2. Kapitel

Leena

Mit vor der Brust verschränkten Armen stand ich neben Sam und starrte den Hauptgewinn an. »Ich kann das nicht«, murmelte ich und schaffte es kaum, mich davon abzuhalten, angespannt auf meiner Lippe zu kauen. Wo war Sue bitte, wenn ich sie am meisten brauchte? Wie von unsichtbarer Hand geführt, war ich Sam und der Bürgermeisterin zu einem Auto mit riesiger Ladefläche gefolgt, das uns zu einer breiten Wiese außerhalb des Stadtkerns gebracht hatte. Ich checkte nicht, wie lang wir überhaupt unterwegs gewesen waren, da sich meine Gedanken auf Sam fokussierten. Wie auf Kommando prasselten all die Erinnerungen von früher auf mich ein. All die Gegebenheiten, in denen ich ihn heimlich angeschmachtet und mir gewünscht hatte, er würde mir nur ein einziges Mal außerhalb des Cafés Hallo sagen. Ich erinnerte mich an das Kribbeln in meinem Körper, das mich jedes Mal überfiel, wenn er mir eins seiner seltenen Lächeln schenkte, bei dem sich auf seiner linken Wange ein Grübchen bildete, das ich nie hatte vergessen können.

Sam neben mir räusperte sich, ehe er sich mir zuwandte. »Das ist schon ein bisschen enttäuschend. Ich habe ihn doch nicht umsonst hierhergebracht.«

»Du hast ihn hergebracht?« Verständnislos sah ich ihm erst direkt in die waldgrünen Augen und suchte dann mit meinem Blick vergeblich nach Mrs Innings, drehte mich suchend um die eigene Achse. Ich war so in Gedanken vertieft gewesen, dass ich nicht mitbekommen hatte, wie sie verschwunden war.

»Wie darf ich das denn deuten?« Er hielt meinem Blick stand und grinste schelmisch. »Wirke ich auf dich nicht wie jemand, der einen Heißluftballon fahren kann? Glaubst du etwa, ich kann nur Kaffee kochen, Leena?«

Moment! Hatte er mich beim Vornamen genannt? Seine letzte Frage fegte einen Wirbelsturm an Emotionen und Erinnerungen durch meine Venen, und ich versuchte, mir nicht anmerken zu lassen, was es mir bedeutete, dass er mich wiedererkannte. Es bedeutete wiederum auch, dass er gar kein distanzierter, aufgeblasener und egoistischer Arsch war, wie ihm zu Highschool-Zeiten nachgesagt wurde. Doch diese Meinung hatte ich ohnehin nie geteilt. Es konnte aber genauso sein, dass er nichts weiter als ein ausgezeichnetes Namensgedächtnis besaß und ich mehr in diese Situation hineininterpretierte, als sie eigentlich war. Wenn man das Getuschel für bare Münze nahm, war er einer der paar Überflieger gewesen, die es obendrein auf irgendeine Eliteuniversität geschafft hatten. So wie Sue. Ich schüttelte kurz den Kopf, wobei mich meine Haarspitzen am Hals kitzelten. »Du wirst das Teil da fliegen?« Mit einer Hand drehte ich fieberhaft an einem meiner Bienen-Ohrringe, mit der anderen deutete ich auf den unheimlichen hellblauen Ballon, der sich mit Gas füllte.

»Fahren«, berichtigte er meine Worte beiläufig und kam einen Schritt auf mich zu, damit wir uns besser hörten, wahrte jedoch genug Abstand. Damals, als Teenager, war ich jedes Mal fast zu einer Pfütze zerschmolzen, wenn er mir so beiläufig nahe kam, mich berührte, und irgendetwas verriet mir, dass sich das anscheinend bis heute nicht geändert hatte. »Und ja, natürlich. Das wurde mir in die Wiege gelegt.«

Das wusste ich. Jeder Bewohner von Saint Mellows war im Bilde um den Familienbetrieb seiner Eltern. Ich hätte trotzdem nie angenommen, dass er dort wieder mitmischte. Ungeachtet dessen hatte man ihn seit Jahren nicht mehr gesehen, und es gab mindestens zehn Theorien über sein Fernbleiben. Eines Nachmittags war er nicht zu seiner Schicht erschienen und seitdem zu keiner mehr, was mich damals für Monate traurig gestimmt hatte. Denn auch wenn er ein wortkarger, eher in sich gekehrter Grumpy gewesen war, der nichts von sich preisgab, hatte mein naives Kleinmädchenhirn gedacht, wir wären vielleicht so etwas wie Freunde gewesen. Die mellowianische Gerüchteküche brodelte 24/7, da war es klar, dass das Verschwinden von Sam nicht unbemerkt blieb. Täuschte ich mich, oder war seine Stimme mit einem Schlag belegt, als er auf seinen Familienbetrieb verwies? Ich zwang mich dazu, den Blick von ihm abzuwenden. »Schon mal abgestürzt?« Ich versuchte, Zeit zu schinden, denn ich musste mir auf Teufel komm raus eine Ausrede einfallen lassen, damit ich nicht gezwungen war, dieses Ungetüm zu betreten. Warum konnte der Hauptgewinn nicht einfach ein Wellnesstrip sein? Nicht weit entfernt und garantiert nicht irgendwo in dreihundert Meter Höhe.

»Dann würde ich vermutlich nicht hier neben dir stehen.« Lässig steckte er beide Hände in seine Hosentaschen, und mein Puls raste. »Hast du Angst?«

Stichelte er etwa? »Nö.« Ich log wie gedruckt.

»Na dann, komm.« Sam setzte sich in Bewegung, und ich folgte ihm mit meinem Blick. Er war komplett in Schwarz gekleidet, trug ein kohlrabenschwarzes Polohemd unter einer geöffneten Pulloverjacke, auf dessen linker Brust ein hellblauer Heißluftballon und sein Familienname eingestickt waren. Forsters – Samuel Forsters. Dazu eine schwarze Jeans, die ihm unheimlich gut stand, und schwarze Sneakers. Mir fiel auf, dass ich ihm auf den Hintern gestarrt hatte, und ich vergewisserte mich mit einem heimlichen Blick zu seinem Gesicht, dass er es nicht mitbekommen hatte. Er öffnete die schmale Tür zum Innenraum und winkte mich zu sich. Im Gegensatz dazu bewegte mein Körper sich keinen Zentimeter. »Angsthase«, rief er mir zu und legte doch tatsächlich damit los, die erste Bodensicherung zu lösen. Er würde jawohl nicht allen Ernstes ohne mich losfliegen? Erst jetzt fiel mir auf, dass er einem der Frühlingsfesthelfer zunickte, damit dieser uns beim Start half. Mir war gar nicht aufgefallen, dass wir nicht alleine waren. Na super, noch eine Person mehr, vor der ich mir die Blöße geben würde, wenn ich jetzt nicht auf Sam zulief. Wie gern hätte ich Sue an meiner Seite gehabt, mit ihr war jeder Graben nur halb so breit, und ich wusste, dass ich jeden Sprung schaffte.

