Über drei Wochen suche ich die Märkte ab, ohne Holz zu finden, das aussähe, als würde es in unseren Dachboden gehören. Dann, im Licht der aufgehenden Morgensonne, entdecke ich einen Mann, der einen Karren auf den Marktplatz zieht; darauf alte Holzplanken, so hoch gestapelt wie sein Kinn. Er habe ein Haus abgerissen, das beim Kampf um die Stadt zerstört wurde, erklärt er, das Holz sei noch in Ordnung, aber was wolle ich überhaupt mit einem Haufen altem Holz anfangen? Feuerholz, lüge ich und renne nach Hause in die Tatarska, um mein Geld zu holen und alle zu warnen, dass ein Mann das Holz im Hinterhof abladen wird.
Ich übergebe Helena die Verantwortung für alles Weitere, erkläre Frau Krajewska, dass mir jemand eine Ladung Feuerholz geschenkt hat, damit sie nicht auf die Idee kommt, ich hätte es gekauft, und als ich endlich den Hügel hinuntersause und die Brücke zur Minerwa-Fabrik überquere, bin ich zu spät. Aber Herr Braun hat es nicht mitbekommen, weil Lubek meine Maschinen angeworfen hat.
Januka, Lubek und ich verbringen jetzt fast jede Pause zusammen, aber wie die beiden nun zueinander stehen, ist mir unklar. Es gab keine weiteren Feiern. Sie scheinen verstanden zu haben, dass ich und die Hausmeisterin wenig für ungeladene Gäste übrighaben.
Frau Krajewskas Neffe heißt Ernst. Er ist SS-Mann und aus irgendeinem Grund von seinem Posten freigestellt. Und ich halte ihn für einen üblen Typen. Meistens bleibt er im Haus und trinkt, das glaube ich zumindest, denn immer, wenn ich ihn sehe, ist er betrunken. Aber dank ihm müssen meine acht versteckten Juden trotz der Hühner flüstern und auf Zehenspitzen gehen, und das trägt nicht zur guten Laune bei. Besonders bei den Kindern. Helena flüchtet so oft sie kann. Ich weiß nicht einmal, wohin. Und die Fensterwache wird alle drei Stunden ausgewechselt. Tag und Nacht.
Als ich am Abend nach Hause komme, hantiert Max mit ein paar Brettern im Wohnzimmer. Er hat Helena überredet, sie ihm ins Haus zu schleppen. Nun zieht er die rostigen Nägel aus dem Holz, um sie später wiederverwenden zu können, und behandelt die Bretter dabei wie zerbrechliches Glas, während er lautlos seine Wand plant. Als ich hereinkomme, lächelt er und fährt mit der Hand über das raue, verwitterte Holz.
»Es ist genau richtig«, flüstert er. »Genau was wir brauchen!«
Und weil er nicht viel mehr sagen kann, packt er mein Gesicht und drückt mir einen Kuss auf beide Wangen. Wie es ein Vater tun würde. Oder auch nicht. Frau Bessermann schnaubt, aber Max bemerkt sie gar nicht. Er ist einfach glücklich.
An meinem freien Tag drei Tage später gehe ich zu Frau Krajewska und frage nach einem Hammer. Ich erzähle ihr, dass ich all meine Decken und Leintücher waschen will und deswegen auf dem Dachboden eine Leine spannen möchte, damit sie nicht wieder schmutzig werden und vor Regen geschützt sind. Sie gibt mir nicht nur Hammer und Nägel, sondern auch ein Stück Leine, für den Fall, dass meine nicht reicht. Dann muss ich Wasser schleppen und tatsächlich alle Leintücher waschen. Helena scheucht die Hühner in den Hof, und einer der Krajewska-Jungen kommt raus, um sie zu jagen, während Max eine Menschenkette zusammenstellt, um die Bretter die Leiter hoch auf den Dachboden zu schaffen.
Er ist vorsichtig und hämmert so wenig wie nur möglich, und als er fertig ist, kann ich die neue Wand nicht von den alten unterscheiden. Nicht, bis er zwei vertikale Bretter zur Seite schiebt und mir den Raum dahinter zeigt. Er hat sogar eine Wäscheleine aufgehängt.
»Ich bringe noch ein wenig Zeug aus dem zweiten Schlafzimmer hoch«, erkläre ich ihm. »Damit es aussieht wie ein Lagerraum.«
»Wir bräuchten noch einen Eimer«, sagt er, »für den Fall, dass, du weißt schon …«
Ich blicke in den Raum hinter der Wand. Unter der Dachschräge, knapp über dem Boden, lassen zwei Fenster etwas Licht herein. Die meisten werden nicht aufrecht stehen können, es gibt keine Privatsphäre und unter der Sommersonne und dem Blechdach wird es höllisch heiß hier oben. Aber was macht das schon, wenn das eigene Leben auf dem Spiel steht?
