29

Juli 1944

Sie lassen Frau Bessermann schlafen, bis das Fieber fast abgeklungen ist. Als sie aufwacht, ist sie schwach, bis auf die Knochen abgemagert, aber am Leben. So wie wir anderen. Auf wundersame Weise. Denn niemand hat sich mit Typhus angesteckt.

Und in Przemyśl tut sich was. Soldaten mit Rucksäcken ziehen in die Stadt und wieder hinaus, Panzer brettern durch die Straßen, und in den Geschäften leeren sich die Regale. Auf dem Markt bieten nur noch die Bauern Waren feil, und so früh im Jahr sind es nur wenige. Und das, was es gibt, ist teuer. Mehr als teuer. Die Preise sind unverschämt. Wir essen die beiden letzten Hühner. Ich versuche das Sofa zu verkaufen. Den halben Tisch. Den kaputten Kleiderschrank. All das biete ich einem Bauern an und noch dazu die Schuhe an meinen Füßen. Aber niemand braucht meine schäbigen Möbel oder meine abgelaufenen Schuhe. Niemand will Geld für etwas anderes als Essen ausgeben.

Und schließlich ist der Tag gekommen. Der Tag, den ich seit Kriegsbeginn abwenden wollte. Aber es ist nicht die Gestapo, die ihn einläutet.

Es ist der Tag, an dem uns das Essen ausgeht. Es ist nichts mehr da. Und es ist unmöglich, etwas zu besorgen.

Ich glaube, wir haben nur überlebt, um nun zu verhungern.

Als die Krankenschwestern zur Arbeit gegangen sind, rufe ich meine dreizehn vom Dachboden. Max setzt uns alle in einen Kreis im Wohnzimmer – nur Siunek hält Wache am Fenster –, und es kommt mir vor, als wäre ich in ein Rudel knurrender Hunde geraten.

Ich hätte besser planen müssen.

Max hätte besser planen müssen.

Max hätte nie auf mich hören dürfen.

Ich sollte auf den Markt gehen und schauen, was ich stehlen kann.

Ich sollte im Zimmer der Krankenschwestern nach ihrem Geld suchen.

Gegenüber im Krankenhaus gibt es bestimmt Essen, wenn ich nur den Mut hätte, rüberzugehen und es zu holen.

Niemand kann klar denken, wenn er am Verhungern ist.

Und dann meint Sala Hirsch: »Wir sollten zu Frau Krawiecka gehen.«

Der Streit verstummt. »Wie gut kennst du sie?«, fragt Max.

»Ich kannte sie gut«, erzählt Jan Dorlich. »Meine Schwester hat für sie gearbeitet. Sie war in Ordnung, bis sie dachte, ich hätte sie angelogen.«

Tut mir leid, Jan.

»Ich glaube, sie hätte mir geholfen, wenn sie gekonnt hätte.«

»Ich kenne sie auch«, sagt Sala. »Ihr Mann hat mit meinem Vater Geschäfte gemacht. Sie kennt mich, seit ich ein kleines Mädchen war.«

»Glaubt ihr, sie würde zur Gestapo gehen?«, fragt Schillinger. Dziusia liegt zusammengerollt zu seinen Füßen, ein kleines Lächeln auf den Lippen. Sie hat sich wieder in ihren Kopf zurückgezogen.

Sala zuckt mit den Schultern. »Das letzte Mal ist sie auch nicht zur Gestapo gegangen.«

»Aber doch nur, weil Fusia sie zu Tode erschreckt hat«, meint Max. Er schaut zur Seite, und zum ersten Mal seit Frau Bessermanns Tirade sieht er mir in die Augen, und seine Braue zuckt. Er lächelt mich an. Ich lächle ihn an. Die Erinnerung daran, wie ich Frau Krawiecka gegenüber die Beherrschung verloren habe, scheint ihm besonders lieb zu sein. Danuta sieht mich an und hebt eine Augenbraue, als wollte sie ›Siehst du?‹ sagen. Ich schaue weg. »Ich glaube nicht, dass sie mir überhaupt aufmacht«, meine ich. »Nicht so, wie die Dinge gelaufen sind.«

»Dann nimm Sala mit«, sagt Max.

»Nein«, widerspricht Monek.

»Sei nicht so selbstsüchtig«, faucht Frau Bessermann.

Sala legt eine Hand auf Moneks Arm. »Ich schätze, das muss ich tun, wenn wir sie überzeugen wollen, uns zu helfen.«

»Gibt es sonst noch Ideen?«, fragt Max.

