9. Kapitel

Sam

Schnell versteckte ich den Zettel in meiner Hosentasche, als Leena aus dem Badezimmer trat. Sie trug nur eins der grauen Handtücher, die uns Liza, die Besitzerin der kleinen Pension, gestern Abend gegeben hatte. Es wäre gelogen zu behaupten, dass ich ihr liebend gern das winzige Handtuch vom Körper gerissen hätte, um sie danach splitterfasernackt aufs Bett zu werfen.

In dem Moment, als ich den Dodge nach unserem kleinen Ausflug zum Berg gestern Nacht vor ihrer Wohnung geparkt hatte und die Handbremse anzog, hatte sie ihre Hand auf meine gelegt. Ich möchte nicht nach Hause, Sam. Ihre Worte spielten sich in meinem Gedächtnis immer wieder ab. Ich bin heute bereit dafür, spontan zu sein. Ich schluckte in Erinnerung an ihren glasigen Blick und dem schüchternen Lächeln, hinter dem eine gewaltige Portion Mut gesteckt hatte. Überrumpelt hatte ich ihr zugenickt und war ihr in ihre Wohnung gefolgt, wo sie in Windeseile Klamotten und Dinge aus ihrem Badezimmer in ihren Koffer geworfen hatte. Kichernd waren wir die Treppe heruntergeflitzt und zum Dodge gerannt, als täten wir etwas Verbotenes. Ich war zu mir gefahren, um ebenfalls zu packen. Leena hatte derweil im Wagen gewartet, und ich hatte versucht, mein zu schnell pochendes Herz zu beruhigen. Wir würden auf ein kleines Abenteuer gehen.

»Was hast du da?« Neugierig kam sie auf mich zu und wies auf meine Hosentasche.

»Du meinst hier drin?« Mit wackelnder Augenbraue zeigte ich auf meinen Schritt, wofür ich ein Lachen erntete.

»Genau.« Sie verdrehte die Augen. »Genau das meinte ich. Manchmal bist du echt wie ein Zwölfjähriger, Sam.«

»Dann stell nicht solche Fragen.«

»Sag schon«, beharrte sie, doch ich blieb hart und schüttelte den Kopf.

»Nein, ich werde dir nichts verraten.« Diese spontane Übernachtung hatte meinen Tagesplan glücklicherweise nicht über den Haufen geworfen, im Gegenteil, es kam mir gelegen, da wir dadurch einen kürzeren Weg vor uns hatten. Ihre Spring-Bucket-List war noch lange nicht abgearbeitet.

»Samuel«, seufzte sie und ließ sich neben mich auf das Bett fallen, wobei das Handtuch verrutschte und meine Fantasie von null auf hundert sprang. »Meinst du nicht, ich habe genug Überraschungen für dieses und alle weiteren Leben über mich ergehen lassen?«

Ich ließ mich ebenfalls rücklings auf das Bett fallen, sodass mein Kopf ein Stückchen höher als ihrer lag. »Nö.«

»Du bist grausam, Samuel Forsters.«

»Und du hartnäckig, Leena Pierson.«

»Komm schon«, versuchte sie es erneut, und ich biss mir von innen in die Wangen. »Du überlegst es dir gerade, oder?« Aufgeregt klatschte sie in die Hände. »Sag! Was hast du geplant? Das steht bestimmt auf deiner schlauen Liste, die du in der Hosentasche versteckst.«

In gespielter Empörung riss ich den Mund auf. »Du Spitzel!«

»Ach, komm schon«, grinste sie. »Das ist offensichtlich.«

»Weißt du, was nicht offensichtlich ist? Was wir heute unternehmen«, konterte ich, setzte mich wieder auf und klatschte ihr mit der Hand auf den nackten Oberschenkel. »Und jetzt zieh dich an. Warm!«

Sie verdrehte die Augen und rieb sich über das Bein. »Ich dachte, mein Pullover wäre wärmer gewesen.«

Ich lachte und deutete zum Badezimmer. »Ich gehe duschen.«

Auf dem Weg zur Rezeption wuschelte ich ihr durch ihre Haare, die sie seit zwei Tagen ununterbrochen offen trug. Leena taute in meiner Gegenwart auf, und ich fühlte, dass sie die Überraschungen genoss. Ich hatte das gleiche Gefühl, das ein Kind am Weihnachtsmorgen hatte, sobald es sein Wunschgeschenk unter dem Baum entdeckte. Eine Million Glücksgefühle strömten durch meinen Körper, und ich konnte mir nichts Schöneres vorstellen. Leena zu zeigen, dass ihre Wünsche nicht nur eine schnöde Liste bleiben mussten, bereitete mir eine ungeheure Freude. Niemals hätte ich gedacht, was sich dabei zwischen uns entwickelte.

