25

Februar 1944

Es ist unmöglich, sie mit Lebensmitteln zu versorgen.

Ich gehe früher zur Arbeit als die Krankenschwestern. Nach Hause komme ich in etwa um dieselbe Zeit. Ihre Liebhaber treffen kurz danach ein. Weil das Krankenhaus direkt gegenüber liegt, ist es kein Problem für sie, heimzulaufen, um die Schuhe zu wechseln. Einen vergessenen Pullover zu holen. Zum Mittagessen Bohnen aufzuwärmen und Würstchen zu braten, während meine Leute auf dem Dachboden liegen und es riechen. Sie haben immer an unterschiedlichen Tagen frei, und wenn sie nicht arbeiten gehen, schlafen sie aus. An manchen Tagen verlassen sie das Haus überhaupt nicht.

Ich liege nachts wach. Und zucke beim leisesten Geräusch zusammen.

Helena tut ihr Bestes. Jeden Morgen, sobald Karin und Ilse aus dem Haus sind, holt sie den dreckigen Eimer von oben und bringt einen Wassereimer hoch. Dann macht sie auf dem Markt die Einkäufe für den nächsten Tag und schleppt die präparierten Taschen hin und her, während zwei meiner dreizehn sich nach unten schleichen, um zu waschen, sich die Beine zu vertreten und für die anderen zu kochen.

Als Danuta an der Reihe ist, setzt sie einen Topf mit dreizehn Eiern auf. Als die Warnung kommt, schaffen sie und Henek es nur knapp die Leiter hoch, bevor Karin durch die Tür kommt, um die SS-Mütze ihres Freunds zu holen. Als Helena erschöpft vom Taschenschleppen zurück in die Tatarska Nummer 3 trottet, verpasst Karin ihr eine Ohrfeige, weil sie ein Feuer im Herd angeschürt und es alleingelassen hat.

Darüber streiten wir uns, Karin und ich. In gebrochenem Deutsch und Polnisch. Aber ich glaube, ich habe meinen Standpunkt klargemacht. Wenn du meine Schwester noch einmal schlägst, dann wirst du schon sehen. Und mir ist egal, wer dein Freund ist.

Am nächsten Tag in der Fabrik flehe ich Herrn Braun an, mich in die Nachtschicht zu verlegen. Ich schmeichle ihm. Katzbuckle. Und er weigert sich.

Bei der Arbeit kämpfe ich mit Übelkeit, ich bin krank vor Sorge, was zu Hause passieren könnte. Und Karin beobachtet uns beide wie ein Naziadler. Besonders, wenn wir essen.

Von nun an muss ich das Essen verstecken. Die Krankenschwestern essen alles, was sie in die Finger bekommen.

Nach zwei Wochen in meinem neuen Leben als Leiterin einer Nazi-Pension komme ich nach der Arbeit mit einem Korb Rote Beete nach Hause. Ich schäle sie, schneide sie, werfe sie in den Suppentopf, und Ilse reckt die Nase in die Luft, während sie auf dem Sofa ihre Nägel lackiert. Sie wartet auf ihren Freund. Karin gesellt sich zu ihr, und sie beobachten mich beim Kochen und unterhalten sich. Ein Wort erkenne ich allerdings: »Borschtsch«. Und als Karin schließlich ungeduldig wird, kommt sie mit einem Löffel zum Herd und hebt den Deckel vom Topf. Nur um zurückzuschrecken, den Deckel fallen zu lassen und sich lautstark bei Ilse zu beschweren.

Als die Liebhaber eingetroffen sind und sich alle im hinteren Schlafzimmer eingeschlossen haben, nehme ich den Deckel ab und fische das Garnknäuel aus dem Borschtsch, mit dem man ja ebenso gut färben kann. Dann schmuggle ich den ganzen Topf nach oben. Das Garn war sauber, und Max meint, dass die kleinen Fasern die Suppe nur noch sättigender gemacht haben.