»Wir brauchen auch etwas für die Fenster«, sagt Max. »Wusstest du, dass die Krajewska-Jungen auf das Dach klettern?«
Nein. Aber ich wette, Helena wusste es. »Haben sie dich gesehen?«
»Fast.«
»Ich kaufe Vorhänge.« Aber ich habe keine Ahnung, womit. Ich muss wohl wieder den Müll durchsuchen. Wir versorgen zehn Leute mit zwei Lebensmittelkarten, meinem Lohn und Hirschs Ersparnissen, und es reicht nicht annähernd. Frau Bessermann versteht nicht, warum ich kein besseres Brot kaufe. Dr. Hirsch will wissen, wo seine Zigaretten bleiben.
Ich traue mich nicht, ihm zu sagen, dass ich meine Ration an Zigaretten verkaufe.
»Hast du etwas von Henek oder Danuta gehört?«, fragt Max.
Ich schüttle den Kopf. Sie sollen ein leeres Blatt Papier unter einen Stein an der losen Stelle im Zaun legen, wenn sie bereit sind zu kommen. Als Zeichen, dass ich das Papier erhalten habe und bereit bin, sie aufzunehmen, soll ich eine Haarnadel an dieselbe Stelle legen.
»Er wird zu lange warten«, sagt Max. »Er ist der einzige Bruder, der mir geblieben ist. Und er wird zu lange warten.«
Im August überprüfe ich jeden Tag die Stelle am Zaun. Und ab August stattet Lubek mir Besuche ab. Oft.
»Fusias Liebhaber!«, flüstert derjenige, der gerade Wache am Fenster hält, und das gefällt mir überhaupt nicht. Dann müssen acht Menschen auf dem nun mit Vorhängen ausgestatteten Dachboden verschwinden, sich regungslos und in völliger Stille auf den Boden legen und elendig schwitzen, während Lubek an meinem halben Küchentisch sitzt, redet und Zigaretten raucht.
Das trägt nicht zur Eintracht im Haus bei.
Aber Lubek ist interessant. Sein Cousin liefert Fisch aus, der in ausländische Zeitungen gewickelt ist, und erzählt, dass sich die Deutschen im Krieg gegen Russland nicht gut schlagen. Dass die Briten mit Hilfe der Amerikaner den Kampf aufgenommen haben, obwohl die Amerikaner auch gegen Japan ins Feld ziehen. Deutschland kämpft an zwei riesigen Fronten.
Sie könnten verlieren, sagt Lubek. Vielleicht verlieren sie, bevor sie alle umbringen können, und Przemyśl wird wieder polnisch.
Lubek ist nachdenklich. Er sieht gut aus. Weniger wie ein Junge, als ich dachte. Ich habe ihn niemals wütend erlebt. Und nie ist er unfreundlich. Außer vielleicht Januka gegenüber, denn ich glaube, sie weiß nicht, dass er herkommt.
Lubek treibt Max zur Weißglut, und Frau Bessermann amüsiert sich darüber. Ich biete an, Lubek anderswo zu treffen, damit sie nicht alle auf dem Dachboden hocken müssen. Aber die Idee gefällt Max auch nicht. Und darüber amüsiert sich Frau Bessermann ebenfalls.
Es ärgert Frau Bessermann, dass Siunek Cesia so viel Aufmerksamkeit schenkt. Cesia ist fünfzehn, aber sie sieht älter aus, und es gibt wenig Platz. Dziusia zankt sich regelmäßig mit Janek, weil er sie schikaniert, und Dr. Schillinger starrt nur ins Leere, anstatt seine Tochter zu verteidigen, darum müssen Max oder ich das tun. Dr. Hirsch brütet nur vor sich hin und atmet den verbliebenen Rauch von Lubeks Zigaretten ein.
Ich mache Helena keinen Vorwurf, dass sie jeden Tag verschwindet. Es ist vermutlich sicherer für sie. Wahrscheinlich auch gesünder.
Aber ich mache mir Sorgen.