»Warte!« Ich ballte meine Hände zu Fäusten, atmete wiederholt tief ein und wieder aus. »Ist es nicht zu … windig?«

Sams Mundwinkel zuckte, und er zeigte auf ein paar Fichten, die unweit von uns entfernt wuchsen. Sie wiegten sich kaum im Wind, wobei kaum noch übertrieben war. Sie standen starr da, als hätte Elsa aus Frozen sie ohne Handschuhe angefasst.

»Das bedeutet wohl nein, hm?«, sprach ich mehr zu mir als zu ihm. Wie von einem unsichtbaren Faden gezogen, bewegte ich mich auf Sam zu, der sich unterdessen am zweiten der vier Seile zu schaffen machte.

»Na? Traust du dich doch?«, hakte er eher beiläufig nach, aber ich hatte deutlich gesehen, wie er versuchte, ein Lächeln zu unterdrücken. Er redete mit mir, als wäre er nie fortgegangen, als wären wir Freunde. Ja, das verunsicherte mich, verdammt nochmal.

»Na klar, warum auch nicht?« Meine Stimme war fest. Ich würde mich vor ihm nicht blamieren.

»Hysterisches Rumgeheule und -gezappel kann ich da oben nicht gebrauchen.« Die plötzliche Ernsthaftigkeit in seiner Stimme stieß mich vor den Kopf, und ich zog eine Augenbraue in die Höhe.

»Das werde ich schon nicht tun.« Oh nein. Das klang, als hätte ich soeben zugestimmt mitzufliegen. Dabei wollte ich das gar nicht. Oder doch? Oh mein Gott, was war los mit mir? War ich in diesem Moment überhaupt zurechnungsfähig, oder spielten meine Gefühle mir einen Streich? Ich hatte eine Heidenangst, dieses Teil zu besteigen. Andererseits klopfte mir das Herz bis zum Hals, breitete sich eine seltsame Wärme in meinem Inneren aus und sorgten die Erinnerungen an Sam dafür, dass ich ihm vielleicht kopflos überallhin folgen würde. Okay, Letzteres war übertrieben, denn ich handelte niemals kopflos, niemals. Das war eher Sues Part.

»Ich meine ja nur. Du wärst nicht die Erste. Und glaub mir: Panikattacken da oben sind nicht komisch.«

Ich funkelte ihn entrüstet an und verschränkte abwehrend die Arme vor meiner Brust. »Das sind sie hier unten auch eher selten.«

»Nach wie vor nicht auf den Mund gefallen.« Er nickte mir anerkennend zu. »Das mag ich.«

Ein Kribbeln meldete sich in meinem Unterleib. War ich nicht ganz dicht? Bloß weil ein gut aussehender Kerl, in dessen Liga ich anscheinend nie gespielt hatte, sagte, dass ihm meine Schlagfertigkeit gefiel? Wenn ich diesen Ballon bestieg, brauchte ich dringend einen kühlen Kopf und musste den Umstand ignorieren, ohne Ausweg auf engstem Raum mit Sam zu sein. In was weiß ich wie vielen Metern Höhe. Allein. Mit. Sam. Ohne Sue.

»Was ist, Leena? Steig endlich ein«, forderte er mich auf. Sein triezender Tonfall gefiel mir nicht im Geringsten.

»Ist da jemand ungeduldig?«, forderte ich ihn heraus. Manchmal, leider zu oft, war mein Mundwerk meinem Gehirn eine Nasenlänge voraus. Das verlief absolut in eine falsche Richtung. Nämlich nach oben. Konnten wir nicht einfach einen Kaffee trinken gehen und behaupten, ich hätte meinen absurden Gewinn eingelöst? Der Frühlingsfesthelfer war garantiert bestechlich. Unauffällig hob ich den Kopf an, um zum Himmel zu sehen. Die vereinzelten Wolken saßen friedlich dort. Kein Wunder, sie gehörten ja auch dorthin. Genauso wie die Vögel, die den lieben langen Tag am Horizont entlangjagten. Ich für meinen Teil gehörte mit den Füßen fest auf den Boden. Aber was sollte schon passieren? Außer, dass wir abstürzten und starben? Garantiert war die Wahrscheinlichkeit geringer, als sich auf dem Weg zur Arbeit den Fuß zu brechen. Und das war mir immerhin noch nicht passiert. Sollte ich es echt wagen?

»Zögert da jemand den Flug heraus, weil dieser Jemand sich gleich in die Hosen macht vor lauter Angst?«

»Auf jeden Fall ist da jemand sehr vorlaut«, erwiderte ich augenrollend und genoss diesen kurzen Schlagabtausch mehr, als ich vermutlich sollte.

Sam warf seinen Kopf lachend in den Nacken. »Entweder du kommst freiwillig, oder ich trage dich her. Eins steht fest: Der Ballon ist startklar, und ich werde heute nicht ohne Partnerin hochsteigen.«

»Ist ja gut, ist ja gut, ich komme ja.« Bei dem Gedanken, dass Sam mich tragen und dementsprechend berühren würde, wurden meine Knie zu Brei. Noch mehr, als sie es schon bei dem Wort Partnerin taten.

Es vergingen weitere zehn Sekunden, in denen ich versuchte, mich zu sammeln und derweil keinen Meter auf ihn zusetzte. Es war gar nicht einfach, sich selbst zu überzeugen, dass schon nichts dabei war, wenn sich alles in einem sträubte und Nein schrie. »Zehn … neun … acht …«, zählte er rückwärts und machte Anstalten, wieder auszusteigen.

»IST JA GUT!« Ehe er aus dem Passagierbereich stieg, flitzte ich zur Mini-Tür, kletterte in den überdimensionierten Brotkorb und krallte mich an einem der dicken Seile fest, die den Korb mit dem Ballon verbanden. Wow, Sue wäre sicher stolz auf mich.

»Bist du dir sicher?« In Sams verhaltener Stimmlage schwang überraschenderweise kein Spott mit.