»Abgesehen davon, dass wir uns gegenseitig essen?«, sagt Dr. Hirsch. »Angefangen bei dir? Das wäre mal eine Idee!«

Es ist schön zu hören, dass der alte Mann noch er selbst ist.

Wir beschließen, noch am selben Tag in der Abenddämmerung loszugehen, wenn die meisten Leute nach Hause eilen und die Krankenschwestern in ihrem Zimmer sind. Zwar riskieren wir so, nach der Ausgangssperre draußen zu sein und nach Hause zu kommen, wenn Ilse und Karin da sind, aber Sala hat keine unauffälligen Kleider, und wir sind verzweifelt.

Sala schleicht die Leiter herunter, während die Krankenschwestern den Nachrichten im Radio lauschen. Wir haben Glück, denn auch an diesem Abend sind keine Liebhaber da. Es sei denn, sie stehen an der Tür. In diesem Augenblick. Sala scheint derselbe Gedanke gekommen zu sein, denn sie zittert schon, nur weil sie in der Küche steht.

»Schsch«, versuche ich sie zu beruhigen. »Wasch dir das Gesicht.«

Wir richten sie her. Kämmen ihr Haar. Sie hat so lange keine Schuhe mehr getragen, dass sie sich an ihren Füßen seltsam anfühlen. Ich gebe ihr meinen Mantel, damit sie ihre ausgefranste Bluse darunter verstecken kann, auch wenn der Sommer eigentlich viel zu warm dafür ist, dann winke ich Helena zum Abschied. Helena winkt zurück und schließt die Tür ganz leise hinter uns ab.

Wir müssen noch am Fenster der Krankenschwestern vorbei. Durch den Vorhang schimmert das Licht vom Radio. Aber wir schlüpfen vorbei und auf die Tatarska-Straße.

»Weißt du die Adresse?«, frage ich Sala. Sie nickt. »Kennst du den Weg?«, frage ich. Sie nickt wieder.

»Lächle«, fordere ich sie auf. »Ein Spaziergang macht Spaß, weißt du noch?«

Wir sollen aussehen wie zwei Freundinnen, die spazieren gehen. So war der Plan. Aber Sala läuft geduckt und klammert sich an meinen Arm, sodass er sich anfühlt wie in einer Schraubzwinge. Wenn ich sie wäre, würde ich für die Möglichkeit, vom Dachboden wegzukommen und spazieren zu gehen, jeder Gefahr trotzen. Aber vielleicht weiß ich einfach nicht, wie es sich anfühlt, wenn man vermuten muss, dass einem jeder, dem man begegnet, nach dem Leben trachtet.

Eine mit Taschen beladene Frau kommt an uns vorbei, und Salas Atem geht schneller. Sie zuckt zusammen, als der Zug pfeift. Sie zuckt zusammen, als ein Auto hupt. Ich befürchte, dass sie gleich in Ohnmacht fällt.

»Sala, du hast keine Zielscheibe auf deinem Rücken«, flüstere ich. »Sie wissen nichts.«

»Aber es fühlt sich so an!«

»In Ordnung. Dann gehen wir einfach schneller.«

Der Weg zu Frau Krawiecka ist weit. Ihr Haus liegt praktisch am anderen Ende von Przemyśl. Jan Dorlich muss an eine Fahrt mit dem Postwagen gedacht haben, als er von einem halbstündigen Weg gesprochen hat. Ich kann mir kaum vorstellen, dass wir es dorthin schaffen, ohne Fragen beantworten zu müssen – nicht, wenn Sala ihr Gesicht von jedem Soldaten oder Polizisten auf der Straße abwendet. Aber heute Abend wirken alle sehr beschäftigt. Hektisch. Keine Zeit, sich mit zwei jungen Frauen abzugeben.

Wir kommen an. Endlich. Steigen die Stufen hoch. Das hier ist kein Wohnblock wie erwartet. Es ist eine Villa.

Irgendwie war mir entgangen, dass Frau Krawiecka unglaublich reich ist. Und jeder, der im Krieg reich geblieben ist, muss mit den Deutschen zusammenarbeiten.

Frau Krawiecka hat womöglich sehr viel zu verlieren.

Jetzt bin ich genauso nervös wie Sala.