Nach einem Tag, an dem Dziusia auf dem Dachboden auf den Eimer musste und sich anschließend Janek vorgeknöpft hat, weil er sagte, er hätte geguckt, weswegen ich Lubek erklären musste, dass der Kater oben Ratten jagt, lege ich mich zu Helena ins Bett. Der Mond scheint hell, sein silbernes Licht flutet durch die Lücke im Lilienvorhang. Ich ziehe uns die Decke über die Köpfe, und Helena bettet ihren Kopf an meine Schulter. Sie riecht nach freier Natur und kleinem Mädchen. Ich flüstere: »Hela, was machst du, wenn ich arbeiten bin?«
»Die Hühner füttern, Wasser holen und den vollen Eimer nach draußen bringen. Das weißt du doch.«
»Ja. Aber was sonst?«
Sie überlegt. »Mit den Krajewska-Jungen raufen. Wenn sie mir kein Wasser geben wollen.«
Jetzt wünsche ich mir, ich könnte sie sehen. »Wie meinst du das?«
»Sie sagen immer, dass der Brunnen ihrer Mama gehört. Aber wenn ich kein Wasser hole, haben unsere Leute Durst, weil sie ja nicht selbst rauskönnen. Deswegen muss ich sie hauen. Die Jungen. Und manchmal versuchen sie, ins Haus zu kommen, dann muss ich sie auch hauen.«
»Verstehe.« Darüber muss ich mit Frau Krajewska sprechen. »Und wohin gehst du, wenn du alles erledigt hast?«
»An verschiedene Orte.«
»Und die wären?«
Sie überlegt wieder. »Es gibt ein verfallenes Steinhaus oben auf dem Hügel. Wie eine Burg. Da spiele ich manchmal. Und tue so, als wäre es ein richtiges Haus. Und ich gehe zum Kloster, weil die Nonnen manchmal Kekse haben, und in die Kathedrale …«
»Wirklich?«
Sie nickt. »Da riecht es gut.«
»Spielst du mit anderen Kindern? Jungen oder Mädchen?«
»Natürlich nicht!«
Es wäre schwierig, ein Geheimnis wie das ihre vor anderen Kindern zu verbergen. Dieses Geheimnis muss sie nicht nur ein, zwei Nächte lang bewahren. Nicht wie in der Mickiewicza Nummer 7.
»Manchmal«, sagt Helena, »spiele ich ein Spiel in meinem Kopf, da kommt Mama zurück und näht mir ein Kleid und die Feldarbeiter bringen jede Menge Essen nach Hause …«
Ich bin überrascht, dass Helena sich an die Männer erinnert, die auf unseren Feldern gearbeitet haben.
»… und tagsüber, wenn Mama arbeitet, gehe ich in die Schule, damit ich alle Wörter, die auf den Ladenschildern stehen, lesen kann. Viele kann ich lesen, aber nicht alle.«
»Ich könnte dir das Lesen beibringen, Hela.«
Nun kommt die Stimme von außerhalb des Betts. Ich ziehe die Decke weg, bringe unsere Haare ganz durcheinander, und da kippelt Max auf seinem Stuhl am Fenster.
»Möchtest du das?«, fragt er.
Helena strahlt übers ganze Gesicht, und als ich am nächsten Abend von der Arbeit komme, haben sie ihre braunen und schwarzen Schöpfe über einem zahnmedizinischen Lehrbuch zusammengesteckt. Der Inhalt ist Helena egal. Sie dürstet nur nach den Worten.
Ich habe gar nicht bemerkt, dass sie so einsam ist.
Dann rennt Cesia ins Zimmer und flüstert: »Fusias Liebhaber!«
Bedacht und leise sammeln alle ihre Habseligkeiten ein und verschwinden auf den Dachboden, ohne die Hühner aufzuschrecken. Ich überprüfe das Geschirr, und Helena seufzt, als Max das Buch wegpackt. Doch Max zögert. In letzter Sekunde schlüpft er nicht in die Diele, sondern ins Schlafzimmer.
Zum Bunker. Wo er hört, was ich mit Lubek rede.
Das ärgert mich.
Lubek klopft und will direkt eintreten. Das kann er aber nicht, weil abgeschlossen ist.
Es ist überhaupt nicht gut, dass er sich hier so wohl fühlt.
Ich mache auf, und Lubek grinst, scheucht ein pickendes Huhn von seinen Füßen und geht direkt zum Herd, um sich einen Tee zu machen.
Er redet vom Feuer, das in der Fabrik ausgebrochen ist, ein kleines Feuer, das die Maschinen zum Stillstand gebracht hat, aber nur kurz, und wie schlimm der Rauch war. Ich sage ihm, das sei lustig, wenn man bedenkt, wie viele Zigaretten er raucht. Er meint, das wäre etwas anderes.
Ich spüre förmlich, wie Max die Ohren spitzt.
