Die Tatarska Nummer 3 ist voll. Wir müssen das zweite Schlafzimmer benutzen und mit einem Laken ein Stück Privatsphäre schaffen. Aber ein Eimer reicht nicht wirklich, und Helena muss ihn mehrmals am Tag leeren, nur um dem Geruch Herr zu werden. Es dauert länger von dort zum Dachboden, und es dauert auch länger, bis alle die Leiter hochgestiegen sind. Ich muss Frau Krajewska und ab und zu den Mädchen von der Arbeit sagen, dass sie warten sollen, wenn sie geklopft haben, dass ich mich noch anziehen muss, während dreizehn Leute ihre Sachen zusammensuchen, sich aufreihen und einer nach dem anderen die Leiter hochklettern. Und wenn mein Besucher jemand ist, den ich schon am selben Tag getroffen habe, muss ich mich tatsächlich umziehen, damit ich etwas anderes trage als zuletzt. Ich glaube, Frau Krajewska hält mich mittlerweile für eitel. Aber die größte Schwierigkeit ist, Ruhe zu bewahren, wenn dreizehn Personen die ganze Zeit streiten.
Monek Hirsch ist der Neffe des alten Dr. Hirsch, Siuneks Cousin, aber das heißt noch lange nicht, dass sie miteinander auskommen. Ich bezweifle, dass sie sich vor dem Krieg verstanden haben. Sala ist Moneks Frau, und sie und Danuta schließen sich gegen Frau Bessermann zusammen, während Frau Bessermann sich auf Janeks Seite gegen Dziusia schlägt. Jan Dorlich stimmt grundsätzlich mit Schillinger überein, dessen Post er vor dem Krieg ausgetragen hat, und Cesia hält sich an Siunek. Max verteidigt Henek bis aufs Blut, selbst wenn er unvernünftig ist. Es sei denn, er fängt – SS-Mann Ernst hin oder her – mit Siunek eine hitzige Diskussion darüber an, wie man die Karotten für eine Suppe richtig schneidet.
Helena rennt weg, wann immer sie kann.
Und dann ist da noch die Wäsche. Die Kleider und Decken einer jeden Person müssen einmal die Woche gewaschen werden, sonst nimmt der Streit über den Gestank, den wir ohnehin schon wegen des Eimers haben, überhand. Aber es ist schwer, genug Wasser heranzuschaffen, ohne Frau Krajewskas Aufmerksamkeit zu erregen, denn der Brunnen steht direkt vor ihrem Fenster. Wenn wir jeden Tag zwei Waschgänge machen, schlage ich vor, dann ist jeder, auch Helena und ich, einmal die Woche dran, sodass der Kreislauf von Neuem beginnen kann. Nach acht so verbrachten Tagen kommt Max am Abend nach der Arbeit zu mir.
»Dr. Hirsch hat versucht, Frau Bessermann mit dem Essensgeld zu bezahlen, damit sie seine Wäsche macht, und jetzt ist Frau Bessermann sauer, weil sie kein Geld kriegt, obwohl Cesia eigentlich ihren Anteil erledigt hat. Jetzt will Cesia nicht nochmal, und Siunek pflichtet ihr bei, und Danuta wäre auch dran, aber Henek meint, sie wäre zu zerbrechlich, will es aber auch nicht selbst machen.«
Ich stelle die Taschen ab, die ich gerade den Hügel hochgeschleppt habe. »Max«, sage ich, »ich habe gerade einunddreißigtausend Schrauben in zwölf Stunden hergestellt und bin dann acht Kilometer weit gelaufen, um uns Abendessen zu besorgen. Das ist jetzt dein Problem.«
Und das Einkaufen ist meins. Die Bauersfrau, von der ich Milch kaufe, fragt, wie zwei Mädchen nur so viel trinken können, und fast dieselbe Frage stellt der Eierhändler. Und diese Kommentare betreffen nur die Hälfte der Wocheneinkäufe, denn an den übrigen Tagen kaufe ich auf anderen Märkten, um ebensolche Probleme zu vermeiden. Frau Krajewska erwähnt, dass sie mich jeden Tag mit Taschen beladen sieht, und selbst Lubek ist der Sack voll Kascha aufgefallen.