»Okay«, gab ich schließlich nach, als wir die Taschen ins Auto luden. »Ich muss dich sowieso einweihen.« Triumphierend blinzelte ich sie an. »Das kann ich heute nämlich leider nicht allein vorbereiten.«

»Eigentlich wollte ich die Vorbereitungen mit dir gemeinsam in Saint Mellows treffen, aber wir fahren jetzt zu einem anderen Supermarkt und suchen uns da alles zusammen für …«

»Ein Picknick«, unterbrach sie mich lächelnd, und ich nickte. »Ich hatte mich gefragt, wann es dran sein würde.«

»Echt?« Verwirrt legte ich den Kopf schief. »Warum?«

»Ich steh auf Picknicks. Als Sue und ich Kinder waren, haben wir ständig in den Gärten unserer Eltern gepicknickt. Das war voll unser Ding.«

»Das klingt schön.« Ich ignorierte das mulmige Gefühl in meinem Magen. Ich musste endlich damit zurechtkommen, wenn andere von ihren Kindheitserinnerungen erzählten. Irgendwann musste es mir gelingen, die Erinnerungen anderer nicht mit meinen eigenen zu vergleichen.

»Das ist es«, lächelte sie verhalten, doch ich sah sie die Stirn runzeln, ehe sie den Blick abwandte. Hatte sie wieder gemerkt, wie ich mich versteifte? Verdammt! »Lass uns fahren«, murmelte sie, öffnete die Beifahrertür und verfrachtete ihren Koffer hinter dem Sitz, ehe sie sich auf ihren Platz fallen ließ.

Ich atmete tief ein und wieder aus, ehe ich um den Dodge herumlief und mich schließlich hinter das Lenkrad setzte.

Die zwanzig Minuten zum nächsten Supermarkt hatte niemand von uns ein Wort gesagt, was für mich Bestätigung genug war, dass Leena etwas gemerkt hatte. Ich wollte es ihr erzählen, war aber noch nicht bereit. Die Zeit mir ihr war so schön, verging wie im Flug, und es fiel mir schwer, darüber zu reden. Gott, es fiel mir ja sogar schwer, daran zu denken. Vielleicht würde es mich obendrein zurück in das schwarze Loch werfen, aus dem ich über die Jahre herausgeklettert war. Ich wollte nicht riskieren, unser Abenteuer zu versauen. Ich parkte den Wagen, stieg aus und wartete auf Leena, doch es geschah nichts. Stirnrunzelnd ging ich um das Auto herum zu ihrer Tür, öffnete sie zögerlich und hielt ihr meine Hand hin. »Kommst du mit rein?«

»Ja«, murmelte sie mit einem winzigen Anflug von Bitterkeit und schloss für einen Moment die Augen, wie um sich zu sammeln. »Natürlich.« Sie ignorierte meine Finger und stieg aus dem Wagen, sah mich dabei nicht an und stob herüber zum Eingang des Supermarktes.

»Ach, scheiße«, fluchte ich und stampfte mit dem Fuß auf, ehe ich den Dodge abschloss und ihr folgte. »Versau es nicht«, bat ich mich selbst und holte tief Luft.

»Weintrauben?« Ich hielt eine gut bestückte Staude hoch.

»Hm.«

»Snacktomaten?«

»Ja.«

»Apfeltörtchen?«

»Meinetwegen«, brummig starrte Leena das Gebäck an, das ich ihr hinhielt.

»Leena«, seufzte ich, legte alles in unseren Einkaufswagen und machte einen Schritt auf sie zu. »Ich kann einfach noch nicht«, presste ich hervor, als würde jedes Wort mir Schmerzen bereiten. »Okay?«

Endlich hob sie den Kopf an. Ihren Mund hatte sie zu einer Seite verzogen, und ihre Augen strahlten nicht mehr auf die gleiche Art, wie sie es die letzten Tage getan hatten. »Ja. Klar. Das ist in Ordnung«, seufzte sie ebenfalls und zeigte auf Schokoladenmuffins. »Die da auch.«

»Blaubeere auch?«

Ich sah ein flüchtiges Lächeln in ihrem Gesicht aufblitzen. »Unnötige Frage.« Ich warf die Muffins in den Wagen, trat einen Schritt auf sie zu, was sie nicht kommen sah, da sie mir den Rücken zugewandt hatte. Stürmisch legte ich von hinten die Arme um sie, was sie aufquieken ließ. »Erschreck mich nicht so«, lachte sie und trommelte auf meine Arme, damit ich sie freiließ.

»Gib mir noch ein bisschen Zeit«, murmelte ich an ihr Ohr, ehe ich die Arme sinken ließ.