»Ja, klar. Hoch jetzt, bevor ich das alles hier überdenken kann.« Ich war lebensmüde geworden, ohne Zweifel. Sam, der vor wenigen Momenten in der gegenüberliegenden Ecke des Korbes gestanden hatte, kam zu mir herüber, um die schmale Tür zu verriegeln. Ohne Überleitung begann es in meinem Körper an allen möglichen und unmöglichen Stellen zu kribbeln. Sogar die Fußsohlen vibrierten, was garantiert an der Aufregung vor dem Flug lag, versuchte ich mir einzureden. Es lag gewiss nicht an dem Umstand, dass ich allein mit dem Mann in einem Heißluftballon saß, dem ich im Highschool-Alter verfallen war. Der bloße Gedanke daran ließ mir die Röte ins Gesicht schießen. Selbst Sue hatte ich nicht in meine damalige Schwärmerei für Sam eingeweiht, da es mir so unsäglich peinlich gewesen war. »Samuel Forsters.«

»Was?« Sams tiefe, melodische Stimme holte mich aus der Erinnerung. Hatte ich seinen Namen hörbar ausgesprochen? Oh, bitte nicht.

»Was?«, plapperte ich ihm dusselig nach und realisierte im selben Augenblick, dass wir in schwindelerregender Höhe steckten. Das waren mindestens … zwei Meter. »Scheiße!«

»Scheiße?« Er wiederholte mich laut, um gegen den ohrenbetäubenden Lärm anzukommen, den der Start eines Heißluftballons mit sich brachte.

Ich stammelte, da es mir aus heiterem Himmel unmöglich war, sinnvolle Sätze zu bilden. »Zu hoch. Nicht … Ich … Das … Nein.«

»Ein Stückchen höher müssen wir aber noch«, erklärte er beiläufig und vergrößerte routiniert die Flamme, damit der Ballon an mehr Höhe gewann. War das sein Ernst? Bemerkte er nicht, dass ich hyperventilierte? Warum nur ruckelte es hier so stark?

»Nein, nein, nein. Alles ist in Ordnung. Nicht nach unten gucken«, flüsterte ich mir zu und kniff die Augen fest zusammen, während ich mich weiterhin an das Seil klammerte. Ich würde mir gerade lieber den Fuß brechen, als eine weitere Minute in dieser Todesfalle zu hocken. Ich registrierte, wie sich die Fingernägel um das Tau herum in meine Handflächen bohrten, doch war mir der Schmerz egal. Der Heißluftballon wankte, der Fahrtwind zerzauste meine Haare, und ich wünschte mir nichts sehnlicher, als sofort wieder festen Boden unter den Füßen zu spüren.

Während ich krampfhaft versuchte, Herrin meiner Sinne zu bleiben und mich nicht zu übergeben, faselte Sam unbekümmert weiter. »Gleich haben wir die perfekte Höhe.«

»Runter«, presste ich hervor. Mir blieb die Luft im Hals stecken, und in meinen Ohren rauschte es. »Runter!«, befahl ich erneut, dieses Mal aus voller Kehle.

»Was sagst du?« Sam stellte sich direkt neben mich, wodurch der Korb wiederholt bedrohlich schaukelte.

»Bist du total von der Rolle? Wir kippen um«, kreischte ich zitternd.

In dem Moment, in dem sich unsere Blicke erneut trafen, durchlief seine Miene eine ganze Palette an Gefühlen. Von unbesorgt über belustigt, hin zu rücksichtsvoll, panisch und letztlich versöhnlich. »Leena, ich verspreche dir, uns wird nichts passieren.« Er tippte meine verkrampfte Hand an, und ich starrte die Hautstelle an. »Lass ein bisschen locker.«

»Sag mir nicht, was ich zu tun habe«, presste ich zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. Loslassen? Das konnte wohl kaum sein Ernst sein.

»Doch.«

»Wie bitte?« Ich war so perplex, diesen Widerspruch von ihm zu hören, dass ich nicht sofort bemerkte, wie sich meine Verkrampfung allmählich löste.

»Du hast schon verstanden«, beharrte er. »Es war vorhin kein Witz von mir, als ich meinte, dass ich hier oben weder Hysterie noch einen Nervenzusammenbruch gebrauchen kann. Also beruhige dich und vertrau mir. Dir wird nichts passieren. Unter der Voraussetzung, dass du locker bleibst.«

Wie ich es hasste, wenn man mich bevormundete. Ich agierte auf eine Art, die praktisch nie bei mir vorkam: Ich schluckte meinen Stolz herunter und nickte seufzend. »Okay.«

»Astrein, dann fangen wir jetzt mit dem spaßigen Part an.«

»Der da wäre?« Ich bezweifelte, dass irgendetwas hier oben überhaupt Spaß brachte.

»Snacks!«

»Snacks?« Wie konnte er in diesem Moment an Essen denken? Allein bei dem Gedanken daran drehte sich mir der Magen um.

»Klar, alles inklusive.« Er senkte sich in die Hocke ab, wobei die Kabine noch mehr schwankte, um einen hölzernen Picknickkorb in die Mitte des Bodens zu ziehen, öffnete ihn, und ich erblickte ein paar Sandwiches, Weintrauben und Kekse mit Schokoladensplittern. »Was hättest du gern zuerst?«

Statt auf seine Frage einzugehen, schüttelte ich den Kopf. Sam starrte mich weiterhin an, was hieß, dass ich um eine Antwort nicht herumkam. »Unmöglich«, murmelte ich, obwohl mir beim Anblick der Leckereien, so zweifelhaft das auch klang, das Wasser im Mund zusammenlief.

Sam hob eine Augenbraue an. »Warum nicht?«

»Ich würde ja echt alles für Gebäck in jeder Form tun, aber ich kann das Seil nicht loslassen.« Ich nickte zu meinen Händen. »Unter keinen Umständen kann ich das tun.«

»Kein Problem.« Er griff nach einem Keks und stellte sich wieder neben mich. Viel zu nah neben mich, denn ich konnte den Duft seines Shampoos riechen, das ein Mix aus Minze und Wald und nicht förderlich für meinen klaren Kopf war. Und warum hielt er sich nicht fest? Er bewegte sich in diesem Heißluftballon, als stünden wir auf sicherem Boden. »Dann füttere ich dich halt.«

Ich verdrehte die Augen und legte eine gigantische Portion Ironie in meine Stimmlage. »Wie romantisch.« Auf keinen Fall durfte er zur Kenntnis nehmen, was für eine Nervosität er in mir auslöste.