Darum frage ich mit lauter Stimme: »Was hältst du vom Lauschen?«
Er hebt die Augenbrauen. »Vermutlich dasselbe wie du. Niemand mag es, wenn jemand seine Privatgespräche mit anhört. Wer hat dich … Warte. Wo ist dein Zucker?«
»Was? Oh, tut mir leid. Ist mir ausgegangen.«
»Aber vorgestern hattest du noch welchen. Ein halbes Kilo.«
Und Frau Bessermann und Cesia haben gebacken, und damit Max’ Zorn auf sich gezogen, denn was sollten wir Frau Krajewska oder dem widerlichen SS-Mann Ernst erzählen, wenn sie sehen, dass Rauch aus dem Kamin kommt? Wenn der Duft zu ihnen herüberweht? Dass Helena mal eben eine Ladung babka aus dem Ärmel schüttelt?
»Ich glaube nicht, dass das stimmt«, erwidere ich.
»Doch«, insistiert er. »Das stimmt.«
»Ich habe ihn gegessen«, ruft Helena vom Sofa. Ich drehe mich um und schaue sie an. Ich hatte ganz vergessen, dass sie da ist.
»Du hast ein halbes Kilo Zucker gegessen?«, fragt Lubek. »Hast du eine Ahnung, wie viel das kostet?« Meine Schwester setzt einen sturen Blick auf, und er schüttelt den Kopf mit den weizenblonden Haaren. »Du musst sie bestrafen, Stefi.«
Sag mir nicht, wie ich mit meiner Schwester umspringen soll, denke ich. Vor allem, weil sie einfach großartig ist.
»Warum bringst du nicht die Hühner raus?«, fahre ich Helena streng an. »Und darüber reden wir noch.«
Während sie die Hühner fängt, drehe ich Lubek den Rücken zu und puste ihr einen Kuss zu. Sie grinst und wirft eine Kusshand zurück, was aus Lubeks Perspektive ziemlich unverfroren wirken muss, dann rennt sie nach draußen.
»Ich hätte keine Lust, eine kleine Schwester aufzuziehen«, sagt er. »Was, glaubst du, isst sie sonst noch?«
Abgesehen von einem Happen Butter dann und wann, weiß ich nicht, was er meint.
»Du hast einen recht hohen Lebensmittelverbrauch. Jedes Mal, wenn ich hier bin, ist der Kascha-Sack leerer. So viel könnt ihr nicht essen. Was machst du mit dem ganzen Zeug?«
Lubek ist viel zu aufmerksam.
»Verkaufen«, sage ich. »Ich verkaufe es mit Gewinn. Damit ich meiner Mutter Geld schicken kann.«
Er nickt und zündet sich eine Zigarette an. »Das klingt nach dir.« Ein paar Minuten lang schweigt er, und ich hoffe, dass Max Krämpfe in den Beinen hat.
»Ich frage mich, was du dir so überlegst«, sagt Lubek plötzlich. »Was du nach dem Krieg tun willst. Hast du irgendwelche Pläne?«
Meine Familie finden. Abgesehen davon, habe ich keine Ahnung. Ich zucke mit den Schultern.
»Ich möchte, dass du dir das überlegst«, sagt er.
»Warum?«
»Weil ich will, dass wir gemeinsam überlegen. Ich will Pläne machen. Keine festen Pläne. Aber ich will welche machen. Mit dir.«
Und mehr hat er dazu nicht zu sagen. Er trinkt seinen Tee aus, erinnert mich daran, streng mit Helena zu sein, und überlässt mich meinen Gedanken.
Ich wünsche mir so sehr, dass Max von alledem nichts gehört hätte.
Ich glaube, Max geht es genauso. Als er mit Erde in den Haaren aus dem Bunker klettert, weicht er meinem Blick aus. Er sagt nur: »Wenn er weiterhin kommt, werden wir entdeckt.«
Das weiß ich. Aber als ich mich in dieser Nacht an Helena kuschle, frage ich mich, ob Lubek mein Geheimnis bewahren würde. Mir vielleicht sogar helfen würde. Dann erinnere ich mich an das, was Emilika über deutsche Spione gesagt hat. Das, was Lubek macht, wäre der perfekte Weg, um Juden aufzuspüren.
Am nächsten Tag nach der Arbeit meide ich ihn und unterhalte mich so lange mit Januka, bis er aufbricht. Sie begleitet mich über die Eisenbrücke, und für den Fall, dass Lubek mich noch besuchen will, gehe ich langsam, damit ich nicht da bin, um ihn hereinzulassen.
Helena wird ihm bestimmt nicht aufmachen.
Januka gegenüber erwähne ich von alledem nichts. Aber ich erzähle ihr, dass ich beim Kohlenhändler halten muss, um ein paar Kilo für den Herd zu kaufen. Sie meint, ihr Vorrat neige sich auch dem Ende zu, sie könne mich ja begleiten. Das ist kein großer Umweg für sie.
