und geht vor dem Bett auf die Knie. »Miez, miez …«

»Stopp!«, schreie ich. »Schau da nicht drunter!«

Das tanzende Paar hält inne, das Mädchen und ihr Freund starren mich an. Ich weiß nicht, wo Januka und die anderen Mädchen sind, aber ich spüre Lubeks Blick in meinem Rücken. Ich hocke mich neben das Mädchen, damit ich sie packen kann, wenn es sein muss. Alle Augen im Raum sind auf mich gerichtet.

»Der Kater ist richtig fies«, sage ich. »Er zerkratzt dir das Gesicht.«

»Oh!« Das Mädchen hebt eine Hand an ihre Wange.

»Lass mich mal sehen …«

Ich spähe unter das Bett und erhasche einen Blick auf Frau Bessermanns zerzaustes Haar und ihre angsterfüllten Augen. Und ich glaube, unter den Dielenbrettern hustet jemand.

»Ja, es ist nur der Kater. Aber er faucht. Am besten lassen wir ihn in Ruhe …«

»Fräulein Podgórska! Was ist hier los?«

Ich richte mich auf, und da steht schon Frau Krajewska in meinem Schlafzimmer. Direkt hinter ihr steht Januka und formt mit den Lippen das Wort »Entschuldigung«. Wahrscheinlich hat sie meine Nachbarin reingelassen.

Warum nur ist jeder, den ich kenne, in diesem Raum?

»Wissen Sie, wie laut es hier drinnen ist?«, schreit Frau Krajewska über die Musik hinweg. »Wir haben Sonntagnachmittag!« Sie hält ihren Rosenkranz in der geballten Faust an der Hüfte ihres gemusterten Kleids, und das scheint die Feiernden zu beeindrucken. Die Nadel wird von der Schallplatte gehoben, aber ich wünschte, das wäre nicht geschehen. Dröhnende Stille fällt über den Raum, und unter den Dielenbrettern hustet jemand leise.

»Es tut mir leid, Frau Krajewska«, sage ich laut, und helfe dabei dem Mädchen neben mir auf die Beine. »Das kommt nicht wieder vor. Zeit zu gehen, Leute!«

»Also, ich …«

Ich glaube, Frau Krajewska wollte nur, dass meine Freunde leiser sind, nicht dass sie gehen. Aber damit lasse ich sie nicht davonkommen.

»Nein, wirklich, Frau Krajewska. Ich weiß, das war gegen die Regeln. Entschuldigen Sie.«

Frau Krajewska wirkt zufrieden, ein wenig verwirrt und erleichtert, als die Leute ihre Getränke und das Grammophon einsammeln. Ich bugsiere sie in die Küche und werfe die Tür zum Schlafzimmer zu. Ein paar Minuten später sind die Teller, Flaschen und Handtaschen zusammengesucht, und die Gruppe entschwindet einer nach dem anderen durch die Tür.

»Tschüss, Stefi!«, sagt Januka traurig und winkt mir zum Abschied. Lubek grinst mich kurz an und schließt die Tür hinter sich. Frau Krajewska sieht sich um.

»Sie haben sich wirklich hübsch eingerichtet, Fräulein Podgórska. Aber Sie wissen doch, dass ich nichts dagegen habe, wenn Sie Freunde einladen …«

»Dieses Mal haben sie sich selbst eingeladen. Und es wurde wirklich Zeit, dass sie gehen.«

Frau Krajewska lächelt. »Sie sind ein so vernünftiges Mädchen. Haben Sie Tee?« Frau Krajewska setzt sich. Ich stelle den Wassertopf zurück auf den Herd und finde zwei saubere Tassen. Schon wieder pocht der Schmerz hinter meinem Auge.

»Ich sorge mich um Sie, wissen Sie«, sagt Frau Krajewska. »Ein junges Mädchen mit seiner Schwester. Ganz allein. Und dass sie an diesem einen Tag nicht zur Arbeit erschienen sind …«

»Wir sind nur mit den Schichten durcheinandergekommen«, erkläre ich. »Alles ist wieder ausgebügelt.«

»Ich fand Ihren Vorgesetzten sehr unfreundlich. Wie hieß er noch gleich?«

»Er hat die Stelle verloren«, erwidere ich, anstatt zu antworten. »Zu jähzornig.«

Frau Krajewska nickt. »Das überrascht mich nicht, so wie er sich aufgeführt hat. Wie geht es Ihrer Mutter.«

»Was?«, frage ich.

»Der Brief von Ihrer Mutter. Wie geht es ihr?«

Frau Bessermann hat Frau Krajewska erzählt, sie wäre eine Freundin meiner Mutter und brächte einen Brief von ihr, weil sie meine neue Adresse noch nicht hat.

»Es geht ihr gut. Sie ist noch in Salzburg, aber sie hat dort eine meiner Schwestern getroffen.«

Das Lügen fällt mir immer leichter.

Aber womöglich fiel es mir schon immer leicht?