Also stelle ich ein Geschäft auf die Beine. Zum Schein. Ich kaufe nun Essen von Bauern und lasse es Helena auf dem Markt verkaufen, während ich bei der Arbeit bin. Weil unsere Mutter in Salzburg Geld braucht. Wie ich es schon Lubek erzählt habe. Ungefähr zumindest.
Das bedeutet, dass Helena abends mit zwei schweren Taschen voller Vorräte von meiner Liste den Hügel hinaufmarschiert, und jeden Morgen den Hügel hinab, mit zwei Taschen, die voll aussehen, es aber nicht sind, da Max sie präpariert hat. Er steckt zwei Holzscheite der Länge nach in die Tasche, sodass sie offen bleibt, und legt noch eines obendrauf, sodass man einen Laib Brot oder sonst irgendetwas darauf balancieren kann. Helena übt vornübergebeugt zu laufen, als würde sie viel Gewicht schleppen, und wenn Frau Krajewska abends fragt, warum die Taschen noch voll sind, sagt sie, dass sie heute nicht viel verkauft hat und die Sachen morgen noch mal mitnimmt.
Die Taschen am Abend den Hügel hinaufzuschleppen ist wirklich zu schwer für sie und der Wind ist bitterkalt, obwohl es noch nicht schneit. Die Kohle geht zur Neige. Und dann versteckt der alte Dr. Hirsch das Essensgeld, weil ich mich weigere, Zigaretten mitzubringen.
Zwei Tage lang essen wir Kohl und Kartoffeln, und am zweiten Tag geht auch dieser Vorrat zur Neige. Die Hühner sind in Gefahr. Und dann, SS-Mann Ernst hin oder her, kommt es zum Streit. Max, Schillinger, Henek und Danuta gegen Dr. Hirsch, Monek, Sala und Frau Bessermann. Aber Siunek findet das Geld. In einem kleinen Hohlraum über einem Balken auf dem Dachboden. Max übernimmt die Buchhaltung und schreibt eine sorgfältige Berechnung an die Wand, wo Dr. Hirsch sie sehen kann, und als ich Trockenfisch und Trockenäpfel nach Hause bringe und die Hühner sich retten, indem sie vier Eier legen, kehrt wieder Frieden ein.
Wir brauchen mehr Geld für Lebensmittel.
Deshalb komme ich am nächsten Zahltag mit einer Investition vom Markt nach Hause. Vier alte Pullover, hässlich und durchlöchert, und fünf Paar Stricknadeln. Die Kinder trennen die Pullover vorsichtig auf; Danuta hebt das Rote-Beete-Kochwasser auf und färbt das Garn neu. Und als das Garn getrocknet ist, lernen alle, wie man strickt. Die Frauen, die es können, bringen es den Männern, die es nicht können, bei, meine dreizehn sind beschäftigt und Siunek entpuppt sich als Naturtalent, das in wenigen Stunden einen Ärmel hinbekommt. Den ersten Pullover verkaufe ich einem der Mädchen auf der Arbeit, und nur ein paar Tage später habe ich fünf weitere Bestellungen.
Sogar Dr. Hirsch vergisst seine Zigaretten, wenn er Maschen zählt.
Von einem Viertel des Pullovergelds kaufe ich noch mehr alte Pullover. Ein weiteres Viertel verwende ich für etwas Besonderes, wie Hühnchen oder Käse oder eines denkwürdigen Tages fünf Einmachgläser Essiggurken. Aber den Rest des Geldes spare ich. Heimlich. Weil Weihnachten vor der Tür steht. Und weil Heiligabend auf einen Freitag fällt, muss ich das ganze Wochenende nicht in die Fabrik. Und, ob sie nun jüdisch sind oder nicht, meine dreizehn brauchen eine Abwechslung.
Wir brauchen ein Fest.
Ich stecke voller Geheimnisse.
Am letzten Sonntag vor Weihnachten stehe ich früh auf. Cesia hält am Fenster Wache, allerdings ist sie wohl eingenickt, denn sie zuckt zusammen, als ich die Beine aus dem Bett schwinge. Ich packe Helena wieder fest in die Decke, schlüpfe in die Schuhe und den Mantel und tue so, als müsste ich raus zur Toilette. Aber ich sperre leise hinter mir ab, wickle mir den Schal um den Kopf und laufe im Glockengeläut der Kathedrale die Tatarska-Straße hinunter. Die Ausgangssperre ist vorbei, und das Pullovergeld steckt schon in meinem Mantel.