Wenn ich wirklich dächte, dass man Garn essen kann, würde ich es ihnen geben. Max ist sehr dünn. Und am Sonntag, als beide Krankenschwestern Dienst haben und Max an der Reihe ist, nach unten zu kommen, entdecke ich, dass er Flöhe hat. Es gibt tatsächlich Ratten auf dem Dachboden, berichtet er, das Essen hat sie angelockt. Und die Ratten haben die Flöhe mitgebracht. Alle sind zerbissen. Überall. Er wäscht sich im Schlafzimmer, während Siunek am Fenster Wache hält, und ich denke an unser Weihnachtsfest, als Max mich auf dem Sofa im Arm gehalten hat. Und an die Nacht zuvor, neben ihm am Fenster, als ich dachte, wie eingesperrt er sich fühlen muss.

Nun ist sein Gefängnis noch weiter geschrumpft.

Ich will, dass Max lebt. Ich glaube, mein Wunsch, dass Max lebt, ist größer als mein Wunsch, nicht erschossen zu werden.

Ich opfere ein weiteres Huhn und bereite mit den letzten Kartoffeln einen Eintopf, den sie mit nach oben nehmen können, und während er auf dem Herd köchelt, versuche ich, die Nissen aus Max’ Haar zu kämmen, denn Läuse haben sie auch. Ich weiß nicht, ob es etwas nützt, aber das Kämmen entspannt ihn sichtlich. Seine Haare sind zu lang. Sein Bart auch. Ich sollte Friseur spielen, weiß aber, dass ich es vermasseln würde. Die schwarzen Strähnen gleiten durch meine Finger.

»Wir sind ein ziemlich verwahrloster Haufen, nicht wahr, Fusia?«, fragt er mit geschlossenen Augen.

Wir sind am Leben, denke ich.

Ich gebe ihm Backnatron mit, und Siunek nimmt die Suppe. »Verstreue etwas auf dem Boden, mit dem Rest reibt ihr euch die Haut ein«, erkläre ich. Er nickt.

Mir ist zum Weinen zumute, als er langsam die Leiter hochsteigt.

Aber er hat mir ein Geschenk dagelassen. Neben der Zuckerdose, wo einst das Foto des SS-Manns stand. Ein Blatt Papier mit einer einfachen Tuschezeichnung. Von mir. »Fusia«, steht da, mein Haar fällt in Wellen bis auf meine Schultern, und Helena ist auch abgebildet, lächelnd an meiner Seite. Doch anstelle von Armen hat Max Helena und mir Engelsflügel gemalt, die sich über die ganze Breite des Papiers erstrecken, und unter den Flügeln sind dreizehn Gesichter zu sehen. Max, Dr. Schillinger, Dziusia. Siunek und Dr. Hirsch. Malwina Bessermann mit Cesia und Janek. Monek und Sala, Henek, Danuta und Jan Dorlich.

Ich berühre den gemalten Max, und als ich Ilses Stimme vor der Tür höre, haste ich in mein Schlafzimmer und verstaue das Bild sicher unter der Matratze. Bei allem anderen.

Am nächsten Tag in der Pause erzählt mir Januka von einer Frau auf der anderen Seite von Przemyśl, jenseits des San, die Juden auf ihrem Dachboden versteckt hatte. Ihr Mann hatte sich ein System ausgedacht, ein zusätzliches Fallrohr wie von einer Regenrinne an der Hauswand, damit die Menschen auf dem Dachboden ihr Geschäft erledigen konnten … nur, dass dieses Rohr undicht war und die Dame im Erdgeschoss immer schrecklich verschmutzte Fenster hatte. Der Ehemann der Dame im Erdgeschoss sah sich daraufhin das Rohr an, erkannte, dass es gar nicht hätte da sein dürfen und was das zu bedeuten hatte, und rief die Gestapo. Sie fanden vier Juden und erschossen sie gleich im Hof, dann erschossen sie die Frau, die sie versteckt hatte, ihren Mann und ihre beiden Kinder. Der Mann aus dem Erdgeschoss war so erschüttert, dass er ins Haus ging und sich mit einer Pistole selbst richtete, und nun ist seine Frau vor Kummer verrückt geworden.

Januka erzählt all das wie eine Gruselgeschichte, mit der man versucht, seine Freunde nachts zu ängstigen.

Aber für mich ist sie zu real. Viel zu real. Ich spüre den Schmerz hinter meinen Augen.

Lubek beobachtet mich, während er raucht.

Ich eile nach Hause, in Gedanken immer noch bei Janukas Geschichte.

Vielleicht ist heute der Tag, an dem die Krankenschwestern die Leiter hochgeklettert sind. Auf der Suche nach Ratten durch die falsche Wand gebrochen sind. Und dann hält mich Frau Krajewska auf der Straße an.