Ich hebe die Hand, um anzuklopfen, aber Sala zeigt auf einen Knopf. Eine elektrische Türklingel. Ich betätige sie, höre ein Läuten, die Tür geht auf und dahinter steht ein Mädchen, kaum jünger als wir. Sala wendet sich ab und schrumpft hinter mir in sich zusammen.

Ich lächle. »Könnte ich Frau Krawiecka sprechen, bitte?«

»Warten Sie«, sagt das Mädchen und macht die Tür wieder zu. »Mutter!«, höre ich sie rufen.

Ich tippe nervös mit dem Fuß auf. Wir müssen weg von der Straße. Aber was, wenn Deutsche im Haus sind? Genau jetzt?

Die Tür geht auf.

»Na«, sagt Frau Krawiecka. Sie legt ihre Stirn in tiefe Falten. »Fräulein Podgórska, nicht wahr? Und … oh!«

Sala hat sich umgewandt.

»Oh! Sala!«

Frau Krawiecka scheucht uns rasch in ein Zimmer im hinteren Teil des Hauses und sperrt ab. »Nur um sicherzugehen, dass wir nicht gestört werden!«, sagt sie. »Ich habe nicht vor, Sie zu entführen, Fräulein Podgórska. Für eine Erpresserin halten Sie mich ja schon.«

»Es tut mir leid, ich …«

Aber Frau Krawiecka ist damit beschäftigt, Sala zu umarmen. »Ich dachte, du wärst tot«, sagt sie. »Und dein lieber Papa. Ist er …?«

Sala nickt.

»Setz dich und erzähl mir, was passiert ist.«

Sala erzählt, während ich auf einem Sofa sitze, das so weich ist, dass ich darin versinke.

Frau Krawiecka sagt Dinge wie: »Großer Gott« und »Heilige Mutter Maria!«, ohne dabei respektlos zu wirken. Nicht nur, dass ich mich nicht entschuldigen muss, ich muss überhaupt nicht sprechen. Oder um Hilfe bitten.

»Dreizehn oben, die Nazis unten und Sie dazwischen«, sagt Frau Krawiecka. »Nun denn, Fräulein Podgórska. Sie scheinen ja doch eine ziemlich gerissene Person zu sein.«

Ich glaube, das war ein Kompliment.

Sie geht an ihren Schreibtisch, holt ein Blatt Papier heraus und schreibt mit flinker Hand etwas auf.

»Bringt diese Notiz zur Hintertür und gebt sie dem Mädchen dort. Sie weiß, was zu tun ist. Und jetzt Beeilung. Ich habe meinen Geschäftspartner lang genug warten lassen, auch wenn es sich gelohnt hat. Und wir bringen euch vor der Ausgangssperre sicher nach Hause. Wir wollen ja nicht, dass ihr gesehen werdet, nicht wahr?«

Sie gibt Sala Küsschen auf die Wangen.

»Gut, dass ihr gekommen seid. Ihr seid ja nur noch Haut und Knochen. Ich kümmere mich um alles. Auf Wiedersehen, Fräulein Podgórska. Schön, dass wir zu einem so guten Einvernehmen gekommen sind.«

Und bevor ich mich versehe, rennen wir schon den Flur hinunter und überreichen den Zettel einem Mädchen mit weißer Haube, das dort wartet. Sie liest die Notiz, führt uns schnurstracks durch die Hintertür und lässt uns auf dem Rücksitz eines Autos Platz nehmen. Dann sagt das Mädchen: »Warten Sie hier!«, und verschwindet in der Dämmerung. Es ist schon fast dunkel.

»Glaubst du, sie macht Geschäfte mit den Deutschen?«, frage ich Sala.

»Wahrscheinlich. Bestimmt nimmt sie sie nach Strich und Faden aus.«

»Glaubst du, dass sie gerade mit den Deutschen Geschäfte macht? Dass sie jetzt gerade im Haus sind?«

Sala hebt den Blick zum Haus, bis ganz nach oben zum dritten Stock, und öffnet den Mund, um etwas zu entgegnen.

In diesem Moment macht ein Mann die Autotür auf, drückt uns ein paar schwere Säcke in die Hände, setzt sich auf den Fahrersitz, startet den Motor, und mit einer dicken Abgaswolke setzen wir uns in Bewegung.

Ich bin ein paar Mal Bus gefahren und natürlich mit dem Zug. Aber die sanfte Beschleunigung eines Autos durfte ich noch nie erleben.

Ich will auch eins.