Eine der älteren Damen in der Fabrik hat mir von einem Mann erzählt. Acht Kilometer vor Przemyśl und weit abseits der Straße in einem alten Haus im Wald. Ein Mann, der Dinge verkauft. Alle möglichen Dinge. Dinge, die man auf dem Markt in der Stadt nicht bekommt. Dinge, bei denen man besser nicht fragt, woher sie kommen. Und wenn man Glück hat, kommt man mit ihm ins Geschäft.
Ich will mein Glück versuchen.
Schnellen Schrittes laufe ich durch die Dämmerung, mein Atem bildet kleine Dampfwolken in der Luft, und als ich die richtige Abzweigung von der Hauptstraße finde, beginnen die ersten Sonnenstrahlen, die Luft aufzutauen. Mein Körper ist vor Anstrengung warm. Ich schwitze sogar. Nur die Finger werden taub und Nase und Zehen kribbeln. Zwischen den Bäumen kommt ein Haus in Sicht. Nicht viel mehr als eine Hütte. Keine Lichter. Aber auf einer Seite steht ein Schuppen mit einer Laterne im Fenster. Die Schuppentür geht auf, und ein Mann streckt den Kopf heraus.
»Was wollen Sie?«
Ich bleibe wie angewurzelt stehen. »Ein paar … Einkäufe machen?« Vielleicht bin ich beim falschen Haus.
Er mustert mich, eine schwarze Strickmütze über beide Ohren gezogen, und schiebt die Tür weiter auf.
»Schnell, Mädchen«, sagt er. »Bevor die ganze Wärme rausgeht.«
Ich husche in den Schuppen und stehe in einem Warenhaus. Flaschen, Dosen und Kisten stapeln sich in Regalen an einer Wand, und die Pferdeboxen sind wie Marktstände, in denen sich die Waren türmen. Kühe sind auch im Schuppen und heizen den Raum auf. Vielleicht stehen auch sie zum Verkauf.
Ich lasse mir Zeit damit, alles anzusehen. Fünf Dutzend Socken vom Militär. Eine Kiste Dosenbohnen. Strümpfe. Parfum. Lippenstift. Wodka. Aspirin. Toilettenpapier vom Militär. Und Stapel um Stapel Dosenbirnen. Ich frage mich, ob Wachtmeister Berdecki hier einkauft.
Eine Viertelstunde später habe ich alles gefunden, was ich brauche. Ich weiß, was ich ausgeben kann. Ich weiß nicht, ob er mir die Sachen für den Preis geben wird.
Und da entdecke ich eine Kiste in einer Ecke. Krimskrams, vielleicht aus jemandes Haus. Darunter auch eine Puppe. Keine Babypuppe. Ein Mädchen mit blonden Zöpfen und aufgemalten blauen Augen und roten Lippen. Aus einem Bein rieseln Sägespäne, und ihr Kleid ist fleckig. Ich zögere, dann lege ich die Puppe zu allem anderen in meine Kiste und bringe sie dem Mann mit der Strickmütze.
Er sieht sich die Waren an, rechnet im Kopf zusammen und nennt einen Preis. Ich schüttle den Kopf und biete ihm, was ich habe. Er schüttelt den Kopf.
»Ich habe hier nichts zu verschenken, Schätzchen.«
»Wenn ich jemandes Schätzchen wäre«, erwidere ich, »hätte ich bestimmt mehr Geld als das.«
Er grinst und nennt einen neuen Preis. Immer noch zu hoch. Ich biete an, den Zucker zu halbieren. Er ist hier zwar billiger, aber ich kriege ihn auch in der Stadt. Er zuckt mit den Schultern. Ich nehme zwei Dosen Birnen aus der Kiste. Er zuckt wieder mit den Schultern. Ich zögere und nehme einen Ein-Kilo-Sack vom feinen Mehl heraus – solches, wie ich es seit 1941 nicht mehr außerhalb einer Bäckerei gesehen habe – und ein Röhrchen Aspirin. Dann zögere ich wieder, lege die Puppe weg und nehme das Aspirin zurück. Als Henek Typhus hatte, musste ich mein halbes Gehalt für Aspirin ausgeben. Der Mann beobachtet, wie ich die Puppe zurücklege.