»Wie haben Sie das nur angestellt?«, fragt sie, ihre Einkaufstasche im Arm. »Ich habe es schon so lange versucht, aber diese deutschen Mädchen schnippen einfach mit den Fingern und Simsalabim!«

»Wovon reden Sie, Frau Krajewska?« Ich will nach Hause. Ich will wissen, ob sie noch leben.

»Stromleitungen!«, sagt sie. »Sie wollten gerade die Kabel verlegen, als ich vor ein paar Minuten gegangen bin. Sie werden sich bestimmt freuen, Strom …«

»Kabel verlegen?«, frage ich. »Wo?«

»Durch den Dachboden, schätze ich …«

Ich laufe los. Renne. Rase die Straße hoch. Und wenn ich nur rechtzeitig zu meiner Erschießung ankomme.

Oben am Hügel angekommen, bin ich so außer Atem, dass ich nicht sprechen kann, und vor Seitenstechen humple ich. Es ist genauso wie Frau Krajewska gesagt hat. Zwei Arbeiter stehen auf meinem Dach direkt über dem Versteck, und einige Nachbarn haben sich zusammengefunden, um das Spektakel zu beobachten. Auch meine beiden Krankenschwestern sind da und lächeln zufrieden. Und Herr Krajewski, der, soweit ich weiß, nie das Haus verlässt. Ich laufe zu ihm.

»Was ist hier los?«, keuche ich.

»Sie schieben einen Pfosten in den Dachboden, an dem sie die Kabel befestigen«, sagt er. »Bohren ein Loch direkt ins Dach. Sie werden die Wände ruinieren. Das Mauerwerk ist alt …«

»Einen Pfosten?«, frage ich.

»Ja. In den Dachboden …«

Nein. Nein. Nein. Das dürfen sie nicht.

»… dann gehen sie rein und schrauben ihn von innen fest …«

Nein. Nein. Nein. Sie dürfen nicht rein.

»… und dann verlegen sie die Kabel.«

Sie werden dieses Loch bohren und direkt in die Gesichter von dreizehn Juden blicken.

Der Mann nimmt einen Bohrer zur Hand und will ihn schon ansetzen.

Nein. Das darf er nicht. Das darf er nicht …

»Warten Sie!«, rufe ich aufs Dach. »Das sollten Sie lassen!«

Der Mann auf dem Dach hält inne. Die kleine Menschenmenge, bestehend aus Krankenschwestern und Nachbarn, wendet sich gespannt mir zu.

»Wir brauchen nur in einem Raum Strom«, rufe ich. »Es friert, und bald ist die Sonne weg. Wäre es nicht einfacher, die Kabel direkt durchs Fenster zu legen?«

»Sie hat recht«, sagt Herr Krajewski. »Ihr bringt noch die Mauern zum Einsturz.«

Der Mann auf dem Dach überlegt und legt dann den Bohrer zur Seite. »Ich komme runter«, sagt er.

Eine kurze Sekunde spüre ich die Erleichterung, dann frage ich mich, was auf dem Dachboden los sein mag. Sie müssen ja die Nachbarn draußen und den Mann, der gerade über ihren Köpfen bohren wollte, gehört haben. Und durften trotzdem keinen Laut von sich geben.

Ich eile ins Haus. Helena sitzt zusammengekauert in der hintersten Ecke des Wohnzimmers auf dem Sofa.

»Ich habe sie aufgehalten«, erkläre ich ihr. »Geh raus, dann kann ich oben Bescheid sagen, was los war.«

Ich fliege regelrecht die Leiter hoch – die Hühner sind draußen –, haste durch den Lagerraum und die Geheimtür und bringe die Bretter hinter mir wieder in Position, für den Fall, dass jemand mir folgt. Als ich mich umdrehe, finde ich meine dreizehn so zusammengekauert in der Ecke wie Helena. Bloß sind sie nur zur Hälfte bekleidet und machen einen wilden Eindruck, mit Stroh im Haar und Backnatron auf der Haut. Dr. Schillinger hält Dziusia den Mund zu, um ihr Schluchzen zu dämpfen. Max hockt vor ihnen und hält eine Hand in die Luft, um ihnen zu bedeuten, leise zu sein.