Langsam drehte sie sich zu mir um, und das Runzeln ihrer Stirn ließ mein Herz vor Furcht einen Schlag aussetzen. Sie nickte wortlos und wies mit dem Daumen hinter sich. »Ich gehe zum Käse. Wir treffen uns an der Kasse.«

»Okay?« Verunsicherung lag in meiner Stimme, doch sie hörte es nicht, da sie sich, ohne eine Antwort abzuwarten, umdrehte, um im nächsten Gang zu verschwinden. Ich schlenderte gedankenversunken durch den Supermarkt und packte hier und da ein paar Lebensmittel in den Wagen. Cracker, Gummibärchen, Orangensaft. Schon von Weitem entdeckte ich neben der Kasse einen Aufsteller mit frühlingshaft gestaltetem Krimskrams und legte einen Zahn zu, damit ich vor Leena dort sein würde. »Perfekt!« Ich griff nach einem Paar superhässlicher Socken mit Muffinaufdruck und warf sie in den Wagen. »Und die«, murmelte ich und entschied mich für ein weiteres, hellblaues Paar, auf dem Baby-Kätzchen tollten.

»Was hast du da?« Leenas Stimme, die direkt hinter mir auftauchte, erschreckte mich, sodass ich zusammenzuckte, als hätte sie mich bei einer Schandtat erwischt.

»Ich hake einen weiteren Punkt deiner Liste ab«, grinste ich und hielt ihr die Socken vor die Nase. »Sind die hässlich genug?« Ich wies mit ausgestreckter Hand auf neongrüne Socken mit neonpinken Tulpen, die bereits im Wagen lagen.

Leena folgte meinem Blick und schmunzelte, griff danach und nickte. »Die sind wirklich absolut furchtbar«, lachte sie und schielte an mir vorbei. »Zeig mal, gibt es noch mehr?«

»Mehr?« Ich hob eine Augenbraue an, setzte aber einen Schritt zur Seite, damit sie an den Ständer herankam.

»Ich liebe grässliche Socken«, erklärte sie mir schulterzuckend.

»Ernsthaft?«

»Jep.«

»Aber du hast ganz normale Socken an?« Ich zeigte auf ihre Füße, die in Boots steckten.

»Ja, ich …« Sie verzog den Mund, und ich sah sie erröten. »Ich wollte nicht gleich alles von mir zeigen.« Sie betonte das Wort extra, und ich konnte nicht sagen, ob das positiv oder negativ war. Oder ob sie mir damit vielleicht etwas hatte sagen wollen.

»Du stehst also auf scheußliche Socken, ja?« Ich wackelte übertrieben mit den Augenbrauen und nickte zum Ständer.

»Je grausiger, desto besser«, grinste sie, und eine zarte Röte zeichnete sich auf ihren schneeweißen Wangen ab.

»Wenn das so ist.« Vorsichtig schob ich sie zur Seite, um freie Bahn zum Sockenaufsteller zu haben, und schleuderte blitzschnell alle Motive, die es gab, in unseren Korb.

Leenas verunsichertes Lachen und die Berührung ihrer Hand an meinem Unterarm ließen mich stocken. »Was wird denn das?«

»Ich kaufe Socken«, teilte ich ihr schulterzuckend mit.

»Du musst doch nicht alle kaufen«, lachte sie schallend und hielt sich die Hand an die Stirn, wie um sie zu kühlen. »Oder willst du sie Rupert schenken? Der findet die bestimmt auch richtig super.«

»Muss nicht, will aber.« Sie griff an mir vorbei zum Einkaufswagen, rechnete jedoch nicht damit, dass ich schneller sein würde. Ich kickte ihn mit dem Fuß ein Stück vor, schnellte an ihr vorbei und rannte die letzten Meter zur Kasse, von der mich die Kassiererin angrinste.

»Endlich kauft jemand diese hässlichen Teile, dann sind wir sie los«, lachte sie, und ich las auf ihrem Namensschild, dass sie Bridget hieß.

»Psst«, vernahm ich Leena neben mir, die sich den Finger vor die Lippen hielt und Bridget zuzwinkerte. »Die Socken können Sie hören.«

Grinsend schüttelte die Verkäuferin den Kopf, während sie unseren Einkauf in Papiertüten verstaute. »184,73 Dollar.«

»Mit Karte«, murmelte ich und versuchte, meine Kreditkarte vor Leena zu verstecken.

»Wow!« Anerkennend, aber sanft, rammte sie mir ihren Ellenbogen in die Rippen. »Die ist ja dick.«

»Mhm«, bestätigte ich und schob die schwarze AMEX wieder in mein Portemonnaie. Wir verließen den Supermarkt, und es war, als hätten wir die Seiten gewechselt, denn jetzt versuchte zur Abwechslung Leena, die Stimmung zwischen uns zu kitten.