»Nikolaus ist schon vorbei«, sagt er.
»Ich weiß.« Ich habe Helena erzählt, dass es der Nikolaus dieses Jahr nicht nach Przemyśl schaffen würde. Sonst müsste er ja mitten durch das Kriegsgebiet. Das nützte nur nicht viel, weil er den Weg zu den Krajewska-Jungen gefunden hatte.
»In Ordnung«, sagt der Mann. »Ich gebe Ihnen einen Sack.«
Ich weiß nicht, warum ich wegen der Puppe so enttäuscht bin. Sie hat keinen praktischen Wert. Und sie könnte Streitereien mit Dziusia und Janek verursachen. Nicht, dass sie erwarten würden, den Nikolaustag zu feiern. Obwohl ich sicher bin, dass sie die Geschenke zu Chanukka noch gut in Erinnerung haben.
Ich zahle, und er packt alle Einkäufe in einen Sack, den ich mir auf den Rücken binden kann. Er ist schwer. Sehr schwer, und nach acht Kilometern bis in die Stadt sind meine Schultern wund und schmerzen. Trotzdem bin ich zufrieden. Meine dreizehn bekommen ihre Überraschung. Auf dem Heimweg schaue ich noch auf dem Markt vorbei, obwohl sonntags nur wenige Händler Waren feilbieten, und kaufe ein paar Kohlköpfe und Kartoffeln, um meine Abwesenheit zu erklären. Dann schleppe ich alles auf einmal den Hügel zur Tatarska hinauf, damit Helena das nicht machen muss.
Ich weiß nicht, wer gerade am Fenster steht und meine Ankunft beobachtet, aber als ich den Berg hochkomme, halte ich die Gemüsekiste so vor mich, dass man den Sack auf meinem Rücken nicht sehen kann. Und dann kommt Frau Krajewska aus ihrem Haus gerannt und winkt mich herbei.
»Fräulein Podgórska! Da sind Sie ja. Wie ich sehe, haben heute Sie für Ihre Schwester die Verkäufe gemacht. Sonntags sollten Sie das lassen.«
Ich bleibe vor dem Brunnen stehen.
»Aber ich verstehe die Sache mit Ihrer Mutter. Ich habe bei Ihnen geklopft, aber niemand hat aufgemacht …«
Mein Blick huscht zu dem verhängten Schlafzimmerfenster, wo, wie ich weiß, jemand steht und uns beobachtet. Helena ist wohl unterwegs.
»… und ich wollte Ihnen sagen, dass Sie wegen der Katze aufpassen müssen.«
»Was? Ach, die Katze. Ja. Warum?«
»Weil Sie hinter Ihren Hühnern her ist! Ich habe von drinnen einen dumpfen Schlag gehört, und dann ging das Gegacker los …«
Das klingt, als wäre Siunek mit seinen Socken ausgerutscht und die Leiter heruntergefallen. Frau Krajewska wäre wohl überrascht, wenn sie wüsste, dass meine Katze einen Meter achtzig groß ist, strickt und dringend eine Rasur nötig hat.
»… und ich wollte Ihnen noch erzählen, dass wir über Weihnachten zu meiner Schwester fahren. Könnten Sie also auf das Haus achtgeben?«
»Und was ist mit Ihrem Neffen?«
»Ernst? Er begleitet uns und schließt sich dann wieder seiner Einheit in Berlin an. Ein Jammer, dass Sie kaum Zeit miteinander verbringen konnten …«
Sie plappert noch eine Weile weiter. Erst als ich ihr sage, dass meine Arme weh tun, nennt sie mir endlich Zeit und Datum. Ich schleiche hintenherum zu den Toiletten und lasse den Sack mit der Schwarzmarktware hinter dem Gebäude. In derselben Nacht, als alle schlafen, schmuggle ich ihn unter einer Decke versteckt ins Haus. Während Frau Bessermann aus dem Fenster starrt, schiebe ich ihn unter das Bett, in dem Helena schon schlummert.
