Epilog

Leena

5 Monate später.

Die ersten feuerroten gefallenen Blätter des Herbstes sammelten sich in den sanften Wellen, die am Ufer des Sees ausliefen. Die heiße Sommerbrise hatte dem frischen Herbstwind Platz gemacht, der kräftig um unsere Nasen wehte. Bedachtsam, damit er es nicht bemerkte, wandte ich den Kopf zu Sam, der mit gesenkten Lidern neben mir am Ende des Stegs saß und die Welt fühlte. Ich lächelte. Es war zur Tradition geworden, dass wir am Tag seiner Rückkehr zu unserem See fuhren, tief durchatmeten und uns an all das erinnerten, was seit unserer Begegnung im Frühling geschehen war. Sosehr es mir das Herz brach, ihn für einige Tage gehen lassen zu müssen, so sehr sprang es auf und ab, sobald er wieder in meiner Wohnungstür stand. Ich krampfte die Finger um das Papier, das ich zusammengefaltet in der Tasche meines übergroßen Woll-Cardigans versteckt hielt. Nervös legte ich den Kopf schief und schirmte meine Augen mit der freien Hand vor der Sonne ab, die hoch am Himmel stand. Das hier war ein vollkommener Moment. Wie das unaufdringliche Plätschern des Sees sich mit dem Geschnatter der Enten mischte, die sich bald auf den Weg in wärmere Gefilde begeben würden. Der Geruch von frischem Laub, gepaart mit dem markanten Duft der Nadelbäume, kribbelte in meiner Nase. Langsam, um nichts zu verpassen, ließ ich den Blick um den See kreisen, nahm all die Farben in mich auf, vom Orangerot der Bäume über das Grau des Sees bis zum satten Blau des Himmels. Das hier war er. Das hier war der schönste Fleck auf der gesamten Welt, und doch hatte Sam eine Seite in mir geweckt, von der ich nie gedacht hätte, sie zu besitzen.

»Einen Penny für deinen Gedanken«, riss mich Sams ruhige Stimme aus der Trance. Kopfschüttelnd ließ ich den Kopf auf seine Schulter sinken, nachdem ich ihm mit einem breiten Grinsen einen Kuss auf die Lippen gedrückt hatte. Ich strich über das Papier in meiner Jackentasche und zog es hervor.

»Was ist das?« Ich spürte Sam unter mir sachte beben, ehe er mir wie so oft einen Kuss auf den Scheitel gab.

»Listen«, murmelte ich, übermannt von meiner Aufregung.

»Ah«, lachte er, legte mir seinen Arm um den Rücken, fasste mich am Oberarm und drückte mich fest an sich. »Das ist ja was ganz Neues«, neckte er mich, wofür er einen lockeren Klatscher auf den Oberschenkel erntete. »Autsch.«

»Das hast du verdient«, murrte ich trotzig, konnte mir ein Grinsen allerdings nicht verkneifen.

»Darf ich sie sehen?« Er hielt mir die Handfläche hin, doch ich schüttelte den Kopf, richtete mich auf.

Ich schluckte. »Warte«, bat ich ihn. »Das sind zwei Listen«, erläuterte ich und wedelte damit herum. Sam wartete nachsichtig, bis ich weitersprach. Ich faltete die obere auf und seufzte, fühlte mich nackt, auch wenn ich wusste, dass es nichts gab, wofür ich mich vor Sam zu schämen brauchte. »Das ist eine Liste mit Orten, die ich mit dir bereisen möchte.« Ich bemerkte, wie das Papier vor unseren Augen auf und ab wankte, da meine Finger zitterten.

Sam griff nach meiner eiskalten Hand, um sie zu stützen. »Rom?«, las er vor, und ich nickte.

»Ich habe mir viele Jahre vorgemacht, nichts weiter zu brauchen als Saint Mellows. Irgendwie stimmt das«, flüsterte ich. »Aber durch dich ist mir klar geworden, dass ich mehr möchte. Zum Glücklichsein brauche ich nur dich und unsere flippige Stadt. Trotzdem wünsche ich mir, mehr zu sehen.«

»Ich buche uns gleich morgen einen Flieger«, flüsterte er in mein Ohr, und ich versteifte mich.

»Sam!« Meine schrille Stimme schreckte ein Entenpaar auf, das direkt vor unseren Füßen plantschte und nun wild quakend davonpaddelte.

Er lachte, hob eine Augenbraue und zog mein Kinn zu seinem Gesicht, um mir einen sanften Kuss auf den Mund zu drücken. »Das war ein Scherz, alles in deinem Tempo«, versprach er mir und senkte seine Lippen erneut auf meine.

»Und das hier«, hauchte ich an seinem Mund, hielt die zweite Liste in die Höhe, »ist eine Auflistung von dem, vor dem ich ohne dich für immer die Augen verschlossen hätte.« Ich löste mich von ihm, spürte, wie er sich versteifte.

»Zeigst du mir sie?«

Ich nickte lächelnd, entfaltete sie und hielt sie vor uns, damit wir beide sie lesen konnten.

»Man muss aus seiner Routine ausbrechen, um zu erfahren, was man liebt«, las Sam flüsternd den ersten Punkt vor, nahm mir die Liste aus der Hand, faltete sie zusammen und verstaute sie in seiner Jackentasche. Er zog mich enger zu sich, griff unter meine Beine und legte sie über seinen Schoß, sodass kein Luftzug mehr zwischen uns passte. »Danke«, flüsterte er in den leisen Wind und senkte erneut die Lider.

Ich wusste nicht, wem dieses Danke galt, doch war das nicht wichtig. Wichtig waren einzig und allein wir. Im Hier und Jetzt.

ENDE