Wir kaufen jede fünf Kilo in Kordelzugbeuteln. Und dann beginnt Januka mit dem Kohlenhändler zu tändeln. Sie manipuliert ihn so geschickt, dass ich ganz beeindruckt bin. Und mich wegen Lubek nicht mehr so schlecht fühle. Dann fällt mir auf, dass der Kohlenhändler eine Uhr trägt.
»Ist es zwanzig nach acht?«
Januka legt den Kopf schräg, um einen Blick auf das rußverschmierte Handgelenk des Mannes zu werfen und sagt: »Oh!«
Die Ausgangssperre beginnt erst um neun, aber ich habe einen Fußmarsch von einer halben Stunde vor mir, und Januka sogar noch mehr. Wir müssen uns beeilen.
Fast wortlos rennen wir vom Kohlenplatz und hetzen den Gehweg entlang. Die Sonne ist bereits hinter den Hügeln verschwunden, die Dämmerung hereingebrochen, und die Straßen leeren sich. Das sichere Gefühl, in der Menschenmenge unterzugehen, ist fort. Wir legen noch einen Zahn zu, die Kohle wird immer schwerer, und dann erreichen wir die Kreuzung, an der Januka abbiegen muss, während die Tatarska-Straße geradeaus liegt. Wir bleiben stehen und verabschieden uns rasch, als zwei deutsche Soldaten die Straße überqueren, einer von ihnen hebt die Hand. In unsere Richtung.
»Halt! Wer ist da?«, ruft er auf Deutsch.
Januka und ich sehen einander an. Es ist noch nicht neun.
Der erste Soldat ist jung. Schätzungsweise nicht älter als ich, auf den Rücken hat er ein Maschinengewehr geschnallt, im Gürtel steckt eine Pistole. Er streckt eine Hand aus und fragt nach Janukas Papieren. Sie stellt die Kohle ab und kramt in ihrer Handtasche. Der andere Soldat kommt zu mir. Seine Haare sind dunkelbraun und er hat einen kleinen Schnauzbart. Wie Hitler. Ich reiche ihm meine Papiere.
Auf unsere Ausweise werfen sie nur einen kurzen Blick, dann plaudern sie miteinander. Polnisch scheinen sie nicht zu sprechen. Und sie geben uns die Papiere nicht zurück.
Die Uhr am Handgelenk des jüngeren Soldaten zeigt dreizehn Minuten vor neun. Ich warte, tippe mit der Fußspitze auf den Boden und starre auf die Lücke, wo einmal die Synagoge stand. Die Soldaten lachen über einen Witz, der nur für ihre Ohren bestimmt ist. Aber ich schnappe ein Wort auf, das ich kenne. »Neun.«
Sie wollen uns aufhalten, bis es neun Uhr ist. Damit sie uns festnehmen können.
Ich sehe Januka an und ihr Blick huscht zu mir.
Wir stecken in Schwierigkeiten.
Die deutschen Soldaten reden immer noch, und nun ganz offensichtlich über uns. Der jüngere streicht mit den Fingern durch Janukas Haar, und als ich sage, dass es fast neun Uhr ist, auf Wiedersehen, und ohne meine Papiere gehen will, schreit mich der mit dem Schnauzbart an und zieht mich am Arm zurück. Januka ist in Schockstarre verfallen. Und da läuten die Glocken der Kathedrale.
Der junge Soldat lacht, als sie uns die Papiere zurückgeben. Ich glaube schon, dass sie uns gehen lassen. Wir heben die Kohlen auf. Aber da packen sie je eine von uns am Arm und führen uns die Straße hinab. Zurück.
Wir stecken in großen Schwierigkeiten.
Meine Sinne schärfen sich bis zum Äußersten.
Ich kenne die Gegend. Wir gehen mitten auf der Straße, weil die Gehwege von Bombeneinschlägen durchlöchert sind. Am Ende der Straße steht ein deutsches Wohnheim, wo die deutschen Soldaten, die mit der Polizei zusammenarbeiten, untergebracht sind. Aber vor dem Wohnheim kommen Wohnblöcke. Auf der linken und rechten Straßenseite.
Mein Soldat scherzt nicht mehr. Er beachtet mich gar nicht, presst die Lippen aufeinander und starrt stur geradeaus. Sein Griff an meinem Arm ist schmerzhaft fest. Entschlossen. Janukas Soldat fingert schon wieder an ihren Haaren herum, vergräbt beim Gehen sein Gesicht in ihrem Nacken und schnuppert. Sie erschaudert, und mein Soldat bellt etwas, was wohl bedeutet, er solle aufhören.
Oder warten.