»Was machen Sie da?«, flüstert Frau Bessermann, als sie mich hört, und dreht sich zu mir um.
»Ich dachte, ich hätte eine Maus gehört.«
Ich schiebe den Sack weiter unter das Bett, aber etwas kullert heraus.
Es ist die Puppe.
Ich lächle.
In dieser Woche fliege ich regelrecht durch die Fabrik, singe bei der Arbeit und schaffe jeden Tag mein Soll. In den Pausen arbeite ich an der Puppe. Ich nähe die Löcher, wasche das Kleid, Januka flicht ihre Haare neu und bringt sogar kleine Schleifchen mit, um die Zöpfe festzubinden. Mit einem Tintenstift bessere ich abgeblätterte Stellen an ihren Augenbrauen und Wimpern aus, und als wir fertig sind, ist die Puppe wie neu. Fast wie neu. Sie sieht hübsch aus.
»Deine Schwester wird sich so freuen!«, sagt Januka. »Ich wünschte, ich hätte auch eine kleine Schwester.«
Lubek beobachtet uns schweigend und raucht, während er darauf wartet, dass Januka fertig ist. Dieser Tage gehen sie nach der Arbeit immer zusammen.
Ich wickle die Puppe in Wachspapier und verstecke sie zwischen den Dachsparren des Lagerraums neben den Toiletten. In dieser Nacht kann ich nicht schlafen. Ich wälze mich in den Laken hin und her. Max dreht sich im Stuhl am Fenster zu mir um.
»Was ist los mit dir?«, flüstert er.
Es ist das erste Mal seit dem Abend, als er mir die Stirn geküsst hat, dass er ein Gespräch nur mit mir anfängt. Er hat mich gemieden, und ich hatte Angst davor, was das bedeuten könnte. Ich weiß nicht, was ich mir wünsche, dass es bedeutet. Heute Nacht ist es mir egal. Auf Zehenspitzen husche ich im Nachthemd durch die Kälte und setze mich neben ihm auf den Boden.
»Also, Fusia«, sagt er. »Wieder am Fenster.«
Mit verschränkten Armen starrt er durch den Spalt zwischen den Vorhängen in den kleinen Lichtkegel auf der Tatarska-Straße und kippelt mit dem Stuhl. Er wirft mir einen Seitenblick zu.
»Erzählst du mir, was los ist?«
Ich schüttle den Kopf. Verberge mein Lächeln. »Es gibt nichts zu erzählen.«
»Du bist eine furchtbar schlechte Lügnerin.«
»Eigentlich bin ich eine hervorragende Lügnerin. Wenn ich mit den richtigen Leute rede.«
»Also gehöre ich nicht zu den richtigen Leuten?«
»Wenn du belogen werden willst, nein.«
Er wirkt beleidigt, aber ich verstehe nicht, warum.
»Ich dachte, vielleicht bist du so glücklich, weil du verliebt bist.«
»In wen?«
»Wie soll noch jemand bei deinen Liebschaften mitkommen?«
In seinen Worten schwingt Wut mit, und sie verletzen mich. Ich bin sicher, dass ich mir dieses komische Gefühl bei seinem Kuss auf meine Stirn nur eingebildet habe.
Dann flüstert er: »Tut mir leid.«
Ich mustere seinen dunklen Kopf, die dunklen Augen, die auf das schwache Licht draußen gerichtet sind. Er hat regelmäßig riskiert, erschossen zu werden, nur um eine Weile dem Käfig des Ghettos zu entkommen. Jetzt kann er diese drei Zimmer und den Dachboden nicht verlassen.
Das muss ihn schier wahnsinnig machen.
»Ich habe an Mame gedacht«, sagt er. »An das Kerzenanzünden. An das challah. Sie hat immer endlos gekocht und mich in letzter Minute losgeschickt, um noch ein paar Kleinigkeiten zu besorgen, die sie vergessen hatte. Ich bin ganz schnell über die Gehwege gerannt, weil sie gesagt hat, dass es ohne Marmelade keine Marmeladenkrapfen gibt. Aber in Wahrheit mochte ich nur den Wind in den Haaren.«
Das kann ich mir vorstellen. Der kleine Max, der wie ein Fisch durch die Strömungen der Mickiewicza schießt. »Der wievielte Tag von Chanukka ist heute?«, frage ich.