»Sam?«

»Jep?« Ich warf die Einkäufe ruppiger als beabsichtigt auf die Ladefläche des Dodges.

»Ich wollte dich nicht verletzen. Aber ich verstehe nicht, was los ist.« Sie wich keinen Zentimeter von mir, entließ mich nicht. Ich saß in der Falle, eingesperrt zwischen der geöffneten Autotür, dem Dodge und Leena.

Seufzend vergrub ich meine Finger in den Taschen meiner Jeans. »Ich möchte nicht, dass du irgendetwas Blödes von mir denkst.«

»Weil du eine fette schwarze American Express hast?« Erstaunt zog sie eine Augenbraue in die Höhe. Oh, oh. Das war kein gutes Zeichen.

»Ja?«

»Du glaubst also, dass ich mir eine Meinung über Personen bilde, sobald ich von ihrem möglichen Kontostand erfahre?«

Fuck. Ich schluckte und spürte, wie meine Fingerspitzen eiskalt wurden. Ich fasste mir in den Nacken und zwang mich, ihren Blick zu erwidern. Ihre Direktheit kam manchmal zu überraschend. »Nein. Natürlich nicht.«

»Dann ergibt deine Erklärung aber keinen Sinn.«

»Es tut mir leid, das steckt in mir.«

Sie seufzte, und ich erkannte Mitleid in ihrem Blick. »Was denn?«

Konnte sie es nicht auf sich beruhen lassen? Ich versuchte, die aufsteigende Wut in mir im Zaum zu halten, doch fühlte ich mich in die Ecke getrieben. Nicht nur körperlich, sondern auch verbal. »Was wird das hier, Leena? Ein Verhör?«

Getroffen zuckte sie zusammen und zog unsicher die Augenbrauen hoch. »Natürlich nicht«, zischte sie. »Ich möchte dich nur verstehen. Aber habe ich wirklich etwas Übergriffiges gesagt, als ich einen nebensächlichen Kommentar über deine blöde Kreditkarte abgelassen habe? Falls ja, tut es mir wirklich leid, Sam. Aber ich verstehe es trotzdem nicht.«

Angriffslustig setzte sie einen Schritt auf mich zu. Sie war auf Konfrontationskurs. Das konnte sie gern haben. »Du vergisst dabei, dass Worte, denen du kein Gewicht beimisst, nicht die gleiche, nichtige Bedeutung für dein Gegenüber haben müssen, Leena.«

»Das war jetzt absolut unnötig«, fauchte sie mir entgegen, setzte einen Schritt zurück und trampelte um den Dodge herum, um einzusteigen. Sie donnerte die Autotür so stark hinter sich ins Schloss, dass der ganze Wagen wackelte. Sah ganz so aus, als hatte ich einen Nerv getroffen, doch war ich derart wütend, dass ich in diesem Moment kein Interesse daran hatte, sie zu beschwichtigen. Selbst wenn meine Worte zu harsch gewesen waren. Niemand wurde gern in eine Ecke gedrängt. Auch Leena hatte nicht das Recht dazu. Ich atmete tief durch, ehe ich ebenfalls in den Wagen stieg und gefrustet den Motor startete. Dieses Mal würde ich nicht derjenige sein, der versuchte, das Loch im Bug zu kitten.

Leena

Die Luft im Wageninneren wurde immer dünner. Daran änderte auch das geöffnete Fenster auf Sams Seite nichts. Die ersten zwanzig Minuten hatte in mir ein Vulkan gebrodelt. Ich war unglaublich sauer auf ihn gewesen. Darauf, wie er mich gerügt und dargestellt hatte, als wäre ich ein abweisender Arsch ohne Einfühlungsvermögen. Je länger wir uns anschwiegen, desto mehr reflektierte ich meine eigenen Worte. Nicht nur das, ich überdachte auch, wie ich ihn zur Rede gestellt hatte. Ich hatte ihm kaum Möglichkeit gegeben auszuweichen. Es war zwar nicht das erste Mal, dass wir uns in der Wolle hatten, doch war es das erste Mal, dass es über eine Kabbelei oder eine kurze Meinungsverschiedenheit hinausging. Das war wohl unser erster, handfester Streit. Egal, wie ich es drehte und wendete: Ich war der springende Punkt, und es war empathielos von mir gewesen. Es war sein gutes Recht, seine Kreditkarte vor mir zu verstecken, aus was für einem Grund auch immer. Ja, ich fand es albern. Aber das war mein Empfinden. Vielleicht hatte er vergessen, dass ich, wie alle Bewohner aus Saint Mellows, um den Reichtum der Forsters wusste. Daher hatte es mich nicht gewundert, als er die Karte hervorzauberte, die vier Mal so viel wog wie meine stinknormale VISA. Ich konnte es mir nur damit erklären, dass es mir unangenehm war, wenn er für mich zahlte. Das Thema hatten wir am Abend unseres ersten Ausflugs in das Autokino abgehakt, und seitdem hatte ich mich nicht mehr getraut, es anzusprechen. Ich wollte mich nicht daran gewöhnen, dass jemand für mich aufkam. Auch nicht Sam. Es verletzte mich wirklich, dass er annahm, ich würde ihn danach beurteilen, wie viel Geld er besaß. Das war mir so was von scheißegal. Ja, ich war kein Fan überprivilegierter Muttersöhnchen, die sich benahmen, als gehörte die Welt ihnen. Doch Sam sollte klar sein, dass ich nicht auf diese Weise über ihn dachte.