»Ich glaube nicht, dass sie Polnisch sprechen«, sage ich leise zu Januka. Wir warten beide auf eine Reaktion, aber abgesehen von einem Blick, kommt keine.
»Lächle« fordere ich sie auf. Und wir lächeln. »Lach«, sage ich, und wir tun auch das.
Nicht einmal die Nazis dürften das als echtes Lachen werten. Aber der Griff an meinem Arm ist nicht mehr ganz so fest.
»Da vorne kommen Wohnblöcke«, erkläre ich mit freundlicher Stimme. »Wohnblöcke mit Vorder- und Hintertür und einem schnurgeraden Korridor dazwischen. Verstehst du? Lach jetzt, Januka.«
Sie lacht und schüttelt dabei den Kopf.
»Wenn ich bis drei gezählt habe, schlagen wir sie mit den Kohlensäcken ins Gesicht. Ich renne nach rechts, du nach links, rein in das Gebäude und hinten wieder raus. Lauf wie der Teufel. Schaffst du das? Lach.«
Sie lacht. Laut. Und nickt. Ich lache mit ihr. Mein Soldat setzt eine blasierte Miene auf.
Januka muss jetzt ihr Möglichstes geben, sonst wird das nie klappen.
»So fest du kannst, ja?«
Sie nickt, lacht aber nicht mehr. Ihre Augen sind groß und voller Angst.
Ich mustere die Gebäude vor uns und versuche mich zu entscheiden. Zwei, die ich sehe, scheinen mir geeignet. Unsere Schritte hallen auf der menschenleeren, stillen Straße. Die Gebäude, die ich ausgewählt habe, kommen näher.
»Eins«, sage ich und lächle Januka an. Dann richte ich meinen Blick nach vorne. »Zwei. Und drei …«
Ich packe meinen Kohlensack mit beiden Händen, hole aus und lege mein ganzes Gewicht in den Schlag. Die Tasche trifft den Soldaten direkt auf den Schnauzbart, und er fällt rücklings auf die Pflastersteine. Einen Herzschlag lang stehe ich still, verblüfft, dass er tatsächlich umgefallen ist, da höre ich wie Januka »Lauf!« schreit.
Ihr Soldat lag vor meinem am Boden.
Ich renne. Wie ein Hase. Wie der Wind. Wie ich noch nie im Leben gerannt bin. Und mein geschärfter Verstand macht mich auf die Klinke an der Tür aufmerksam, noch bevor ich sie drücken muss. Ich werfe die Tür hinter mir zu, ohne mein Tempo zu drosseln. Rase den düsteren Korridor entlang zur nächsten Klinke. Die Tür fliegt auf und wieder zu, ohne dass ich eine Sekunde verloren hätte. Die Stufen hinunter in eine Gasse. Ich biege rechts ab, dann schnell wieder links. Und hoffe, dass ich in keine Sackgasse gerate. Und da knallen Schüsse auf der Straße. Pistolenschüsse. Jemand schreit etwas auf Deutsch.
Oh, Januka, denke ich. Bitte sei am Leben.
Aber ich darf nicht anhalten. Ich bleibe in den finsteren Seitengassen, schlage Haken, bis ich den Hügel zur Tatarska erklimmen muss. Jetzt kann ich mich nur noch im Schatten halten. Vielleicht ist jemand hinter mir her. Aber ich höre nichts.
Wenn mich jemand verfolgen würde, hätte ich schon eine Kugel im Kopf.
Ich sprinte durch den dunklen Hof zum Hinterhaus, und falls Frau Krajewska mich sieht, bin ich nicht mehr als ein verschwommener Fleck. Mit Fäusten schlage ich gegen die Tür, Max reißt sie auf, zieht mich nach drinnen und schließt ab. Er muss mich vom Fenster aus gesehen haben.
»Was ist los? Was ist passiert?«
Ich lehne mich gegen die Tür und keuche. Und keuche. Mir ist die Luft ausgegangen. Dafür haben wir Kohlen. Ich lasse den Beutel auf den Boden fallen.
»Dein junger Mann war da«, sagt Frau Bessermann.
»Bringt ihr Wasser«, befielt Schillinger, und Dzuisia läuft, um ein Glas zu holen. Siunek und Cesia kommen aus dem Nebenzimmer, und Dr. Hirsch betrachtet mich mit unverhohlener Neugierde vom Sofa aus. Helena sitzt zusammengekauert in einer Ecke. Ich strecke eine Hand nach ihr aus, sie kommt zu mir und schlingt ihre Arme um meine Taille.
Sie müssen furchtbare Angst gehabt haben, als ich um neun nicht zu Hause war.