»Von Romantik war hier nicht die Rede«, erwiderte er gespielt geschockt. »Das Romantik-Paket wurde nicht mitgebucht.«

»Du Nuss«, lachte ich und löste meine Hand für einen kurzen Augenblick risikobereit vom Seil, um ihm gegen den Oberarm zu boxen. Womit ich jedoch nicht gerechnet hatte, war, dass er pfeilschnell nach meinen Fingern griff.

»Eine Hand reicht vollkommen, um sich festzuhalten.« Er lächelte mich an, was mich schlucken ließ. Mir war urplötzlich heiß und eiskalt zugleich, und ich kam nicht umhin, mir einzugestehen, dass das nicht die Schuld der schwindelerregenden Höhe war, in der wir schwebten. Nein, es lag daran, dass er mich leichtfertig berührte. Als wäre es das Normalste der Welt.

Ich starrte misstrauisch auf meine Hand in seiner. »Was machst du da?« Es gefiel mir. Warum gefiel es mir so sehr?

Sam schaute zu unseren Händen und zuckte entspannt mit den Schultern, ließ sie wieder los. »Ich probiere nur, dir die Angst zu nehmen.«

»Ich hab doch gar keine Angst«, versicherte ich ihm und brachte all meine Selbstbeherrschung auf, mich nicht direkt wieder ans Seil zu krallen.

»Ach nein?« Das verdammte Grübchen entstand auf seiner linken Wange. »Das glaube ich dir aufs Wort.«

»Gib mir einen Keks!« Er kam meiner Forderung, die einzig und allein dafür da war, das Thema von meiner Angst zu lenken, schmunzelnd nach. Ich starrte derweil auf den Fußboden unter mir.

»Suchst du etwas?« Er reichte mir einen Keks, den ich heldenhaft mit meiner freien Hand entgegennahm.

»Nope.«

»Schau mal.« Er zeigte mit seiner Hand auf irgendetwas, aber ich schaffte es nicht, mich zu überwinden, meinen Blick über die Brüstung schweifen zu lassen. Immer ruhig. Einen Schritt nach dem anderen! »Da ist unsere alte Schule, erkennst du sie?«

Mit einem Mal von Neugier erfüllt, folgte ich seinem Blick und blieb an einer Reihe gelblicher Gebäude hängen, die rote Dächer hatten. Gleichzeitig wanderte meine Hand wieder zurück zum sicheren Seil, um sich festzukrallen. »Der Sportplatz wirkt winzig von hier aus«, sinnierte ich.

»Aus der Luft sieht einfach alles anders aus.« Er seufzte.

»Machst du das oft?« Ich druckste herum im Versuch, von mir abzulenken. »Also ich meine das hier.«

Er verneinte kopfschüttelnd. »Ich bin zu selten hier oben.«

»Warum?« Ich war erleichtert, dass die Aufmerksamkeit endlich nicht mehr mir und meiner Höhenangst galt.

»Na ja, ich war lange Zeit nicht zu Hause.« Also doch! Dachte ich insgeheim, unterbrach ihn jedoch nicht. Irgendetwas in seiner Stimme übertrug eine Traurigkeit auf mich, und ich erinnerte mich daran, dass das schon damals so gewesen war. »Und ehrlich gesagt finde ich Flugtouren ätzend.«

»Du meinst solche wie diese?«

Er legte den Kopf schief und lächelte mich an, als wäre er ein Welpe, sodass mir mein Herz prompt in die Hose rutschte. »Zugegeben: Heute Morgen hatte ich keinen Bock drauf, aber die Tour ist um Längen besser, als ich erwartet hatte.«

»Da habe ich ja Glück gehabt«, scherzte ich und ließ unbedacht alles los, um beiläufig abzuwinken. Kurz stand ich komplett freihändig da, was Sam mit einem anerkennenden Pfeifen und einem Nicken zu meinen freien Händen würdigte. Er zuckte nur mit den Schultern, weil ich ihm deswegen einen funkelnden Blick zuwarf.

»Ich auch«, pflichtete er mir sanft bei und jagte erneut ein Kribbeln durch meinen Körper. Er schaffte es, mir die Angst zu nehmen, einfach, indem er mich gefühlsmäßig verunsicherte. Garantiert war das eine Masche, und doch bewunderte ich, dass er keinerlei Berührungsängste zeigte. Meine innere Stimme warnte mich vor Sam. Sie suggerierte mir, dass es gefährlich sein könnte, ihn an mich heranzulassen. Es wäre ja nicht das erste Mal, dass er abhaute.

Ich konnte nicht sagen, wie lange wir schon mit dem Heißluftballon durch die Lüfte schaukelten. Mir war jegliches Raum-Zeit-Gefühl abhandengekommen. Wie nah sich Angst und Geborgenheit doch sein konnten. Auf der einen Seite hatte ich einen irrationalen Respekt vor der Höhe, auf der anderen Seite vermittelte mir Sams routinierter Umgang mit dem Ballon, dass uns nichts widerfahren konnte. Wir ließen langsam, aber sicher den Stadtkern Saint Mellows’ hinter uns und steckten mitten über einem Feld. Gar nicht weit von uns entfernt zogen sich Wolken oberhalb eines Waldstücks zusammen, und die Sonne tauchte die Welt um uns herum in ein märchenhaftes Zwielicht.

»Wow«, hauchte ich. »Es ist einfach so traumhaft schön.« Sue würde es hier oben lieben.

Sam knuffte mich in die Seite, ehe er sich wieder darum kümmerte, den Heißluftballon auf Kurs zu halten. Es war ein seltsam wohliges Gefühl, auf diese beiläufige, aber selbstverständliche Art von ihm berührt zu werden. Bestimmt wollte er mir dadurch schlicht und ergreifend Sicherheit geben. Ich musste dringend aufhören, mehr in die Gesamtlage hineinzuinterpretieren, denn bestimmt würde er das auch tun, wenn wir nicht allein hier wären.

Er seufzte. »Das sind die Momente hier oben, die es alles wert sind.«

»Die was wert sind?« Für gewöhnlich lenkte ich Gespräche nicht so schnell in eine private und persönliche Richtung. Doch war mir, seit ich mit Sam diesen Heißluftballon betreten hatte, bewusst, dass wir nach wenigen Minuten die Small-Talk-Schwelle überschritten hatten. Es war einfach seltsam, sich nach so langer Zeit wieder gegenüberzustehen.