»Wie lange fahren wir noch?« Ich schluckte und räusperte mich. Leider schwang in meiner Stimme Gereiztheit mit, dabei hatte ich ehrlich versucht, neutral zu klingen.

»Bald da«, brummte er, ohne den Blick von der Straße abzuwenden oder mit der Wimper zu zucken.

»Okay«, murmelte ich und setzte mich aufrecht hin. »Erklärst du mir, warum es dich stört, dass ich deine Kreditkarte gesehen habe?« Ich kam nicht umhin: Ich wollte dieses Thema klären.

Angestrengt stieß er Luft aus seinen Wangen und sah für einen flüchtigen Blick zu mir herüber. »Es gibt keinen expliziten Grund, weshalb ich sie vor dir versteckt habe, Leena. Es ist eine Angewohnheit, und ich ziehe es einfach vor zu verbergen, wie voll unsere Konten sind.«

»Unsere?« Verdattert legte ich den Kopf schief und sah Sam seufzend ausatmen.

»Wir haben Familienkonten, ich greife zwar nur auf mein eigenes Geld zu, das ich während des Colleges verdient habe, aber diese blöde Kreditkarte streut eben andere Gerüchte.«

»Aber Sam«, murmelte ich und setzte mich schräg hin, um ihn anzusehen. »Ich bin von nichts anderem ausgegangen, und selbst wenn?«

»Selbst wenn?«

»Weißt du, selbst wenn du mit dem Geld deiner Eltern zahlen würdest, wäre es mir egal. Wenn ich es könnte, würde ich auch finanziell für meine Kinder sorgen, egal, ob sie 18 sind oder frisch vom College kommen. Ich meine, die Wiese, auf der wir notgelandet sind, gehört deinen Eltern.«

Sam schnaubte. »Richtig.«

»Und die Waldhütte. Ich habe eure Garagen gesehen, das Haus«, zählte ich auf. »Eure Einfahrt ist von Bäumen gesäumt.«

»Gut aufgepasst«, erwiderte er schnippisch und presste die Kiefer aufeinander. Ich ignorierte seine Art, denn ich erkannte, was er tat: Er fuhr eine Mauer hoch, um sich selbst zu schützen.

»Wusstest du, wie teuer Bäume sind? Dein Nachname ist in Saint Mellows mindestens so gegenwärtig wie Annes Marshmallow-Torte.«

Ein verächtliches Lachen drang aus seiner Kehle. »Leena, worauf willst du bitte hinaus?«

»Darauf, dass es mir leidtut«, nuschelte ich und senkte den Blick.

»Wie bitte?« Ich hörte ihm an, dass er verwirrt war.

»Ich versuche hier, mich zu entschuldigen, du Kohlkopf«, murrte ich. Zögerlich hob ich den Kopf, sah ihm ins Gesicht.

»Deine Art, dich zu entschuldigen, ist ausbaufähig«, grinste er, und das Grübchen auf seiner Wange feuerte die Schmetterlinge in meinem Bauch an.

»Ich kann es auch lassen.«

Er lachte auf und schüttelte den Kopf. »Leena.«

»Was denn?«

»Nichts«, grinste er. »Ich sage einfach gern deinen Namen.«

»Aha.«

»Bist du jetzt beleidigt?«

Ich verschränkte die Arme vor der Brust und versuchte, das Grinsen zu unterdrücken. »Irgendwie schon. Ja. Kann sein.«

»Dann hör einfach auf damit«, riet er mir.

»Klar, weil man das Gefühl einfach ablegen kann«, schnaubte ich und drehte mich in meinen Sitz nach vorn.

»Man kann es versuchen«, entgegnete er, und ich realisierte, dass ich unmöglich ein Argument finden würde, das dagegensprach.

»Ich hasse es, wenn du recht hast«, zischte ich und erntete ein weiteres Lachen von Sam. Ich selbst verspürte zwar nicht den Drang dazu, doch ein winziges Lächeln stahl sich dennoch auf meine Lippen. Ich war über meinen Schatten gesprungen und hatte mich bei ihm entschuldigt. Erneut. Am Ende dieser Reise würde ich eine einzige Entschuldigungsmaschine sein. Durch Sam reflektierte ich ständig meine eigenen Worte.

