5. Kapitel

Sam

Seit zwei Tagen hatte ich das Haus nur verlassen, um eine kurze Joggingrunde zu drehen. Ansonsten hatte mich lediglich mein knurrender Magen daran erinnert, vom Bett oder Schreibtisch aufzustehen und nach unten in die Küche zu gehen, um mir irgendetwas aus dem Kühlschrank zu mopsen. Dad war ich seit unserem Schlagabtausch am Sonntag nicht begegnet, und ich konnte auch weiterhin gut darauf verzichten. Mein Plan für Leena nahm Gestalt an, was ich fairerweise auch von meinen Zweifeln behaupten musste. Bei jedem weiteren Punkt, den ich zu Ende geplant und organisiert hatte, empfand ich einen fiesen Schmerz in der Bauchgegend. Was, wenn meine ganze Mühe nach hinten losging? Wenn sie all das ablehnte? Ächzend klappte ich den Laptop zu und gönnte meinen Augen eine Bildschirmpause. Ich griff Leenas Bucket-List und drehte mich auf den Rücken, bettete den Kopf auf dem Kissen, ehe ich die Punkte dieser Auflistung studierte. Irgendwas mussten wir sicherlich auslassen. Ich räusperte mich. Als ich die Augen schloss, vibrierte mein Handy auf dem Nachttisch, und mein Puls schoss in die Höhe, bis mir einfiel, dass es nicht Leena sein konnte, da wir keine Nummern ausgetauscht hatten. Genervt robbte ich zum Bettrand und griff nach dem Telefon. Mit zusammengekniffenen Augen las ich, wer anrief und setzte mich kerzengerade auf. »Fuck, schon wieder«, zischte ich gedämpft, schlug mir mit der flachen Hand gegen die Stirn.

»Hey, Kleiner«, nahm ich das Gespräch entgegen und rieb mir über die müden Augen.

»Hast du geschlafen? Am helllichten Tag? Wurdest du gekidnappt?« Ich erkannte am lachenden Tonfall meines Bruders, dass er mich aufzog.

»Nein, du Nervensäge. Wie geht’s dir?« Ich ließ mich zurück in meine Kissen sinken und schloss bewusst die Augen. Das hatte ich mir seit ein paar Jahren angewöhnt, sobald ich das wöchentliche Telefonat mit Conor führte.

»Wenn ich den Umstand ignoriere, dass mein großer Bruder mich schon wieder vergessen hat, prima.«

»Sorry«, nuschelte ich schuldig. Sein leises Lachen gab meinem Schuldgefühl nur mehr Feuer.

»Ist in Ordnung, gibt es wenigstens einen triftigen Grund für dein löchriges Gehirn?«

Er wusste nicht Bescheid. Also hatten ihm weder Mom noch Dad davon erzählt. Was nicht schwer war, sie hielten kaum Kontakt zu uns, wozu auch? »Ich bin wieder zu Hause.«

Die kurz entstandene Pause ließ mein Herz so hart gegen meine Brust hämmern, dass es schmerzte. »In Saint Mellows?«

»Vorübergehend. Jep.«

»Wie ist es so?«

Seufzend setzte ich mich auf, die Augen noch immer geschlossen. »Seltsam«, überlegte ich laut. »Es ist seltsam. Mom ist weinerlich wie immer, und Dad – er ist eben Dad.«

»Sie meinen es nicht so, Sammy.« Die Stimme meines kleinen Bruders war gefühlvoll und beschützend, was mir ein beklemmendes Gefühl bescherte. Ich sollte derjenige sein, der ihn beschützte. Der ihm die richtigen Worte zur richtigen Zeit ins Ohr flüsterte. Und ich sollte derjenige sein, der an das verdammte wöchentliche Telefonat dachte.

Seufzend ballte ich die freie Hand zur Faust. »Ich weiß.«

»Was ist los mit dir, Sam?« Ich sah meinen Bruder vor mir, wie er die Arme vor seiner Brust verschränkte, mit schief gelegtem Kopf. Manchmal gewann er so rasant an Autorität, dass es mir eine Gänsehaut bescherte.