Ich sah ihm an, dass er mit sich rang, weiterzusprechen. »Es war … ist nicht immer leicht. Im Gegensatz dazu entlohnen mich solche Bilder. Es fällt ein Stück Missmut von mir ab, verstehst du, was ich meine?« Er lachte verschüchtert und fuhr sich mit der Hand über den Nacken. »Ach sorry, ich rede wirres Zeug für dich.«

Ich schüttelte teilnahmsvoll den Kopf. »Nein, ich kann annähernd nachvollziehen, was du damit meinst«, erwiderte ich sanft und ließ langsam meinen Blick durch die Landschaft schweifen und begann ehrlich, diesen Trip ein klein wenig zu genießen. »Unter normalen Umständen hätte ich die Welt …« Ich verstummte kurz. »… meine bescheidene Welt niemals aus dieser Perspektive kennengelernt. Danke, Sam.« Die letzten beiden Worte ließen mich mich nackt fühlen, und doch war ich beruhigt, sie ausgesprochen zu haben. Er strich sanft mit seiner Hand über meinen Oberarm, was mutmaßlich gern geschehen hieß. Mir stieg die Röte ins Gesicht, und ich wandte den Blick ab, damit der Moment nicht noch inniger wurde. Ich war ein Feigling. Fürchtete mich vor menschlicher Nähe, davor, mich jemandem wirklich zu öffnen. Dieses elendige Misstrauen. Es war mein ewiger Begleiter, und das, obwohl ich nie einen grauenvollen Verrat oder Ähnliches erlebt hatte. Es war ganz natürlich da, gehörte zu mir wie der Käse zur Maus. Dass Sam nach dieser kurzen Zeit schon mit Anlauf in meinen Wohlfühlbereich gesprungen war, fachte das Feuer der Verwirrung in mir zusätzlich an. Ich räusperte mich und suchte krampfhaft nach einem unverfänglichen Thema. Miteinander zu reden, half mir dabei, die Ruhe zu bewahren. »Du hast studiert, oder?«

Sam nickte, und ich sah, dass ein zögerliches Lächeln seinen Mund streifte. »Ja, ich war auf dem College.«

Erleichtert, kein Tabuthema getroffen zu haben, stieß ich die Luft aus. »Auf welchem?« Mir war zu Ohren gekommen, dass er, wie auch Sue, an einer Ivy League Universität studiert hatte.

»Ich war in …« Er vergrub seine Hände in den Taschen seiner Jacke. Die Aufregung wanderte in meine Knie, die immer wackliger wurden, daher griff ich wieder mit beiden Händen zum Tau, um mich festzukrallen. Ich hakte nach, was mich selbst wunderte, da es an ein Verhör erinnerte. Andererseits schadete es nicht, sich wieder ein wenig kennenzulernen, oder? »In?«

»In Yale.«

Jackpot, ein weiterer Beweis dafür, dass man manchen Gerüchten trauen konnte. »Wow«, lächelte ich und versuchte, den Stich in meiner Magengegend zu ignorieren. Ich hatte nie das College besucht, nicht mal ein Community College. Es gab Tage, an denen ich mich dafür schämte, doch die Angst vor Neuem, vor einem Leben fernab von Saint Mellows und meiner Familie hatte mir diesen Lebensabschnitt versaut, mir diese Entscheidung schlichtweg abgenommen. Ich war nicht bereit gewesen, zu viele Dinge waren zu dieser Zeit geschehen.

»Jep.« Sam schluckte.

Ich runzelte die Stirn. »Gefiel es dir nicht?«

Anders als erwartet, schüttelte er lachend den Kopf. »Doch. Sogar sehr. Es war meine beste Zeit.«

»Dann darfst du ruhig auch lächeln«, piesackte ich ihn. »Du musst nichts über Yale erzählen, wenn du nicht willst. Aber bitte sage irgendetwas, ja?«

Er suchte meinen Blick und hob lächelnd eine Augenbraue an, als forderte er mich heraus. »Warum?«

Ich verdrehte grinsend die Augen und deutete mit einem Nicken aus dem Heißluftballon heraus. »Weil ich hier oben sonst durchdrehe.«

»Okay, was möchtest du wissen?« Er trommelte mit den Handflächen auf die Balustrade, richtete sich auf und wandte sich zu mir um, als wäre er startklar für eine mündliche Prüfung.

»Darf ich alles fragen?« Aufregung kroch meine Mageninnenwand hinauf.

»Fangen wir doch bei Yale an«, bat er lachend und stupste mich sanft an. Ich versuchte, der Berührung kein Gewicht beizumessen, auch wenn mein Puls bei ihr in die Höhe geschnellt war. Was vielleicht daran lag, dass ich dadurch meinen halbwegs sicheren Stand gefährdete.

»In Ordnung. Was hast du studiert?«

»Okay, du fängst mit den unkomplizierten Fragen an. Politik und Ethik«, kam es von ihm wie aus der Pistole geschossen. »Und im Master Journalismus.«

»Meine Güte. Wie kam es zu diesem Trio?« Beeindruckt riss ich die Augen auf und nickte anerkennend. Er ließ sich Zeit zu antworten, gerade so viel, dass ich aufgrund der Höhe nicht wieder kurz vorm Durchdrehen war. In dieser Pause fiel mir auf, dass wir nahezu lautlos schwebten. Das einzige Geräusch kam vom Brenner, der gleichmäßig zischte, und die Langsamkeit, mit der wir über die Landschaft hinwegzogen, verlieh allem eine friedliche Umgebung. Kein noch so winziger Windhauch war zu spüren.

»Das ist ein ziemlich persönliches Motiv. Im Grunde reizte mich schon immer das gesellschaftliche Miteinander. Ich will etwas gegen soziale Ungleichheit tun, mich für Gerechtigkeit einsetzen. Besonders für Menschen, die aus diversen Gründen kaum oder selten gehört werden.«

Mein Blick heftete sich auf seine zu Fäusten geballten Hände. Ich hatte den Eindruck, Sam war ein Mensch, dessen Gefühle man an seiner Gestik und Mimik ablesen konnte. »Das klingt, als wärst du ein Superheld.«

Lachend zuckte er mit den Schultern. »Leider stehen mir Capes nicht.«

»Oh ja, und Schwarz ist bedauerlicherweise schon an Batman vergeben«, neckte ich ihn.

»Pure Verschwendung, wenn du mich fragst«, schmunzelte er.