»Der zweite.«
Ich habe nur einen Chanukka-Abend mit den Diamants erlebt, weil ich die Advents- und Weihnachtszeit normalerweise zu Hause auf dem Bauernhof verbracht habe. Aber ich erinnere mich an die Krapfen. Und die Kerzen.
»Ich musste an Lebkuchen denken«, sage ich. »Die ganze Woche hätte Mama Lebkuchen gebacken, und all die Nachspeisen für Heiligabend.«
»Mehr als eine Nachspeise?«
»Es gab zwölf Gänge, für die zwölf Apostel, und die Hälfte davon bestand aus Nachspeisen. Aber ich mochte die Lebkuchen am liebsten. Mama hat immer für jeden von uns einen in Form eines Sterns gemacht.«
Max starrt aus dem Fenster.
»Wir bekommen sie nie zurück«, sagt er. »Selbst wenn der Krieg vorbei ist. Ich wusste nicht, dass ich Tage verlebe, die ich niemals wiederkriege.«
Ich wünschte, ich könnte sie ihm geben. In Geschenkpapier verpackt und mit einem Schleifchen drum herum.
»Wir verleben immer Tage, die wir nie zurückbekommen«, erkläre ich. »Aber es kommen immer neue. Das ist alles.«
»Dürfen wir reden?«, murmelt Dziusia aus ihrer Decke. Im Bemühen, sie abends ohne Umschweife ins Bett zu bringen, hat ihr Vater ihr erzählt, dass nachts niemand mehr redet. Max lächelt Dziusias Lockenkopf an, dann schenkt er mir ein Lächeln.
Ich weiß nicht, wer von uns zuerst die Hand ausstreckt. Vielleicht sind wir es beide. Aber plötzlich hält Max meine Hand in seinen beiden.
»Bleibst du bei mir, Fusia? Solange ich Wache halte?«
Ich nicke. Ich bleibe bei ihm, bis der Mond untergegangen ist, mir die Augen zufallen und Schillinger uns ablöst.
Und am Morgen, als Schillinger immer noch am Fenster wacht und alle anderen schlafen, wecke ich sanft Helena. Sie braucht ein paar Sekunden, bis sie den Blick auf mich richtet. Dann forme ich meine Hände zu einem Trichter und flüstere ihr etwas ins Ohr. Sie nickt und kriecht aus dem Bett. Noch ganz verschlafen. Als müsste sie mal schnell auf die Toilette. Aber ich bemerke, dass Schillinger sie sieht, wie sie über den reifbedeckten Hof rennt. Sein Rücken versteift sich.
»Was tut sie da?«, murmelt er. Ich schleiche von hinten an ihn heran und spähe durch den Spalt im Vorhang. Sie hätte ihren Mantel anziehen sollen. Und ihre Schuhe. Sie klopft an Frau Krajewskas Tür. Guckt durch die Fenster. Dann rennt sie zurück zu unserem Teil der Tatarska.
»Sie ist weg«, ruft Helena. So laut, wie sie nur kann.
Siunek, Janek und Jan Dorlich rappeln sich vom Wohnzimmerboden auf, Dr. Hirsch, dem das Sofa gehört, versucht sich noch aus dem Laken freizustrampeln. Frau Bessermann erscheint mit Cesia und Dziusia in der Tür, und sogar Monek und Sala sowie eine verschlafene Danuta samt Henek kommen aus dem zweiten Schlafzimmer. Max ist schon auf den Beinen, seit Helena das Haus verlassen hat. Er presst die Lippen aufeinander. Als hätte er Angst.
»Willst du es ihnen sagen?«, frage ich.
Helena nickt. Sie hüpft auf der Stelle auf und ab. Es platzt ohnehin gleich aus ihr heraus.
»Frau Krajewska«, verkündet sie, »ist verreist!«
Die Gesichter um uns her bleiben ausdruckslos. Dr. Hirsch winkt ab und legt sich wieder auf sein Sofa.