Ich gieße dampfendes Wasser in die Teekanne. Aus dem Schlafzimmer ist ein Knall zu hören, so als wäre eines der Dielenbretter in den Bunker gefallen oder angehoben und fallengelassen worden. Frau Krajewskas Blick schnellt zur Tür.

»Der Kater ist da drin«, sage ich.

Sie wendet ihre Aufmerksamkeit dem Tee zu, hebt den Deckel der Kanne an und überprüft die Farbe. Mein Auge schmerzt so schlimm, dass ich es reiben muss. Dann fällt mir etwas ein. »Haben Sie zur Zeit einen Hausgast, Frau Krajewska?«

»Ja, das wollte ich Ihnen ja noch erzählen! Mein Neffe ist da, der Sohn der Schwester meines ersten Mannes. Er ist beim Militär, wie Sie bestimmt bemerkt haben.«

»Deutsche Armee.«

»Ja, aber ein guter Junge!«, sagt Frau Krajewska in ebenjenem Ton, den sie auch angeschlagen hatte, um mich gegen Dr. Schillinger zu verteidigen. »Ganz gewiss nicht wie die anderen SS-Leute.«

»Natürlich nicht«, erwidere ich und schenke ihr Tee ein.

Nebenan wohnt die SS. Nebenan wohnt die SS …

»Wie lange bleibt er bei Ihnen?«

»Weiß ich noch nicht.« Sie hält kurz inne. »Er ist ein hübscher Bursche.«

»Das ist er ganz bestimmt.«

»Also, wenn Sie möchten, dass ich Sie ihm vorstelle, könnte ich das machen. Ein Ehemann wäre Ihnen eine große Hilfe.«

»Danke sehr. Aber ich glaube, Kriegszeiten sind zu unsicher für Ehemänner. Oder Freunde. Ich werde warten, bis die Lage sich beruhigt hat.«

»So vernünftig. Aber warten Sie nicht zu lange! Eines Tages sind Sie zu alt und haben alle Chancen verpasst.«

Ich denke dran, Frau Krajewska. Müssen Sie jetzt nicht einen Rosenkranz beten?

Ich muss mir auf die Zunge beißen, damit mir die Worte nicht aus dem Mund schlüpfen.

Sie nippt an ihrem Tee. Meinen schütte ich runter. Ich glaube, ich höre Husten aus dem Untergrund, aber Frau Krajewska ist zu sehr mit Reden beschäftigt.

»Da ist allerdings etwas, worüber ich mit Ihnen sprechen wollte, Fräulein Podgórska. Etwas, das mir aufgefallen ist. Das mich schon eine ganze Weile beschäftigt.«

Der Schmerz hinter meinem linken Auge dehnt sich auf meine ganze Stirn aus.

Vielleicht ist heute der Tag der Tage. Wenn mir nicht Januka, die SS oder Frau Krajewska den Rest geben, dann explodiert einfach mein Kopf.

»Was mir Sorgen macht, ist, dass ich Sie nicht bei der Messe gesehen habe.«

Ich leere meine Tasse. Sie trinkt langsam und lauscht meiner Erklärung, dass ich zweimal die Woche in der Kathedrale am Na-Bramie-Platz bete. Wenn sie wüsste, wie oft ich tatsächlich bete – wie oft allein in den letzten fünf Minuten –, wäre sie wohl überrascht.

Dann erklärt sie, dass sie sich der Katze wegen um meine Hühner sorgt. Und um Helena, weil sie so viel allein ist und nicht mit ihren Jungs spielen will. Aber wer könnte Helena deswegen Vorwürfe machen, denn Frau Krajewskas fünf und sieben Jahre alte Söhne sind echte Blagen. Und so allein, wie Frau Krajewska denkt, ist Helena gar nicht. Während sie die restliche halbe Tasse Tee austrinkt, erklärt sie mir, was ich mit meinem Haus, meinem Geld, meiner Religion, meinem zukünftigen Mann und allem anderen tun und lassen solle. Irgendwann höre ich einfach nicht mehr zu.

Solange sie redet, höre ich den Lärm aus dem Untergrund nicht, also lasse ich sie fortfahren.

Schließlich gehen Frau Krajewska die Ratschläge aus und sie verabschiedet sich. Ich sperre hinter ihr ab und eile zum Fenster, um sicherzugehen, dass sie auch zu Hause ankommt. Dann erst flüstere ich: »Sie ist weg.«

Siunek und Frau Bessermann krabbeln unter den Betten hervor. Frau Bessermann ist aufgelöst. Sie reißt die Dielen weg, als Max sie anhebt.

»Cesia! Janek!«

Aber es ist der alte Dr. Hirsch, der als Erster aus dem Loch kommt. Er ist schmutzig und pitschnass geschwitzt – fast als wäre er in einen Teich gefallen –, und er ist kreidebleich. Er spuckt ein Taschentuch auf den Boden – das ihm wohl in den Mund gesteckt wurde, um ihn ruhigzustellen – und dann, immer noch auf dem Bauch liegend, hustet er sich die Seele aus dem Leib. Ich bringe ihm Wasser, während Max die Bodendielen richtet und Frau Bessermann Cesia die Erde aus den Haaren streicht. Dziusia und Janek sehen aus, als wollten sie aufeinander losgehen und Siunek und Dr. Schillinger knien neben Hirsch und versuchen, ihm zu helfen.