»Da stimme ich dir zu einhundert Prozent zu«, kicherte ich und deutete mit einem Zwinkern zu den paar Keksen, die Sam noch übrig gelassen hatte. »Gibst du mir einen?«

Gespielt geschockt riss er die Augen auf. »Was, willst du etwa das arme Tau loslassen?«

»Nein. Ich kriege ihn ganz in den Mund«, erwiderte ich und bemerkte erst, wie das klang, als die Worte bereits meinen Mund verlassen hatten. »Wenn du darüber jetzt lachst, streue ich das Gerücht, dass du nachts mit Superheldenumhang schläfst.«

Er warf lachend den Kopf in den Nacken, wobei mir die Lachfalten auffielen, die tiefe Furchen auf seinen Wangen hinterließen. Ich hatte das Gefühl, dass er nicht oft lachte, und aus irgendeinem Grund stimmte mich das traurig. Diese wunderschönen Lachfalten waren viel zu schade, um sie nicht in vollster Pracht zu zeigen. »Ich würde ja gern behaupten, dass es mir egal ist, was die Leute in Saint Mellows von mir denken. Aber das wäre dreist gelogen.«

Stutzig zog ich die Augenbrauen zusammen. Ja, er blieb wohl lieber ein Geheimnis für alle. Ich kam nicht umhin, mir einzugestehen, dass ich ihn mir ebenfalls anders vorgestellt hatte. Diese finstere Aura hatte mich schon als Teenager fasziniert. Wie kam es nur, dass man sich so in Personen täuschte? Oder sah man in ihnen nur das, was man sehen wollte? Vielleicht war man viel zu oft blind für die Wahrheit.

»Hier.« Sam hielt mir einen Keks vor den Mund und zog grinsend eine Augenbraue in die Höhe.

»Der ist ja riesig«, motzte ich ihn an. »Du hast den größten ausgesucht, oder?«

»Nö«, sagte er zwinkernd und drehte das Gebäck in seiner Hand.

»Du lügst.«

In gespielter Empörung riss er die Augen auf. »Fiese Anschuldigung.«

»Hab ich recht?« Ich legte den Kopf schief, und wenn ich mich nicht hätte festhalten müssen, hätte ich auch noch die Arme vor der Brust verschränkt.

»Das, liebe Leena, werden wir nie erfahren.« Er lächelte und senkte für eine Sekunde den Blick. Er brach den Keks in zwei Teile und steckte sich eine Hälfte in den Mund. Die andere hielt er vor mein Gesicht, und ich neigte mich nach vorn, um sie mit dem Mund aus seinen Fingern zu schnappen. Für den Bruchteil einer Sekunde berührten sich meine Oberlippe und sein Zeigefinger, wodurch wir wortwörtlich einen Schlag bekamen. Wir zuckten zusammen, starrten uns für einen Augenblick betreten an und senkten dann gleichzeitig die Köpfe. Es war einfach filmreif.

»Ganke fur gen Kekf«, nuschelte ich und konzentrierte mich darauf, mich nicht zu verschlucken.

Er nickte mir kauend zu, vergrub seine Hände wieder lächelnd in den Taschen seiner Jacke und ließ den Blick zum Himmel schweifen. Ohne Vorwarnung räusperte er sich und tippte gegen meine Hand, um mir zu bedeuten, das Seil loszulassen. Mit gerunzelter Stirn ließ ich locker und fühlte als Belohnung seine warme Hand um meine, die meine Hand neben seine auf die Balustrade legte. »Eine Hand reicht immer noch«, murmelte er, ohne mich anzublicken.

In weiter Ferne erblickte ich zwei kreisende Falken. Sie drehten ein paar Runden, ehe sie in dem kargen Waldstück verschwanden, in dessen Richtung wir uns ebenfalls bewegten. Mit gerunzelter Stirn stellte ich fest, dass kaum mehr ein Vogel am Horizont zu sehen war. Heimlich senkte ich den Blick und starrte auf meine Hand neben seiner, was mein Innenleben schmerzhaft zusammenzog. Ich schluckte und genoss das seltsame Kribbeln im Kiefer. Was war das hier für eine abgedrehte Konstellation? War ich ernsthaft mit Sam Forsters in einem Heißluftballon, oder träumte ich? Ich zwang mich, den Blick von unseren Händen loszueisen, und runzelte die Stirn. Urplötzlich verdichteten sich die Wolken, und ein beklemmendes Gefühl beschlich mich. Die Sonne schaffte es kaum mehr durch die Wolkendecke hindurch, und täuschte ich mich, oder schaukelte der Heißluftballon stärker als in den Minuten zuvor? Es war noch immer still um uns herum, doch plötzlich beunruhigte mich das. Es war zu still. Mutig blickte ich über die Brüstung und beobachtete ein paar Bäume, die am Rand des Feldes standen. Ihre teils noch kargen Wipfel wiegten sich erschreckend heftig im Wind. Keine Vögel. War das hier die sprichwörtliche Ruhe vor dem Sturm? Davon war nichts in meiner Wetter-App angezeigt worden! »Sam?«, piepste ich mit klappernden Zähnen, da mich fröstelte. Ein einzelner, sanfter Regentropfen landete auf meinem Handrücken und ließ die Panik mit voller Wucht zurückkehren. Es fiel mir unheimlich schwer, meine gleichmäßige Atmung beizubehalten. Mir passiert nichts, ich muss Sam vertrauen, sprach ich zu mir wie ein Mantra. Unsere Blicke trafen sich, und die Sorge war ihm deutlich anzusehen. Oh. Mein. Gott.

Er handelte postwendend und wies auf den Boden. »Setz dich hin!« Sein barscher Befehlston lähmte mich für eine Sekunde. »Setz dich bitte sofort hin!« Er wies weiterhin nachdrücklich nach unten und presste seine Kiefer aufeinander. Garantiert, um sich davon abzuhalten, mich anzubrüllen. »Scheiße«, redete er vor sich hin, was Nahrung für meine heranwachsende Panik war.

»Wir werden sterben«, jammerte ich theatralisch, zog die Beine ganz nah an meinen Körper heran und legte die Stirn auf die Knie. »Ich will nicht sterben. Oh bitte, lass mich nicht …«

»Du wirst nicht sterben, Leena.« Die Zuversicht in seiner Stimme half mir bedauerlicherweise nicht im Geringsten. Der Heißluftballon schaukelte wie eine klapprige Holzachterbahn, und Sams konzentrierter Gesichtsausdruck jagte mir die blanke Angst durch den Körper. Er zog an einem Seil, und der Ballon verlor rasant an Höhe, das registrierte ich, selbst wenn ich rein gar nichts sah. Mein Magen rebellierte gegen diesen turbulenten Abstieg, und es fühlte sich an, als würde sich mein Innerstes nach außen kehren. Ich bildete mir ein, im freien Fall zu sein, und rang nach Luft. Sams polternde Stimme drang zu mir durch. »Atme, Leena.«

»Kannichnicht«, presste ich angestrengt hervor, die erste Träne rann mir über die Wange. Flugs wischte ich sie weg.