»Wir sind gleich da«, eröffnete er mir, und ich nickte.

»Super.« Ich war in Gedanken und erschrak, weil Sam seine Hand auf meinem Oberschenkel ablegte und darüberstrich.

»Sei mir deswegen bitte nicht böse, okay?« Für einen Moment nahm er den Blick von der Straße und fixierte meine Hände, die ineinandergefaltet in meinem Schoß lagen. Kurzerhand griff er nach einer, um sie langsam zu seinem Mund zu führen. Wie ein Gentleman drückte er mir einen intensiven Kuss auf den Handrücken und lächelte mich dabei an. Das verdammte Grübchen auf seiner Wange ließ mich all die Aufregung vergessen, und ich vernahm nichts weiter als eine Hitzewelle, die sich ihren Weg durch meine Blutbahnen suchte.

»Das sollte ich hinkriegen«, piepste ich und starrte abwechselnd von seinem Profil zur Hand in seinem Schoß, die meine Finger fest umschlossen hielt.

Sam

»Wie viele waren es?« Ich stemmte meine Hände in die Hüfte, was leider seine Wirkung verfehlte, da ich im Schneidersitz auf der Picknickdecke saß.

»Das, lieber Sam, wirst du niemals erfahren.« Ihr Grinsen war so breit, dass ich ihre Backenzähne sah. Schleunig wandte ich den Blick ab, da ich mittlerweile gelernt hatte, dass sie es hasste, wenn man ihr auf die Zähne guckte. Warum auch immer, denn ich liebte ihre Zahnlücke.

»So kann das mit uns nichts werden«, drohte ich und versuchte, nicht ebenfalls zu lächeln.

»Ach nein?« Sie zog angriffslustig eine Augenbraue hoch und drückte den Rücken anmutig durch.

»Nein. Snacks werden fair geteilt. Ich warne dich, Leena.«

Lachend boxte sie mir gegen den Oberarm. »Du wirst niemals erfahren, ob ich mehr Schokolinsen hatte als du. Niemals, Sam.«

»Dann habe ich leider keine andere Wahl«, drohte ich erneut und machte Anstalten aufzustehen.

Verwundert folgte mir ihr Blick. »Was hast du vor?«

»Ich fahre.«

Prustend hielt sie sich die Hand vor den Mund. »Ach ja?«

»Ja.«

»Wohin denn?«

»Zurück!«

Sie biss sich auf die Unterlippe. »Wohin zurück?«

»Nach Saint Mellows.«

»Ernsthaft?«

Ich schien mein Ziel zu erreichen. Der Ausdruck, der ihr aus dem Gesicht fiel, zeigte mir, dass sie mir ein Fünkchen der Lüge abnahm. »Sicher. Ich sagte doch: So wird das nichts mit uns, Leena Pierson.«

Schnaubend stand sie ebenfalls auf und klopfte sich imaginären Dreck von der Jeans. »Mach doch.«

Mist. Leena war dickköpfiger als ich. Ich konnte die Schlacht nicht gewinnen, auch wenn ich sie angezettelt hatte. »Ich werde es tun«, kündigte ich an.

»Ich werde dich nicht aufhalten.« Überlegen richtete sie sich zur vollen Größe auf und hob das Kinn ein Stück an, was ihr ein eiskaltes, beinahe arrogantes Aussehen verlieh. Scheiße, ihr Blick sorgte dafür, dass mir heiß wurde und sich etwas in meiner Körpermitte regte.

»Das tust du aber gerade«, murrte ich und setzte einen Schritt auf sie zu.

»Ach ja?« Überrascht zog sie einen Mundwinkel nach oben und lächelte so verschmitzt sexy, dass ich kurz davor war, den Verstand zu verlieren.

Unverhohlen blickte ich mich auf der weitläufigen Wiese um und verfluchte die anderen Pärchen, die vereinzelt ebenfalls hier picknickten. »Sei froh, dass wir nicht unter uns sind«, flüsterte ich an ihr Ohr und sog gierig ihren frischen Duft ein, von dem ich niemals genug bekam.

»Was würde denn sonst geschehen?« Sie suchte schluckend meinen Blick. Ihr Atem ging schneller als noch vor einer Minute.

Statt zu einer Antwort anzusetzen, überbrückte ich die letzte Distanz zwischen uns, umfasste ihr Gesicht und drückte ihr einen begierigen Kuss auf die Lippen. »Reicht das als Antwort?« Meine Stimme glich einem Knurren.