»Die Leute gucken. Ich hasse es, hier zu sein«, flüsterte ich und versuchte, die Tränen zurückzuhalten. Ich weinte nie, doch wenn ich Conors Stimme hörte, war ich kurz davor. Doch in meiner Heimatstadt, in meinem Elternhaus, zu sein, vergrößerte den Druck. Immer wieder erwischte ich mich bei dem Gedanken, lieber zu Kyle zu ziehen und einen Rückzieher aus Saint Mellows zu machen, solang es noch nicht wehtat.

Ich hörte ihn seufzend ausatmen. »Nein, niemand guckt.«

»Wie kannst du das wissen?«

»Es ist 16 Jahre her, Sam.« Seine Stimme brach, als er meinen Namen aussprach. Natürlich wusste er exakt, wie viel Zeit seitdem vergangen war. Immerhin war er es, dessen Leben sich in Sekundenschnelle drastisch geändert hatte.

»Das ist nicht alles, oder?«

Ich lachte leise. »Wie machst du das nur, Conor?«

»Ich bin gut darin, deine Stimmlage zu analysieren.«

Bäm. Wieder ein Stich ins Herz. »Ja, da ist tatsächlich was passiert«, stammelte ich, ahnungslos, wie ich es ihm erzählen sollte. Wo ich beginnen sollte, da ich mir selbst nicht klar über das Gefühlschaos in mir war. Verdammt, nur wegen dieser einen Nacht in der Hütte und Leenas Liste hatte ich noch nicht das Weite gesucht.

»Leg los, ich hab Zeit.« Ich hörte einen dumpfen Ton durch das Telefon, und sofort schrillten meine Alarmglocken.

»Conor? Alles in Ordnung?«

Mein Bruder lachte, und ich war mir sicher, dass er dabei den Kopf in den Nacken warf. »Beruhige dich, Sheldon ist mal wieder vom Kratzbaum gefallen.«

»Oh. Dein Kater ist echt eine trübe Tasse.«

»Sei nicht so gemein, er hat doch nur drei Beine«, kicherte er.

»Wenn er so weitermacht, sind es bald nur noch zwei.«

»Lenk nicht ab.« Conor hatte es noch nie zugelassen, ein Thema unausdiskutiert im Raum stehen zu lassen.

»Letztens war irgendeins der Frühlingsfeste, keine Ahnung, welches genau.« Ich hörte ihn ein leises Oh Mann murmeln, was mir ein fettes Grinsen ins Gesicht zauberte. »Dad hat als Hauptgewinn eine Tour gesponsert, die ich fahren musste.«

»Ernsthaft? Du warst das letzte Mal vor Yale oben.«

Ich nickte zustimmend, fühlte mich bestätigt. Es war verantwortungslos von Dad gewesen, mir den Auftrag aufzudrängen. Conors Reaktion zeigte mir, dass ich nicht der Einzige mit dieser Meinung war. »Ja, ernsthaft. Jedenfalls hat ein Mädchen gewonnen, vielleicht kennst du sie noch, sie heißt Leena und ging damals auf meine Schule.« Dass ich mit ihr im Anne’s gearbeitet hatte, hatte ich ihm nie erzählt.

Conor lachte unvermittelt laut auf. »Sehr gut umschrieben, du Klops. Jeder aus Saint Mellows ging auf deine Schule.«

Ich biss mir grinsend auf die Unterlippe, das hatte ich gar nicht bedacht. »Stimmt. Aber ist ja auch egal, jedenfalls sind wir hochgestiegen und wurden von einem Gewitter überrascht, mussten notlanden, sind dann …« Ich pausierte, um den Kloß im Hals herunterzuschlucken. »… zur Hütte, wo wir die Nacht verbrachten.« Eine feine Gänsehaut zog sich über meinen Körper, denn die Hütte war Conors und mein Ding, unser Zufluchtsort gewesen, selbst nach dem Unfall. Ich hatte das Gefühl, ihn hintergangen zu haben, da ich ohne ihn dort gewesen war. Mit einer Frau im Schlepptau. Es vergingen wenige Sekunden, die mir vorkamen wie ein Jahr. »Conor?«

»Es ist okay.« Ich hörte ihn sich räuspern. »Ehrlich, ich habe nur kurz versucht …« Er stockte, und ich wartete vergeblich, dass er das Wort wieder aufnahm.