Ich weiß, wie sich Angst anfühlt. Nun weiß ich auch, wie sie aussieht.

»Sie kommen nicht durchs Dach«, flüstere ich. »Und nicht auf den Dachboden. Sie bohren durch die Wand im Erdgeschoss direkt unter euch. Bleibt also still!«

Ich spähe durch das Guckloch und schiebe mich durch die Geheimtür, richte die Bretter und eile die Leiter hinunter.

Und als ich die Tür öffne, steht da Ilse und mustert mich. Wir starren einander an, und ich lächle, obwohl mein Magen droht, den einen Bissen von Janukas Brot wieder von sich zu geben.

»Das Dach ist in Ordnung«, sage ich und deute nach oben. »Sie haben es nicht beschädigt.«

Ich weiß nicht, ob sie ein Wort von meinem Polnisch versteht. Aber später sehe ich, wie sie die Tür zur Diele öffnet und die Leiter betrachtet. Der Schmerz hinter meinen Augen schießt von einer Seite zur anderen.

Und als ihre Liebhaber kommen, finde ich heraus, warum sie so dringend Strom brauchten. Sie haben ein Radio. Ich sitze auf dem Bett und kämme Helenas Haare, während sie mit ihrer Puppe spielt, und wir lauschen dem Versuch, den Sender einzustellen.

Ist es nicht komisch, denke ich, welche Sorgen wir uns wegen Ernst, den SS-Mann auf der anderen Seite der Wand, gemacht haben? Jetzt sitzen vier Nazis im Nebenzimmer, und ich kämme Helena die Haare und hoffe, Nachrichten zu hören.

Ich höre jedoch nichts. Was auch immer im Radio läuft, es ist nur ein Rauschen im Hintergrund ihrer Unterhaltung, die ich nicht verstehe. Aber ich weiß, dass es Ilse ist, die redet, Karin steuert ein paar Sätze bei, und ab und zu antworten die Männer. Aber ein Wort verstehe ich. »Ratten.«

Ich lege mich mit meinem Schmerz hinter den Augen hin. Mir gefällt nicht, wie Ilse die Leiter angesehen hat. Mir gefällt das Gefühl in meiner Magengegend nicht.

Am nächsten Tag melde ich mich krank und bleibe zu Hause.

Ich bin nicht krank.

Ich habe Angst.

Kaum haben Karin und Ilse das Haus verlassen, geht Helena zum Brunnen. Und kämpft gegen die Krajewska-Jungen. Ich dachte, dem hätte ich ein Ende gesetzt. Ihre Mutter hätte das unterbinden sollen. Ich wünschte, Helena hätte etwas gesagt. Aber sie gewinnt. Und bringt das Wasser nach drinnen. Und schleppt es die Leiter hoch. Und bringt den schmutzigen Eimer nach unten. Sprosse um Sprosse. Über die nistenden Hühner hinweg. Ohne etwas zu verschütten und mit einem Geruch in der Nase, der jedem anderen den Magen umgedreht hätte.

Ich verlange viel von Helena.

Ich bleibe im Nachthemd, damit ich die Kranke spielen kann, falls die Krankenschwestern kommen, und setze Haferbrei an. Einen großen Topf Haferbrei. Da kommt Max nach unten.

»Hela hat gesagt, du gehst heute nicht zur Arbeit. Bist du krank?«

Ich weiß nicht, wie ich all die kleinen Dinge, die mich an den Krankenschwestern beunruhigen, erklären soll. Die mich so beunruhigen, dass ich einen Tag ohne Lohn in Kauf nehme. »Ich stelle mich nur krank«, sage ich.

»Gut«, sagt er. »Ich will dir etwas erzählen.«

Er bringt mich zum Lächeln. Er hat mehr Energie als das letzte Mal, als ich ihn gesehen habe. Seine Flohbisse sind verheilt, und er strahlt übers ganze Gesicht wie die Chanukka-Leuchter, die früher auf unserem Tisch standen. Helena kommt herein, um den ausgespülten Eimer zu bringen, und Max bückt sich ganz selbstverständlich, lässt sie seine langen Haare zerzausen und dann seinen dicken Bart kratzen und macht dabei Geräusche wie ein gut gekraulter Hund. Helena kichert und sagt: »Guten Morgen.«

»Guten Morgen.«

Das muss eine Art Dachbodenritual sein, von dem ich nichts wusste.