Sie schüttelte lächelnd den Kopf. »Ich habe absolut keinen Schimmer, was du mir damit sagen willst.«

»Verdammt, Leena.« Ich griff an ihren Rücken und drückte meinen Körper gegen ihren. Ihr Seufzen, als sich meine anwachsende Erektion an ihren Bauch drängte, war Bestätigung genug. »Deutlicher kann ich es dir leider nicht zeigen.«

Sie öffnete sachte die Lippen, ihr Atem ging unregelmäßig, und ihre sonst so blauen Augen wurden innerhalb weniger Sekunden von ihren tiefschwarzen Pupillen verdrängt. Scheiße. Mist. Verdammt. Nicht hier, nicht jetzt. Sie stellte sich auf die Zehenspitzen, wobei sie keinen Millimeter Luft zwischen uns ließ. Einnehmend suchte ihr Mund den meinen, und sie fuhr mir mit der Zungenspitze über die Lippen. Ein leises Stöhnen drang aus meiner Kehle, und ich gewährte ihr Eintritt, begrüßte ihre Zunge mit meiner. »Ich glaube, jetzt verstehe ich«, hauchte sie lächelnd zwischen zwei Küssen, wobei ihr warmer Atem dafür sorgte, dass ich die Kontrolle über meine Gedanken verlor.

»Gut«, flüsterte ich, fuhr mit den Händen von ihrem Nacken ihren Rücken entlang und umfasste fordernd ihre Pobacken.

»Sam«, keuchte Leena und schnappte nach Luft, blickte sich um. »Hier sind Leute«, kicherte sie verstohlen.

»Na und?« Ich hätte es nicht für möglich gehalten, doch ihre schwarzen Pupillen wurden noch einnehmender, sodass kaum etwas von ihrer meeresblauen Iris zu sehen waren. Um ihre Gleichgültigkeit gegenüber den anderen Anwesenden zu unterstreichen, wanderte ihre Hand von meinem Rücken langsam über meinen Bauch, bis sie schließlich über die Beule in meiner Hose strich. Dabei verlor sie mich keine Sekunde aus den Augen, was mich schlucken ließ. Sie spielte wirklich nicht fair. Ein keuchendes Stöhnen verließ meine Lippen, und ich griff nach ihrer Hand. »Stopp, stopp,« lächelte ich verzweifelt und fuhr mir mit der anderen Hand durch die Haare.

»Angsthase«, grinste sie und packte einmal fester zu, ehe sie die Hand wieder an meiner Seite entlang zu meinem Gesicht wandern ließ. Sie strich mir über die Wange, wobei durch den Dreitagebart ein kratzendes Geräusch entstand, und küsste mich brav auf die Lippen. Sie setzte einen winzigen Schritt nach hinten und warf einen flüchtigen, ungenierten Blick auf meine Mitte. Die Art, wie sie sich lächelnd auf die Unterlippe biss, den Kopf schief legte und abschließend mit den Schultern zuckte, gab mir den Rest. Ich verfluchte, dass wir nicht in Saint Mellows waren. Diese ach so tolle Picknickwiese hier wurde auf TripAdvisor gefeiert, doch verstand ich nicht, warum. Wir hätten auch auf der Mellowianer Festwiese picknicken können, die deutlich näher an ihrer Wohnung lag.

»An was denkt du?« Sie grinste mich an und ließ sich auf der Decke nieder, steckte sich beiläufig eine Weintraube in den Mund. Als hätten wir uns vor zehn Sekunden nicht beinahe gegenseitig die Kleider von den Leibern gerissen.

Lachend fuhr ich mir mit den Händen durch die Haare und schüttelte ungläubig den Kopf. »Meinst du die Frage ernst?«

Schulterzuckend grinste sie mich an und steckte sich eine zweite Weintraube in den Mund. »Klar.«

»Kannst du bitte aufhören, dir Dinge in den Mund zu stecken?« Mein Wunsch klang bestimmend, was sie nicht mochte. Sie hielt in der Bewegung inne, hob einen Mundwinkel an und umschloss provokativ eine weitere Traube mit ihren Lippen. Zu allem Überfluss senkte sie genießerisch die Lider. »Ich schwöre dir, Leena. Wenn du das jetzt nicht lässt, kann ich für nichts garantieren.« Ich fasste mir in den Hosenbund, um meinen vor Erregung schmerzenden Schritt zu richten. Leena quittierte es, indem sie sich eine letzte Weintraube in den Mund steckte, nachdem sie gefühlvoll an ihr geleckt hatte. »Du Biest, meine Hose ist zu eng dafür, das wirst du büßen.«

»Okay«, lächelte sie, nachdem sie alles heruntergeschluckt hatte. »Ich hatte übrigens mindestens sechs Schokolinsen mehr als du«, verriet sie mir und grinste überlegen.