»Fuck! Fuck, Fuck, Fuck«, brummte Sam, und ich sah ihn mit all seiner Kraft an einem Seil ziehen. Es bewegte sich nichts, daher richtete ich mich langsam auf und versuchte, nicht zu heftig zu verkrampfen, um nicht so wackelig auf den Beinen zu sein. Unsere Blicke trafen sich, und wir nickten uns stumm zu. Ich musste helfen, und ihm blieb nichts anderes übrig, als meine Hilfe anzunehmen.

»Was …?« Ich brauchte nicht mehr zu sagen.

»Hilf mir hierbei.« Er zeigte auf das Seil in seinen Händen, und ich trat vor ihn, legte die Hände um den Strick, und gemeinsam zogen wir daran. Ich nahm seinen erhitzten Körper direkt an meinem wahr, ehe er seine Finger auf meine Schultern legte, um mich wieder zu Boden zu drücken. Ohne zu widersprechen, folgte ich seinem Drängen und ließ mich erneut nach unten sinken. Ich schirmte mit den Händen meine Augen vor dem Regen ab und versuchte, jede seiner Handlungen zu beobachten. Der Wind peitschte uns den Sturzregen ins Gesicht, der von Sekunde zu Sekunde zunahm. Der Himmel war mittlerweile nahezu schwarz geworden, und ich konnte kaum noch etwas erkennen. Es war, als würden wir von einer unsichtbaren Kraft in ein bedrohliches Loch gezogen werden.

»Wir werden gleich landen«, brüllte er, da es schlagartig ungeheuerlich laut um uns war. »Versuch bitte, behutsam wieder aufzustehen.«

»Okay«, schrie ich zurück, kniete mich erst hin, ehe ich mich langsam aufstellte, und umklammerte erneut fest das Tau. Ich sah rein gar nichts, spürte den prasselnden Regen, der durch meine Kleidung sickerte, dafür umso mehr. Ich hatte keine Ahnung, wo wir waren, noch, wie hoch wir flogen. Letzteres war vermutlich besser so. Es half mir, mechanisch seinen Anweisungen zu folgen, denn sie lenkten mich von der Angst ab, mein Leben zu verlieren.

»Es wird keine sanfte Landung«, erklärte er mir laut und deutlich, aber mit einer Ruhe in der Stimme, die ich selbst in solch einer Lebenslage niemals an den Tag legen könnte. »Bitte erschreck dich nicht, der Aufprall wird womöglich hart, und wir werden ein Stück auf der Erde entlangschlittern. Sobald wir stehen, rennen wir los.«

»Warum?« Meine überlaute Stimme überschlug sich.

»Damit sich der Ballon nicht wie eine Decke auf uns legt!« Das leuchtete mir ein, und ich sah ihn an, als er mir antwortete. Seine Gesichtszüge waren vor Anstrengung verzerrt, er kniff die Augen zusammen, um trotz des peitschenden Regens irgendetwas zu erkennen. Seine Kiefer presste er aufeinander, was sein Gesicht umso markanter erscheinen ließ. Von seinen Grübchen war nichts zu sehen. Er sah unheimlich belastungsfähig aus, und ich realisierte in diesem Augenblick, dass ich ihm vertraute. Ich vertraute Sam mein Leben an. Zum einen, weil ich keine andere Wahl hatte, zum anderen, weil ich mich tatsächlich sicher bei ihm fühlte. Und das nach so kurzer Zeit.

»Wohin?«

»Hütte!«, presste er aus voller Kehle hervor.

»Was?«

»HÜTTE!« Gerade, als ich nachfragen wollte, was er damit meinte, rumste es markerschütternd über uns. Donnergrollen. Noch nie war ich einem plötzlichen Gewitter derart ausgeliefert gewesen. Mein Körper vibrierte, als säße der Donner in meinen Eingeweiden fest. Ein Blitz durchzuckte den Himmel, dicht gefolgt von einem weiteren Donnergrollen. Wir steckten mittendrin.

»Verdammte Scheiße! Verdammtes Gewinnspiel! Verdammt, verdammt, verdammt«, schrie ich. Zu schreien war das einzige Ventil, das meine Angst in Schach hielt.

»JETZT!« Er ließ das Seil los und bedeutete mir mit einem Blick, es ihm gleichzutun. Ich sah eine Flamme emporsteigen, und kurz wurden wir ein bisschen langsamer, bis wir nach allem den Boden erreichten. Der Aufprall war wie erwartet heftig, fühlte sich an, als würden meine Knochen durcheinanderwirbeln, und ließ mich direkt in seine Arme taumeln. Unter anderen Umständen wäre mir wegen dieser Nähe das Herz stehen geblieben, nur Romantik war das Letzte, das ich annähernd im Sinn hatte. Schnell, aber besonnen umfasste er meine Schultern und schob mich von sich. »Alles okay?« Er wischte sich den Regen aus dem Gesicht und musterte mich von Kopf bis Fuß. Ich nickte, unfähig zu sprechen. »Schön.« Sam griff nach meiner Hand, pfriemelte am Schloss der Tür herum und fluchte wie ein Kesselflicker. »Verdammt, das kann doch nicht wahr sein.« Geschockt starrte ich auf seine regennassen Hände, mit denen er versuchte, die Verriegelung zu öffnen, doch rutschte er immer wieder ab. Das Herz schlug gegen meinen Brustkorb, und ich fühlte den Puls im Hals pochen. Mit zu Fäusten geballten Händen hob ich den Kopf gen Himmel, um die Gefahr abzuwägen, in der wir uns befanden. Der Ballon senkte sich bedrohlich über uns ab, Gott sei Dank blies der Sturm ihn ein Stückchen zur Seite. Jetzt realisierte ich erst richtig, was es bedeutete, wenn sich der Ballon auf uns legte. Es kam einer Todesdecke gleich. Sam stieß einen Frustschrei aus und ließ vom Schloss ab, nachdem er dagegenschlug. Er stützte sich mit seinen Oberarmen auf der Brüstung ab und sprang in einem geschickten Satz darüber. Ich musste ernstlich unter Schock stehen, denn ich hatte mit keiner Silbe in Betracht gezogen, dass wir einfach herausklettern könnten. Es bereitete mir Sorge, dass mein Köpfchen in Stresssituationen offenbar nicht rational arbeitete. »Komm, Leena.« Er hielt mir eine Hand hin und stabilisierte sich mit der anderen an der Kabine. Klettern war keine Sache, die ich einwandfrei beherrschte. Mit zittrigen Armen stützte ich mich ab wie er zuvor und schwang ein Bein über die Brüstung, sodass ich wie ein nasser Sack darüberhing. Ein Lachen drang zu mir herüber. Dieses Geräusch weckte natürlich mein Selbstwertgefühl. Nicht. An dieser Situation war nichts witzig.