»Was machst du hier unten, Max?«, fragt Helena.

»Unartig sein.«

»Na gut.« Sie kichert wieder und treibt die Hühner in den Hof.

»Eigentlich sind Monek und Sala dran, darum habe ich nur eine Minute, aber ich will dir etwas zeigen. Schau.« Er hält ein Stethoskop in die Luft.

»Hattest du einen Herzinfarkt?«

»Noch nicht. Aber ich kann …«, er legt eine Kunstpause ein, »durch den Boden horchen.« Er wackelt mit dem Stethoskop.

Durch den Boden horchen. Das Radio. »Was hast du gehört?«

»Dies und das. Nur Bruchstücke. Die polnische Übersetzung haben sie selten laufen lassen. Aber ich kann die Bruchstücke zusammensetzen. Es läuft nicht gut für sie. Nirgendwo. Die Russen erobern die Ukraine zurück. Die Deutschen müssen sich zurückziehen.«

»Das ist nah.«

»Wenn sie weiter Richtung Westen vorstoßen …«

»Sie könnten herkommen.«

»Und wenn sie das tun, sind wir frei«, sagt Max.

Die Hoffnung steht ihm gut zu Gesicht.

Und dann kommen Stimmen von draußen. Vom Hof.

Niemand hat das Fenster im Auge behalten.

Max verschwindet auf den Dachboden. Aber die Tür zur Diele steht noch offen, als Karin und Ilse hereinspazieren. Mit Karins Freund.

Dem SS-Mann.

Meine Hand wandert zum Ausschnitt meines Nachthemds, und ich halte ihn zu, wodurch ich leicht vornübergebeugt stehen bleibe. Das lässt mich unbeabsichtigt etwas kränklich wirken.

Vielleicht ist es aber auch nur die Angst.

»Geht es Ihnen nicht gut, Fräulein?«, fragt der SS-Mann.

Er spricht also Polnisch. Gut zu wissen.

Zur Antwort schüttle ich den Kopf, eine Hand immer noch ins Nachthemd gekrallt, mit der anderen halte ich einen Löffel über dem Topf Haferbrei. Karin sagt etwas, zeigt auf mich, damit er mich fragt.

Er sagt: »Wo ist Ihre Schwester?«

Der Schreck fährt mir so schmerzhaft in die Glieder, dass ich kaum den Löffel festhalten kann. Helena ist nicht wieder reingekommen, nachdem sie die Hühner in den Hof gebracht hat. Vielleicht ist sie fortgelaufen, um zu spielen.

Lauf, Hela. Lauf.

»Meine Schwester ist auf dem Markt«, antworte ich. »Warum?«

»Diese Damen meinen, in Ihrem Haus stimmt etwas nicht.«

Ich sehe meine beiden Krankenschwestern an. »Was meinen Sie?«

»Sie wollen, dass ich mir Ihren Dachboden ansehe.«

Der Mann hält den Rücken gerade und den Kopf hoch, steht stocksteif da. Sein Gesicht ist ausdruckslos. Und doch wirkt er, als sei ihm die Situation unbehaglich. Sie haben ihn überredet.

Sie versuchen mich umzubringen. Und Helena. Ein kleines Kind.

Aber die Aufregung drängt meine Angst zurück. Weit, weit weg, in einen versteckten Winkel, wo ich meine Erinnerungen an Izio und meine Babcia aufbewahre, und an all die Menschen, die ich einmal kannte, die Gesichter aus dem Ghetto, die auf Zügen verschwanden und nie wiedergekehrt sind. Ein Versteck tief in meinem Innern, damit ich jetzt nicht an sie denken muss. Später kann ich versuchen, damit fertig zu werden.

Jetzt bin ich nur wütend.

»Gut«, sage ich. »Sehen Sie sich meinen Dachboden an.« Ich wende mich ab und rühre in meinem Haferbrei.

Dem Haferbrei für fünfzehn Personen.

Ihre Reaktion kann ich nicht sehen. Aber ich höre, wie sie murmeln.

Oh, bitte, Max. Bitte, bring die Bretter in Position. Bitte, Gott, hilf den Kindern, still zu sein.