»Bringt ihn ins andere Schlafzimmer«, flüstere ich. »Schnell!« Frau Krajewska und ihr SS-Neffe werden nicht glauben, dass ich so huste. »Und wer hält am Fenster Wache?«

Sie setzen sich in Bewegung, allerdings sehr langsam. Ich brauche Max. Aber er ist nicht da.

»Hört mal!« Ich deute mit dem Finger und bringe die Worte kaum heraus. »Da ist ein SS-Mann auf der anderen Seite der Wand!«

Jetzt sind sie plötzlich ganz aufmerksam. Dr. Hirsch wird ins Nebenzimmer geschleift. Cesia geht ans Fenster. Und Frau Bessermann setzt dem Gezanke von Janek und Dziusia ein Ende. Und als ich in die Küche komme, sind überall Hühner. Jemand hat die Tür zur Diele aufgelassen, da die Diele aber leer ist, muss er auf dem Dachboden sein.

Ich klettere die Leiter hoch. Oben steht Max im dämmrigen Licht, dass durch die verstaubten Fenster fällt, und betrachtet mit verschränkten Armen den Dachboden. Hier oben müssen wir sehr leise sein, denn Frau Krajewska hat Zimmer im ersten Stock, und die Wände sind hier noch dünner als im Erdgeschoss. Ich stelle mich neben ihn.

»So funktioniert das nicht«, flüstert er.

Das weiß ich auch.

»Wir sind jetzt schon zu viele für den Bunker, und ich glaube nicht, dass ich ihn noch größer machen kann, ohne das Haus zu unterhöhlen oder im Keller zu landen.«

Der Frau Krajewska gehört.

»Und was machen wir, wenn Henek und Danuta kommen?«

»Mehr Betten?«, schlage ich vor.

Er lächelt. Dann zuckt seine Augenbraue und er sagt: »Oh, Fusia. Der Kater.«

»Er zerkratzt dir das Gesicht.«

Wir lachen so leise wir können. Obwohl es nicht lustig ist. Wahrscheinlich sind wir nur erleichtert, dass wir noch leben.

Wir sind dem Tod nur ganz knapp entronnen.

»Hast du die Sache mit dem SS-Mann mitbekommen?«, frage ich.

»Größtenteils. Zwischen dem Husten. Mit dem willst du nicht auch noch ausgehen, oder?«

Ich schüttle den Kopf. An seiner hochgezogenen Augenbraue kann ich ablesen, dass er mich nur aufziehen will. Aber das Wörtchen »auch« stört mich. Ich schätze, er ist noch sauer wegen Wachtmeister Berdecki.

»Du musst vorsichtig sein. Mit Lubek.«

»Woher weißt du, wie er heißt?«

»Du wärst überrascht, was man im Untergrund so alles mitbekommt. Er hat viele Fragen gestellt.«

Aber ich bekomme nicht heraus, ob Max glaubt, dass Lubek an mir oder meinen illegalen Aktivitäten interessiert ist. Er läuft den Dachboden ab. Auf Socken. Dann kommt er wieder nah an mich heran. Damit wir reden können.

»Ich habe an eine Wand gedacht. Genau hier.« Er geht ein paar Schritte vor und zieht mit weiten Armbewegungen die Linie, die den langgezogenen, schmalen Dachboden stutzen würde.

»Wenn wir Holz besorgen könnten«, flüstert Max, »altes Holz, kein neues. Dann könnte ich genau hier eine zweite Wand einziehen und uns dahinter einen Raum schaffen. Es wäre eng, besonders wenn noch zwei dazukommen, aber besser, als sich unter die Erde zu quetschen. Du kannst dir nicht vorstellen, wie weh es tut, die richtige Position zu halten, wie kalt es ist. Die Kinder haben Angst, und dem alten Dr. Hirsch, und auch Schillinger, fällt es schwer, schnell genug unters Bett zu kommen. Mit einer Leiter täten sich alle leichter.«

Ich schiebe den Unterkiefer vor und versuche mir vorzustellen, was er meint. »Du schaffst das«, sage ich.

Er dreht sich zu mir um. »Bist du dir da sicher?«

»Deine falsche Wand in der Kopernika war wirklich gut.«

Jetzt runzelt er die Stirn. »Was hast du da unten gemacht?«

»Dort habe ich Henek und Frau Bessermann getroffen.«

»Ich wünschte, du wärst da nicht reingegangen«, sagt er.

»Ich weiß. Es tut mir leid.«

Wir beide starren die Wand an. Oder die imaginäre Wand, die Max erst bauen will.

»Hier wird es nicht passieren«, sage ich. Er weiß, dass ich vom Keller in der Kopernika spreche. »Das lassen wir nicht zu.«

Er nickt. »Ich finde schon einen Weg.«

Ich klopfe etwas Erde aus seinem verstrubbelten Haar.

Ich glaube ihm.