»Ist das dein Ernst?«, giftete ich ihn an. Es war mir egal, dass ich wackelig auf der Reling hing. Oder wie auch immer man diesen Part des Brotkorbs nannte. »Wir könnten jede Sekunde draufgehen und DU LACHST MICH AUS

Er zuckte mit den Schultern und hielt mir weiterhin die Hand hin, als sei nichts geschehen. »Ich kann mir nichts Schöneres vorstellen, als lachend zu sterben.« Er machte eine Bewegung auf mich zu und nickte mit dem Kopf hinter sich, um mir zu suggerieren, dass wir gut beraten wären, wenn ich mich beeilte.

»Ach nein? Ich schon«, erwiderte ich mürrisch, griff nach seiner Hand und ließ mich auf die Füße fallen. »Nämlich gar nicht! Nicht heute, nicht hier!« Den Schmerz, der mir dabei durch die Beine zog, versuchte ich zu ignorieren. Er zog mich hoch, und wir rannten im strömenden Regen über die weitläufige Wiese, auf der wir notgelandet waren. Keine Ahnung, ob es nur der Regen war, der laut in meinen Ohren rauschte, oder die Furcht, die mir Tränen aus den Augen laufen ließ. Meine Lunge stand in Flammen, doch die Angst, von einem Blitz getroffen zu werden, ließ uns weiterrennen. Ich hatte keinen Schimmer, wo wir waren und ob es irgendwo in der Nähe einen sicheren Ort für uns gab.

»Hier entlang.« Sam fasste mich am Oberarm und zog mich auf den Waldabschnitt zu, in dem vorhin die Falken verschwunden waren. Im Normalfall schafften es keine zehn Pferde, dass ich einen dunklen Wald betrat, doch war mir bewusst, dass mir in diesem Augenblick keine andere Wahl blieb. Augen zu und rein da. Der Regen wurde sogar im Wald immer heftiger und verschleierte meine Sicht, jedoch erkannte ich langsam die schemenhaften Umrisse einer Hütte.

Sam

Wir rannten, als wäre jemand hinter uns her. Wie von einem unsichtbaren Faden gezogen, trugen meine Beine mich zu dem Ort, den ich niemals wieder betreten wollte. Zu viele Erinnerungen versteckten sich hinter den Holzbalken, die die alte Hütte zusammenhielten. Früher war sie unser Zufluchtsort gewesen. Immer, wenn es uns möglich gewesen war, waren wir gemeinsam den Weg hierhergerannt, um an diesem Ort den Tag zu verbringen. Wir hatten vorgegeben, Räuber zu sein, waren auf Bäume geklettert und auf das Dach, bis Dad uns dabei ertappt und uns drei Wochen Hausarrest verordnet hatte. Wir hatten gespielt, dass dies ein Geheimversteck wäre, und uns unbesiegbar gefühlt, so erwachsen und selbstständig, was uns eines Tages zum Verhängnis geworden war. Conor viel mehr noch als mir. Ich verteufelte das Gewitter und die Wolken, die sich unverhofft vor die Sonne geschoben hatten. Leenas Hand in meiner war eiskalt, und ich umklammerte sie fester. Vermutlich nahm sie an, dass ich das tat, um ihr Trost zu spenden, ihr zu zeigen, dass alles unter Kontrolle war. Doch vielmehr hielt ich mich an ihr fest. Ich wollte sie nicht loslassen, da mir die Berührung die Kraft gab, gleich in die Vergangenheit zurückzureisen. Im Alleingang würde ich nie wieder einen Fuß über die Türschwelle setzen, doch mit Leena hatte ich keine andere Wahl. Ich konnte sie unmöglich dem Gewitter aussetzen, bloß weil ich mich nicht meiner Angst stellte. Das wäre egoistisch und falsch gewesen. So was von falsch. Ihre Anwesenheit machte irgendetwas in mir. Mit mir. In der Zeit, die wir oben am Himmel geschwebt waren, hatte ich meine Sorgen vergessen, wenn auch nur für kurze Zeit. Sie waren da, würden niemals verschwinden, doch war es, als hätte Leena mir eine Auszeit von meinen eigenen schwarzen Gedanken gegeben. Sie ließ mich für einen Wimpernschlag aus der Geisterbahn meiner Gedanken aussteigen und schenkte mir dadurch mehr, als sie ahnte. Es war die Art, wie sie grinste, ihre hohe, aber kräftige Stimme und dieser Blick, den sie meisterhaft draufhatte. Eine Augenbraue hochgezogen, den Kopf zur Seite geneigt, sah sie taff aus, als könnte sie nichts erschüttern. Und das, obwohl sie sich aus Panik um das Tau gekrallt hatte. Wenn Leena es vor einer Stunde geschafft hatte, sich einer offensichtlichen Angst zu stellen, warum sollte ich das jetzt nicht auch schaffen? Es war im Grunde nur eine Hütte. Eine Hütte, die uns Zuflucht schenkte. Und mir vielleicht neuen Mut.

»Wo rennen wir denn hin?« Leena schnappte nach Atem, und ich verlangsamte den Schritt um ein Minimum.

»Wir sind gleich da.« Die Luft in meiner Lunge nahm ab, und ein pochender Schmerz bohrte sich in meine Kehle.

»Das hab ich nicht gefragt«, japste sie.

Ich lachte schnaufend auf. »Du wirst es gleich sehen, Frechdachs.« Ich drehte den Kopf, schenkte ihr ein Lächeln.

»Besser jetzt …«, sie holte tief Luft. »… als gleich. Ich kann nicht mehr, Sam.«

Wir folgten einem Trampelpfad, und ich wies mit meiner freien Hand vor uns. »Schau, dort.«

»Ist das eine Hütte?« Leenas Stimme überschlug sich.

»Nein, ein Märchenschloss.« Lachend drückte ich ihre Hand, um sie zu necken.

»Witzig.« Sie zog eine Grimasse, ehe sie abrupt stehen blieb, wodurch ich zurücktaumelte. »Wir können da nicht rein.«