Wir fahren die steile Tatarska-Straße hinauf, als wäre es nichts, und ich bitte den Fahrer, uns eine Ecke weiter am Nonnenkloster abzusetzen. Die Krankenschwestern sollen nicht sehen, wie ich aus einem Auto steige. Wir nehmen die Säcke, die er uns gegeben hat, schlüpfen aus dem Auto und eilen die Straße hinunter, während er davonfährt. Es sind nur noch ein paar Minuten bis zur Ausgangssperre.

»Meinst du, da ist Essen drin?«, flüstert Sala.

Ich nicke.

»Können wir gleich etwas kochen?«, fragt sie. Und schon sind wir im Hof, vorbei am vom Radioschein erleuchteten Fenster, und ich sperre die Tür zur Tatarska Nummer 3 auf.

Zwei uniformierte Deutsche sitzen auf meinem Sofa.

Sala prallt gegen meinen Rücken.

Ich lächle. Als wollte ich ihnen alles verkaufen, was ich habe.

Wahrscheinlich mache ich das auch.

»Guten Tag«, sage ich. Einer der Deutschen steht auf.

»Fräulein Podgórska? Erinnern Sie sich an mich?«

Ich ziehe Sala hinter mir durch die Tür und mache zu.

»Nein, tut mir leid, ich erinnere mich nicht …«

»Ich bin einer der Ärzte aus dem Krankenhaus. Ich habe Ihrer Behandlung beigewohnt.«

Plötzlich ist mir der Augenblick auf dem Behandlungstisch wieder gegenwärtig, und ich erröte. Dann kommt mir der Gedanke, dass dieser Mann sehr gut Polnisch spricht und mir trotzdem nicht erzählt hat, was mit mir geschieht. Und etwas in mir hat nur den Wunsch, Sala unter dem Sofa verschwinden zu lassen.

Meine einzige Hoffnung ist, dass es den deutschen Ärzten nie in den Sinn kommen würde, dass ich kurz vor der Ausgangssperre durch die Tür spaziere, während eine Jüdin meine Einkäufe trägt.

»Das ist meine Freundin Sala«, sage ich. In meinem Nacken bilden sich Schweißtröpfchen.

»Hier.« Ich drücke ihr die übrigen Säcke in die Hand. »Könntest du das für mich wegräumen?«

Sie nickt stumm und bringt die Einkäufe zum Tisch.

Bitte, verlier nicht die Nerven, Sala. Bitte.

Ich nehme mir einen Küchenstuhl und setze mich neben das Sofa.

Ich will wissen, wo meine Schwester ist.

Der deutsche Arzt nimmt wieder Platz, und dann kommt Karin ins Zimmer gerauscht. Ihr Blick wandert sofort zu Sala und dem Essen. Dann wendet sie sich an die Ärzte und sagt etwas auf Deutsch.

Der Arzt sagt: »Karin hat Ihren Fortschritt überwacht …«

Ich werfe Karin einen Blick zu. Ach, hat sie das?

»… und wir sind der Meinung, Ihr Fall sollte weiter untersucht werden.«

»Ich habe kein Interesse an einer weiteren Untersuchung.«

»Aber wir bestehen darauf. Es ist für Ihre zukünftige Heilung unabdingbar.«

»Die Spritze, die Sie mir gegeben haben, hat nichts geheilt. Sie hat mir über sehr lange Zeit Schmerzen bereitet.«

»Aha«, sagt er. »Eine solche Reaktion bedeutet, dass Sie unter Beobachtung stehen sollten, Fräulein Podgórska.« Er fährt fort, als sei das Thema damit erledigt. »Das Krankenhaus wird geschlossen und zurück nach Berlin verlegt. Wir nehmen den letzten Zug heute Abend. Karin hilft Ihnen beim Packen.«

Karin beobachtet mich. Alle beobachten mich.

Ich sehe dem Arzt ins Gesicht und erinnere mich an seinen eifrigen Ausdruck. Neugierig. Während mein Unterleib wie Feuer brannte. Was haben mir diese Leute angetan?

Als ich einen Blick in Richtung Küche werfe, sehe ich, dass die Säcke nicht ausgepackt sind und Sala verschwunden ist. Das törichte Mädchen ist die Leiter hochgestiegen.

Ich richte meine Aufmerksamkeit wieder auf den Arzt, lächle und wische mir eine Schweißperle von der Schläfe, während ich mein Haar richte. »Ich kann heute Abend unmöglich abreisen. Tut mir leid.«

»Es muss heute Abend sein«, sagt er. »Es ist für Ihre weitere Genesung unabdingbar.«

Irgendwie glaube ich, das genaue Gegenteil ist der Fall.