Als ich wieder zu Atem komme, erzähle ich Max von den Soldaten und von Januka, die womöglich tot ist. Der Gedanke lässt mich erzittern. Und er treibt mir Tränen in die Augen.
Max knirscht mit den Zähnen, während ich spreche. Er reibt sich den Kopf. Dann schlägt er mit der Faust gegen die Haustür. Vor Schreck hüpft Helena in meinen Armen.
»In Ordnung«, sagt er. »Das reicht. Ich bringe dir bei, wie man boxt. Jetzt gleich.«
Ich finde es interessant, dass Max der Anführer der Versteckten geworden ist. Dr. Schillinger ist älter und war in der Zahnarztpraxis sein Chef. Hirsch ist noch älter als Schillinger. Frau Bessermann ist es als Mutter gewohnt, andere herumzukommandieren, und Siunek ist doppelt so schwer wie Max. Aber wenn eine Entscheidung gefällt werden soll, richten sich alle Blicke auf ihn. Wenn Max sagt, ich solle lernen, wie man einen Nazi vermöbelt – oder jeden anderen, der es verdient hat –, dann räumen sie einen Platz frei, und ich kann mich nur fügen.
Ein Kreis aus erwartungsvollen Gesichtern bildet sich um Max und mich, und sogar Helena sieht uns zu, die Schultern vor Anspannung hochgezogen. Abgesehen von der alltäglichen Gefahr, von Ernst, dem SS-Mann, entdeckt zu werden, ist das wohl das aufregendste Ereignis, seit zwei der Hühner von einem Hund gejagt wurden.
Helena hofft vielleicht auf ein paar nützliche Tipps für die Krajewska-Jungen.
Ich komme mir dämlich vor. Und ich bin müde. Und doch hellwach vom Rennen. Eine unangenehme Kombination. Dann stelle ich mir vor, was passiert wäre, wenn ich keine fünf Kilo Kohle dabeigehabt hätte, und beschließe, dass es vielleicht doch keine Zeitverschwendung ist. Vielleicht fühlt es sich sogar gut an, irgendetwas zu schlagen. Ich hebe die Fäuste.
»Die wichtigste Lektion ist«, flüstert Max, damit die Nachbarn ihn nicht hören, »dass die Defensive steht, bevor man in die Offensive geht.«
»Wo hast du gelernt zu boxen«, will ich wissen.
»Im Turnverein«, sagt er. »Sind dir meine Veilchen nicht aufgefallen? Jetzt musst du leichtfüßig sein, bereit auszuweichen …«
»Wenn du schon einen Treffer kassiert hast, kannst du keinen Treffer mehr landen, Mädchen«, sagt Dr. Hirsch. Er amüsiert sich prächtig.
»Los, Fusia«, sagt Max. »Spring.«
Ich springe. Oder mache einen kleinen Hüpfer. Ich komme mir schon wieder dämlich vor.
»Nein, verlagere dein Gewicht auf diesen Teil vom Fuß. So. Damit du beweglicher bist.«
Ich tue wie geheißen, und Max lässt mich üben, seinen Schlägen auszuweichen. Darin bin ich ziemlich gut. Helena klatscht. Ich glaube, Janek wäre es lieber, wenn Max mich trifft, aber Max versucht es gar nicht richtig. Dann zeigt er mir, wie man schlägt.
»Den Daumen dorthin« – er korrigiert meine Faust –, »und setz deinen ganzen Körper ein. Den Mund geschlossen halten. Und leg dein Gewicht in den Schlag …«
Ich weiß, was er meint. Wie mit dem Kohlensack. Ich hole aus, nutze mein Gewicht und treffe mit voller Wucht Max’ Nase.
Das wollte ich nicht. Ich hatte an die Kohlen gedacht.
Der Schock zeichnet sich auf seinem Gesicht ab. Und ich spüre den Schreck auf meinem. Helena hat sich die Hände vor den Mund geschlagen. Dann sagt Frau Besserman: »Gut gemacht!« Janek klatscht, und Dr. Hirsch bricht in Gelächter aus, ohne sich um den Lärm zu scheren, während Max sein Hemd vollblutet.
Ich stehe hinter Max, mit der einen Hand stütze ich seinen nach hinten geneigten Nacken, mit der anderen halte ich ihm ein feuchtes Tuch unter die Nase. So warte ich darauf, dass die Blutung stoppt. Und darauf, dass Siunek Erbarmen zeigt und aufhört, Max aufzuziehen. Aber Max nimmt es mit Humor. Größtenteils. Als Siunek genug hat, tupfe ich noch einmal Max’ Gesicht ab und setze mich zu ihm an den Tisch. Vorsichtig betastet er seine Nase. Sie ist geschwollen. Seine Augenbraue zuckt.