Ich höre, wie die Stiefel über den Küchenboden stampfen. Und die Leiter erklimmen. Schnell setze ich den Deckel auf den Haferbrei und gehe hinüber, um den SS-Mann im Auge zu behalten.

»Vorsicht!«, rufe ich ihm zu. Laut. Damit Max es hört. »Ich glaube, da könnten Ratten sein.«

Auf diese Warnung hin klettert er schneller. Vielleicht, um seinen Kopf durch das Loch und über das Bodenniveau zu bekommen.

Dieses Mitglied der SS, so viel wird mir klar, hat Angst vor Ratten.

»Sehen Sie welche?«, rufe ich. »Ich habe Fallen aufgestellt.«

Als ich das sage, hält er auf der zweitobersten Sprosse inne. Ich sehe, wie sein Körper sich dreht, während er sich umblickt.

»Der Dachboden ist ziemlich klein«, meint er.

»Der Rest gehört zum Nachbarhaus«, erkläre ich.

Karin ruft ihm etwas auf Deutsch zu, und er antwortet, sieht sich noch ein paar Sekunden um, und dann entfährt ihm auf Deutsch: »Was ist das?«

Er stellt eine Frage, so viel ist mir klar. Als hätte er etwas gesehen, das er nicht erwartet hätte. Mein Herz pocht so heftig, dass ich schon glaube, die Krankenschwestern müssten es durch mein Nachthemd hindurch sehen. Ich verschränke die Arme und schaue an ihnen vorbei, als würde mich all das nicht kümmern. Aber tatsächlich starre ich mein Bild von Christus und der heiligen Jungfrau an.

Dann kommt der SS-Mann die Leiter wieder herunter. Schnell. Unten angekommen, streicht er seine Jacke glatt und schüttelt den Kopf. »Ratten«, sagt er.

Wahrscheinlich hat er eine Ratte gesehen.

Karin wirkt überrascht, Ilse enttäuscht.

»Haben Sie genug gesehen?«, frage ich.

»Ja. Danke, Fräulein.«

»Könnte ich Sie um einen Gefallen bitte, da Sie schon einmal hier sind? Weil Sie doch Polnisch sprechen?«

Der SS-Mann nickt. Er zupft immer noch an seiner Jacke herum. Und er wirkt etwas verärgert.

Aber nicht so wütend wie ich.

»Könnten Sie ihnen sagen, dass mein Vater tot ist, meine Mutter und mein Bruder in einem Arbeitslager in Salzburg sind und dass ich mich allein um meine kleine Schwester kümmern muss?«

Er übersetzt mit gerunzelter Stirn.

»Und könnten Sie ihnen sagen, dass mein Lohn kaum ausreicht?«

Er tut es. Und verliert langsam die Geduld.

»Darum muss meine kleine Schwester hungern, wenn sie mein Essen nehmen, ohne zu fragen.«

Er schweigt kurz, dann übersetzt er. Karin will etwas erwidern, aber ich schneide ihr das Wort ab.

»Und sagen Sie ihnen doch noch, dass es unhöflich ist, Gäste ins Haus zu lassen, ohne zu fragen. Durch mein Schlafzimmer. Und sie über Nacht bleiben zu lassen, obwohl meine kleine Schwester hier ist.«

Er wirkt unangenehm berührt, übersetzt es aber dennoch.

»Karin hat das vielleicht schon verstanden, aber wenn sie meine Schwester je wieder schlägt, werde ich selbst die Gestapo rufen.«

Jetzt übersetzt er nicht mehr, sondern schreit Karin an. Karin schreit zurück, genau wie Ilse. Ich warte. Und schließlich verlegen sie ihren Streit nach draußen vor die Tür.

Ich nehme den Haferbrei vom Herd. Den riesigen Topf Haferbrei für fünfzehn Personen, der niemandem aufgefallen ist. Ich weiß, dass ich für diesen Ausbruch noch büßen werde. Selbst wenn Karin und Ilse nicht zurückkommen sollten.

Denn ich weiß, dass die Angst zurückkehren wird.

Przemyśl hat mich vor langer Zeit gelehrt, die Menschen nicht nach ihrer Herkunft, ihrer Religion oder sogar ihrer politischen Einstellung zu beurteilen. In dieser Stadt habe ich gelernt, was die Menschen wirklich ausmacht.

Und wie ich meine Krankenschwestern einzuschätzen habe, weiß ich ganz genau.