»Du Monster«, lachte ich und versuchte mich zu setzen, ohne dass meine Hose platzte. Mein Mund wanderte zu ihrem Ohr, und ich drückte ihr einen liebevollen Kuss dahinter. »Das wirst du bereuen«, flüsterte ich und fuhr mit zärtlichen Küssen eine imaginäre Spur ihren Hals entlang.

»Ich glaube nicht«, antwortete sie mit erstickter Stimme, und mit Genugtuung stellte ich fest, wie sich ein Zittern in diese mischte.

»Oh doch«, erwiderte ich und schnippte ihr gegen den Oberschenkel. »Ich glaube schon.«

»Das werden wir sehen.«

Lachend griff ich nach einem Muffin und hielt ihr diesen vor das Gesicht. »Ich hab’s mir anders überlegt«, erklärte ich. »Bitte, steck dir ganz viel in den Mund. Hauptsache, ich verstehe kein weiteres deiner frechen Widerworte.«

Statt mir den Schokoladenmuffin abzunehmen, biss sie ein riesiges Stück ab und grinste mich mampfend an. »Okay.« Schulterzuckend kaute sie, doch konnte sie mir nichts vormachen. Ihre Pupillen waren so groß wie Untertassen. Was war das mit uns? In einem Moment verletzten wir uns durch Worte. Und im nächsten waren sie das Schönste, das ich mir zu hören vorstellen konnte. Es war gefährlich, denn Leena entwickelte sich zu mehr als zu einer Frau, die ich einfach näher kennenlernen wollte. Doch war sie auch undurchsichtig und ging selten auf meine Anspielungen ein. Schüchterten sie diese ein? Was war es, das ihr jetzt, in diesem Augenblick, diesen Mut gab? Es bestand die Möglichkeit, dass sie das Abhaken ihrer Spring-Bucket-List zwar genoss, aber fest damit rechnete, dass alles zwischen uns vorbei sein würde, sobald wir das letzte Häkchen gesetzt hatten. Egal. Ich sollte endlich anfangen, im Moment zu leben und Augenblicke wie diesen zu genießen, statt sie zu hinterfragen. Um mich selbst zu überzeugen, legte ich meinen Arm um ihre Schultern und zog sie nah an mich, drückte ihr einen Kuss auf die Lippen. Nach einer ersten Schrecksekunde ließ sie sich auf ihn ein. Sie schmeckte nach Schokolade, und gleichzeitig vernahm ich ihren betörenden Duft nach Apfelblüten.

Sie griff an den Kragen meiner Jacke und drängte sich mir gierig entgegen, seufzte selig und biss mir auf die Unterlippe. Sie schmunzelte, drückte mich herunter auf die Decke und setzte sich rittlings auf mich.

»Was machst du da, Leena?«

Sie warf lachend den Kopf in den Nacken. »Was ich hier tue? Du hast doch angefangen.«

»Komm her«, erwiderte ich und umfasste ihre Taille.

Sie schaute von links nach rechts und senkte schließlich grinsend ihren Mund auf meinen. »Niemanden interessiert, was wir hier tun«, flüsterte sie an meinen Lippen und bewegte ohne Vorwarnung ihre Hüften in kreisenden Bewegungen.

»Dann spricht ja nichts gegen das hier«, krächzte ich, drückte ihr meine Erregung entgegen und entschied, genauso weit zu gehen, wie Leena bereit sein würde.

»Sei still«, befahl sie mir und senkte ihre Lippen erneut auf meine. Anders als erwartet, entwickelte sich kein drängender, wilder Kuss, sondern ein zarter, rücksichtsvoller. Langsam bewegte sie ihren Mund auf meinem, und ich spürte ihre langsamen Bewegungen auf mir mit jeder Faser meines Körpers. Eine Gänsehaut legte sich auf mich, wanderte vom Nacken hinab bis zu den Beinen. Zaghaft strich ich mit den Händen über ihren Rücken und wünschte mir, zwischen uns lägen keine Kleidungsschichten.

Tief einatmend, löste sie sich von mir und ließ sich neben mich sinken, schmiegte sich nah an mich und umfasste meinen Oberkörper mit ihren Oberarmen. »Mehr nicht«, murmelte sie lächelnd. »Nicht hier.«

Ich streckte den Arm aus, damit sie sich auf ihm betten konnte. »So ist es mehr als in Ordnung«, nuschelte ich in ihr Haar und drückte ihr einen Kuss auf den Scheitel. Statt zu antworten, hob sie ihren Kopf an, damit sich unsere Blicke begegneten. Sie lächelte mir scheu zu, und ich verstärkte den Griff um ihren Körper. Leena raubte mir den Verstand. Jede Minute ein Stückchen mehr, und ich war absolut gewillt, ihr alles von mir zu geben, was sie wollte. Alles.