»Ich habe beschlossen, dass du keinen Unterricht brauchst.«
»Tut mir leid. Ich habe die Nerven verloren.«
»Das ist meine Strafe fürs Lauschen. Ich nehme sie an.«
Das erinnert uns an Lubek, und das Gespräch gerät ins Stocken.
»Magst du ihn, Fusia?«
»Ja.«
Max runzelt die Stirn.
»Als Freund«, füge ich hinzu.
»Das hast du aber nicht gesagt, als er dir einen Heiratsantrag gemacht hat.«
»Ich glaube nicht, dass er darauf hinauswollte …«
»Doch, genau das wollte er sagen.«
Ich will es nicht zugeben.
»Wenn es dir ernst ist, musst du dich entscheiden. Wenn er weiterhin kommt, musst du ihm von uns erzählen. Glaubst du, wir können ihm vertrauen?«
Ich weiß es nicht.
»Was willst du, Max?«
»Oh, Fusia«, seufzt er und befühlt seine Nase. »Es ist kein guter Augenblick, um mich zu fragen, was ich will. Ich glaube nicht, dass es dir gefallen würde. Nur … denk daran, was auf dem Spiel steht.«
Max braucht mich nicht daran zu erinnern, was auf dem Spiel steht. Trotzdem liege ich wach im Bett neben Helena, und denke darüber nach. Und ich bin immer noch wach, als Schillinger Frau Bessermann am Fenster ablöst.
Als ich am nächsten Morgen zur Arbeit gehe, sehe ich, wie ein Mann gehenkt wird. Auf dem Marktplatz, überwacht von der SS und deutschen Soldaten, und halb Przemyśl ist auf den Beinen, um ihn sterben zu sehen.
Er wurde gehenkt, weil er Juden versteckt hat.
Ich renne zur Fabrik. Und da kommt mir Januka auf der Eisenbrücke entgegen und umarmt mich. Sie haben auf sie geschossen, und sie ist so schnell gerannt, dass sie mit voller Wucht in die Rückwand des Gebäudes gelaufen ist, statt durch die Tür. Aber sie ist entkommen.
Sie sagt, sie wisse nicht, was wir tun sollten, wenn wir diesen Soldaten je wieder begegnen.
Ich habe die ganze Zeit das Bild vor Augen, wie die Beine des Hingerichteten im Wind schaukeln.
Und ich weiß, dass ich mein Geheimnis nie mit Lubek werde teilen können.
Ich kann mich kaum konzentrieren. An einer meiner Maschinen lasse ich die Wasserpumpe trockenlaufen. In dieser Woche schaffe ich an kaum einem Tag mein Soll.
Lubek verbringt seine Pausen mit mir auf der Eisenbrücke, und nichts scheint sich geändert zu haben. Abgesehen davon, dass er mich noch genauer beobachtet. Am Freitag, als Januka hineingegangen ist, fragt er: »Hast du darüber nachgedacht, was du nach dem Krieg tun willst?«
Ich beiße mir auf die Lippe. »Für mich ist es gerade nicht der richtige Augenblick, um Pläne zu machen.«
»Es gibt keinen falschen Augenblick zum Plänemachen. Außer man will nicht.«
»Lubek«, sage ich. »Ich will nicht. Nicht jetzt. Nicht mit dir.«
Er nickt und zündet sich eine Zigarette an. »Nimm dir die Zeit, die du brauchst«, meint er. »Ich habe meinen Entschluss gefasst. Und daran wird sich nichts mehr ändern.«
Plötzlich knallen in der Ferne Gewehrschüsse. Eine ganze Salve. Von dort, wo das Ghetto liegt. Wir starren in die Richtung. Zwischen dem Tuckern der Züge erheben sich Schreie und hallen in den Straßen wider. Drei Minuten später folgt die nächste Salve. Und dann noch eine.
»Du hattest recht«, sagt Lubek. Er lässt die Glut seiner Zigarette aufleuchten. »Sie erschießen sie.«
Wir lauschen den Salven, die in Abständen von drei Minuten abgefeuert werden.
Oh, Henek, denke ich. Es ist mir egal, ob du ein Dummkopf bist oder ein yutz. Ich will nicht, dass du stirbst. Danuta, warum hast du zugelassen, dass er so lange wartet? Warum hast du ihn nicht überredet zu kommen? Warum seid ihr nicht gekommen?
Es wird immer noch Salve um Salve abgefeuert, als unsere Pause vorüber ist und wir zurück in die Fabrik gehen. Der Lärm der Maschinen übertönt das Sterben.
Ich verberge meine Tränen vor Lubek.