»Ihre Schwester können Sie natürlich mitnehmen«, fügt er hinzu.

Der andere Arzt hat noch kein Wort gesagt. Er zündet sich eine Zigarette an und mustert mich interessiert. In seinem Gürtel steckt eine Pistole.

Meine Möglichkeiten sind begrenzt.

Meine Miene bleibt freundlich. »Ich brauche nur ein paar Minuten zum Packen«, sage ich.

Der erste Arzt wirkt erleichtert. »Das meiste, was Sie brauchen, wird Ihnen von der Klinik gestellt«, meint er. »Wir warten so lange und begleiten Sie und Ihre Schwester anschließend zum Bahnhof.«

Ich lächle wieder und gehe in Richtung Schlafzimmer. Karin folgt mir, und der Arzt sieht sich um.

»Wo ist Ihre Freundin?«

Ich blicke zurück. »Oh, Sala? Sie ist vor ein paar Minuten gegangen, haben Sie das nicht bemerkt? Es ist schon nach neun, und sie will keinen Ärger wegen der Ausgangssperre.«

Ich betrete das Schlafzimmer, und kaum habe ich die Tür geschlossen, fordert mich Karin mit einer Geste zur Eile auf. Die Tür zum hinteren Schlafzimmer steht offen, überall liegen Kleider herum, und Ilse wirft wahllos Schuhe in einen Koffer.

»Schon gut, schon gut!«, sage ich zu Karin und bedeute ihr mit derselben Handbewegung, sich selbst zu beeilen. Dann schließe ich hinter ihr die Tür zum zweiten Schlafzimmer. So als wollte ich mich umziehen. Als hätte ich etwas anderes anzuziehen.

»Hela!«, flüstere ich. Ich schaue unters Bett. Dann unter das zweite Bett, und eines der Dielenbretter bewegt sich. Sie ist im Bunker.

»Komm raus«, sage ich und schnappe mir das Dielenbrett. »Schnell! Bevor die Krankenschwestern dich sehen. Wir müssen packen.«

»Aber wohin gehen wir?«, flüstert sie.

»Nirgendwohin«, sage ich.

Ich schnappe mir eine der Taschen, die ich schon für den Umzug aus der Mickiewicza benutzt habe und die eigentlich ein alter Kartoffelsack ist, und stopfe eine Decke, meine Haarbürste und Helenas Puppe hinein. Damit wir aussehen, als wären wir bereit zur Abreise. Zwei Minuten später kommen Karin und Ilse, mit Hüten und Handschuhen ausstaffiert, die Koffer in der Hand. Karin macht ein zufriedenes Gesicht, als sie Helena und meine Tasche sieht. Ilse wirkt besorgt.

Wir gehen ins Wohnzimmer, als der rauchende Arzt gerade die Diele mit der Leiter begutachtet. Aber er wendet sich ab, sobald er sieht, dass wir fertig sind. Ich nehme Helena an der Hand.

»Gut«, meint der andere Arzt. »Auf der anderen Straßenseite wartet ein Wagen auf uns.«

Er öffnet die Tür und lässt Karin und Ilse den Vortritt, während ich mir mit Helena an der Hand Zeit lasse, damit der rauchende Arzt vor uns geht.

»Oh!«, rufe ich. »Helena, du hast deinen Hut vergessen!«

Helena sieht mir in die Augen. Sie nickt und flitzt ins Schlafzimmer, um ihren Hut zu holen.

Helena besitzt keinen Hut.

Sie kommt nicht zurück.

»Sie kann ihn nicht finden«, erkläre ich dem Arzt. »Ich gehe und helfe ihr suchen.«

Ich mache ein paar Schritte in Richtung Schlafzimmer, die Tasche immer noch in der Hand, und jemand – vermutlich der rauchende Arzt – ruft etwas, in dem das deutsche Wort schnell vorkommt. Der Arzt an der Tür lässt die Klinke los und tritt durch die Haustür, um ihm zu antworten. Er ruft etwas auf Deutsch, was vielleicht heißt, dass wir uns beeilen oder dass das Mädchen seinen Hut holt oder so ähnlich. Und während er das tut, mache ich drei schnelle Schritte durch den Raum, schnappe mir die Klinke, werfe die Tür ins Schloss und schiebe den Riegel vor.