»Und ihren Mann, die Jungen und den hässlichen SS-Mann hat sie mitgenommen! Und der hässliche SS-Mann kommt nicht zurück!«
Dr. Hirsch setzt sich wieder auf.
»Deswegen können wir eine Woche lang«, erklärt Helena, »laut sein. So laut!«
Und sie springt wild durch die Luft, wedelt mit den Armen und kreischt.
Einen Augenblick lang wissen meine dreizehn nicht, was sie tun sollen.
Dann sagt Janek: »Ich will laut sein!« Er rennt so schnell er kann ins Wohnzimmer, nur für den Fall, das jemand ihn aufzuhalten versucht, und dann hüpft und jauchzt er mit Helena. Frau Bessermann lacht. Auch Jan Dorlich bricht in lautstarkes Gelächter aus, und Danuta nimmt Dziusia bei der Hand, wirbelt sie im Kreis und stimmt ein altes Marschlied an.
He! Zu den Bajonetten, wer ein Pole ist!
Entweder siegen wir, oder wir sind bereit
Einen Wehr aus unseren Leichnamen zu bauen,
Um den Riesen, der die Welt in Ketten legt, aufzuhalten.
He! Zu den Bajonetten, wer ein Pole ist!
Das ist vielleicht etwas zu brutal für Weihnachten, aber den Kindern gefällt es. Monek und Sala, die erst in der Woche bevor sie dem Ghetto entkommen sind, geheiratet haben, tanzen einen Walzer zum Gesang, und Siunek fordert Cesia auf, wobei sie über Helena und Janek steigen müssen, die mittlerweile über den Boden kugeln. Und Max lacht.
Es ist wie ein wolkiger Tag in den Bergen, wenn das Wasser glatt ist wie das Metall eines Panzers. Und dann kommt die Sonne heraus und bringt alles zum Funkeln.
Wir laufen Gefahr, die Möbel zu zerschlagen.
Ich bahne mir meinen Weg durch das Chaos bis ins Schlafzimmer und ziehe den Sack unter dem Bett hervor. Während alle beschäftigt sind, schleppe ich ihn in die Küche. Ich schüre ein Feuer. Als das Wasser aufgesetzt ist, fische ich eine Dose aus meinem Sack.
Frau Bessermann, die immer alles im Auge hat, kommt schnellen Schrittes durch den Raum auf mich zu. »Das ist doch nicht …« Sie nimmt mir die Dose aus der Hand. »Kaffee!«
»Überraschung!«, rufe ich.
Da erhebt sich auch Dr. Hirsch vom Sofa, um die Zubereitung zu überwachen, und der Duft bringt eine solche Entspannung, so viele Erinnerungen an Zuhause mit sich, dass der Raum vom fröhlichen Stimmengewirr nur so summt. Ich schneide das restliche Brot auf und beschmiere die Scheiben für die Kinder mit Butter, dann rufe ich alle Frauen in die Küche. Neugierig wie er ist, kommt Max ebenfalls, und ich leere den Sack mit einer überschwänglichen Geste. Eine Kriegerin mit ihren Trophäen. Sala streckt eine Hand aus und berührt das Mehl, als könnte sie nicht glauben, dass es tatsächlich da ist. Max’ Augenbraue zuckt.
»Also«, sage ich, »wer weiß, wie man challah macht?«
Das Kochen und Backen wird zum Gruppenereignis, auch Siunek und Max und sogar Schillinger, der seiner Frau seit jeher die Kartoffeln geschält hat, stehen mit helfender Hand zur Seite. Frau Bessermann will aber niemanden beim challah helfen lassen. Ich überlasse Max das Schneiden der Roten Beete und gehe mit Helena zum Vorratsschuppen, wo wir von demjenigen, der gerade am Fenster Wache hält, nicht gesehen werden können. Und ich packe die Puppe aus.
»Oh«, sagt Helena. »Oh, oh.«
»Der Nikolaus hat sich etwas verspätet.«
»Ist schon in Ordnung«, flüstert sie.