Zwei Sekunden später klappert die Klinke. Die ganze Tür wackelt. Eine Faust schlägt dagegen. Rufe. Der Arzt hämmert noch fester. Was auch immer diese Leute mir angetan haben, sie werden es nicht noch einmal tun. In aller Ruhe laufe ich durch die Zimmer und überprüfe, ob alle Fenster verriegelt sind. Und da eilt Max die Leiter herunter, seine schwere Holzlatte in der Hand.

»Schnell«, flüstert er. »Er hat eine Pistole!« Er zieht mich fort von den dünnen Wänden zu den Steinmauern des Schlafzimmers, schließt die Tür, schnappt sich Helena und drückt uns neben dem Fenster zu Boden. Wo uns eine Kugel nicht erreichen kann.

Der Arzt schreit immer noch und hämmert mit Fäusten gegen die Tür, aber es sind auch andere Stimmen im Hof zu hören. Und obwohl ich die Worte nicht verstehe, spricht der Ton für sich. Sie sind wütend. Oder verängstigt. Sie müssen los. Sie wollen, dass der Arzt mich zurücklässt. Und nach ein paar Minuten tut er das auch, und wir hören quietschende Reifen auf dem Weg die Tatarska-Straße hinunter.

In der nun eingekehrten Stille blicke ich Max an. Die Stille ist wundervoll. Er trägt immer noch kein Hemd und ist verschwitzt von der Sommerhitze auf dem Dachboden.

»Woher wusstest du, dass er eine Pistole hat?«

»Sala hat es erzählt.«

»Und du bist runtergekommen, um mich mit einem Stück Holz zu verteidigen?«

»Mehr habe ich nicht.«

»Ich glaube, in einem Kampf«, sagt Helena, »würde Max gewinnen.«

»Das ist mein Mädchen«, sagt Max.

Ich lehne den Kopf gegen die Wand und lächle. Und dann lache ich. Keine Liebhaber mehr. Kein Essen wird mehr geklaut. Keine Angst mehr bei jedem Knarren der Decke.

Die Krankenschwestern sind fort.

Ich springe auf, steige die Leiter hoch und stecke den Kopf durch die kleine Tür des Verstecks.

»Kommt runter!«, flüstere ich. »Die Krankenschwestern sind weg!«

Sie erscheinen einer nach dem anderen, wie Geister, die zu neuem Leben erwachen, und ich erschrecke, als ich sehe, wie schwer es dem alten Dr. Hirsch und Schillinger fällt, die Leiter herunterzusteigen.

Aber es fühlt sich so gut an, keine Nazis im Haus zu haben.

Ich nehme die Säcke von Frau Krawiecka unter die Lupe und finde vier Kilo Bohnen, vier Kilo Mehl, Kascha, Butter, Salz, einen Sack Kartoffeln und zwei Kohlköpfe. Reichtümer. Wir kochen die Kartoffeln mit Schale, um kein bisschen zu verschwenden, und essen sie mit Butter und Salz. Ich beobachte, wie Monek sich zu seiner vollen Größe aufrichtet und wie Cesia mit ausgebreiteten Armen von Zimmer zu Zimmer läuft, um den freien Raum zu spüren. Janek sucht sich eine Ecke und legt sich auf den Boden. Als wäre er immer noch oben unter dem Dach.

Der Gedanke, die Krankenschwestern könnten wieder auftauchen, liegt nahe.

Max hält Wache am Fenster. Nur für den Fall. Aber er tut es im Stehen.

Ich gehe schlafen. Die Gestapo könnte immer noch kommen. Wir könnten alle getötet werden. Aber dass der Feind nicht mehr im selben Haus lebt, fühlt sich im Vergleich einfach nur friedlich an. Völlig entspannt liege ich im Bett.

Und spät in der Nacht, als die frühe Sommersonne schon bald hinter den Hügeln aufgehen will, höre ich ein Grollen. Ein fernes Donnern.

Ich setze mich auf und lausche. Ein Pfeifen und ein Heulen. Max tritt vom Fenster zurück, und das Donnern schmerzt in meinen Ohren. Das Licht schmerzt in meinen Augen. Die Tatarska Nummer 3 bebt. Dziusia schreit, und ein weiterer gelbroter Lichtblitz durchzuckt die Nacht hinter dem Vorhang.

Und ich weiß, was das bedeutet. Wenn Przemyśl mich eines gelehrt hat, dann das.

Wir werden bombardiert.

Ich kann nur hoffen, dass es russische Bomben sind.