»Ich dachte, sie kann dir Gesellschaft leisten, wenn ich in der Fabrik bin.«
Helena nickt. Sie berührt die Zöpfe, die roten Lippen, bewegt die Arme der Puppe. Dann sieht sie mich an. Besorgt. »Aber was ist mit Dziusia und Janek?«
»Sie feiern Nikolaus nicht so wie wir«, sage ich und fühle mich schuldig. »Aber vielleicht sollten wir sie für den Augenblick verstecken.«
Helena nickt, küsst die Puppe und wickelt sie wieder ein. Wir gehen nach drinnen, und während ich Plätzchenteig ausrolle und Monek Hirsch inbrünstig von einem Fisch erzählt, den er einmal gefangen hat – und sein Onkel die Geschichte verbessert, wo er nur kann –, höre ich ein Jauchzen aus dem Schlafzimmer. Helena hat Dziusia und Janek den Ball geschenkt, den Ball, den Herr Szymczak geflickt und den Max in seinem Rucksack in die Tatarska gebracht hat, während er versuchte, nicht erschossen zu werden. Die drei erfinden ein Spiel, bei dem es darum geht, den Ball durch die eine oder die andere Tür zu schießen, und es ist reines Glück, dass er nie im Toiletteneimer oder in der Suppe landet.
Die Tatarska Nummer 3 riecht den ganzen Tag nach Weihnachten.
Als die Sonne untergeht, stelle ich für den dritten Chanukka-Tag unsere drei Lampen auf den Tisch, Dr. Hirsch streut Salz auf den challah und wir essen Borschtsch und Kartoffelpuffer und Dosenbirnen und eines der Hühner, das ich geopfert habe, während Helena mit Ballspielen beschäftigt war. Dann gibt es krumme und schiefe Sternen-Plätzchen, weil ich keine Ausstechformen habe. Und als wir unseren Appetit gestillt haben, das Geschirr sich stapelt und die Kinder müde werden, rufe ich alle für meine letzte Überraschung ins Wohnzimmer.
Wodka. Und eine ganze Schachtel Zigaretten. Meine Ration, die ich nicht verkauft habe. Dr. Hirsch küsst mich auf beide Wangen, Monek holt eilig Gläser, und man könnte meinen, es würde heller im Raum.
Wir spielen »Wer bin ich«. Und Jan Dorlich entpuppt sich als begnadeter Schauspieler. Doch nachdem der Wodka die Runde gemacht hat, mündet das Spiel in eine Unterhaltungseinlage von Max: Mit einer Suppenschüssel auf dem Kopf ergreift er das Wort, obwohl er nicht dran ist, versucht sich mehr schlecht als recht an einem britischen Akzent und verhöhnt Hitler. Er mimt ganz offensichtlich Churchill, aber keiner will es erraten, damit er weitermacht. Ich lache so sehr, dass mir die Tränen kommen, und als Henek, der keinen Sinn für Humor hat, schließlich »Churchill, Churchill! Nun hör um Gottes willen auf!« ruft, muss ich noch schlimmer lachen und Siunek fällt sogar vom Stuhl.
Max nimmt die Suppenschüssel ab und setzt sich neben mich auf das Sofa. »Ich war gut, oder?«
»Ob du gut warst? Nein!«, kichere ich. Er grinst und legt einen Arm um mich.
Das Sofa ist warm und gemütlich und ich liebe einfach alle.
Das gute Gefühl hält lange vor. Es bleibt, als die Kinder im Schlafzimmer Ball spielen, Helena mit ihrer Puppe im Arm schläft und ich die Nächte mit Max am Fenster verbringe. Selbst als Frau Krajewska zurückkommt und wir wieder leise sein müssen. Als die Zigaretten alle sind, wir wieder Pullover stricken, die Wäsche schmutzig ist, und es nur noch Kohl gibt. Als der bitterkalte Winter einbricht und ich durch den Schnee zur Arbeit stapfe, Helena sich mit den Einkäufen den Hügel hinaufkämpft, und das Geld einfach nicht für genügend Kohle reicht.
Bis zu dem Tag, an dem Sala Hirsch vom Fenster her eine Warnung ruft und meine dreizehn auf dem Dachboden verschwinden. An dem ich die Tür öffne und der SS ins Auge blicke.
An dem der SS-Mann auf seine Liste blickt und sagt: »Fräulein, wir benötigen Ihr Haus.«