»Was hast du versucht«? Ich zwang mich, das Mitgefühl in meiner Stimme zu verstecken, da ich wusste, wie Conor es hasste, bemitleidet zu werden.

»Mir ist nur aufgefallen, dass ich die Hütte schon fast vergessen habe.«

Scheiße. Seine Worte trafen mich wie ein Faustschlag, und ich fühlte wieder diese Schuld. Die Schuld dafür, dass er nicht hier war. Dafür, dass seine Kindheit ein Ende genommen hatte, als er gerade sechs Jahre alt war. Dafür, dass er Dinge vergaß, die einmal alltäglich für uns gewesen waren.

»Es tut mir leid«, murmelte ich in den Hörer und ignorierte die Tränen, die in meine Augen traten. Auf keinen Fall durfte ich jetzt blinzeln. Ich würde keine einzige Träne mehr vergießen, das hatte ich versprochen.

»Es ist okay, manchmal muss man einfach loslassen, großer Bruder.« Seine feste Stimme erschütterte mich.

»Wann bist du bitte so erwachsen geworden?«

Er lachte, wodurch mir etwas leichter ums Herz wurde. »Ich glaube, letzte Woche Dienstag«, veräppelte er mich, und ich stieg in sein Lachen mit ein.

»Und jetzt erzähl mir von Leena. Magst du sie?«

Lachend fuhr ich mir mit der Hand durch die Haare. »Ich glaube schon.« Ich bemerkte, wie mir urplötzlich so heiß wurde, dass ich aus dem Bett aufstehen und das Fenster öffnen musste. »Ich hab eine Bucket-List von ihr gefunden, eine Aufzählung von Dingen, die sie im Frühling erleben möchte.«

»Das klingt irgendwie ein wenig so, als würde sie ihre eigenen Abenteuer planen«, mutmaßte Conor

Ich nickte enthusiastisch »Genau. Ich möchte sie mit Ausflügen überraschen, in denen wir die Punkte abarbeiten.«

Conor stieß die Luft aus, wodurch er mich sehr verunsicherte. »Könnte schiefgehen«, grübelte er laut. Einerseits war ich froh über seine Ehrlichkeit, andererseits heizte das meine Zweifel an, den Plan überhaupt durchzuziehen. »Könnte aber auch richtig, richtig gut werden«, lachte er.

»Meinst du?«

»Klar, ich finde, das ist eine gute Idee. Auf jeden Fall habe ich noch nie von so einer Aktion gehört.«

Ich grinste breit. »Ich auch nicht.«

»Fahrt ihr dafür weit weg?«

Ich verzog lächelnd den Mund und schüttelte den Kopf, auch wenn ich wusste, dass er es nicht sah. »Nein. Ich glaube, das wäre zu viel für sie. Verständlicherweise, denn genau genommen kennt sie mich ja gar nicht.« Mehr. Sie kannte mich nicht mehr und auch damals nicht so richtig. Was einzig und allein meine Schuld gewesen war.

Conor lachte leise. »Richtig, steig niemals zu einem Fremden ins Auto. Oder in einen Ballon. Oder in eine abgeschiedene Waldhütte. Oh warte, ist sie schon! Bist du aufgeregt?«

Lachend ließ ich mich auf mein Bett plumpsen. »Und wie, ich habe sogar Schiss davor, dass sie alles ablehnt.«

»Wird sie nicht.«

»Woher willst du das wissen?«

»Intuition«, nuschelte Conor.

»Na, dann werde ich mal auf deine Intuition vertrauen.« Lächelnd griff ich Leenas Liste und fuhr mit dem Daumen über das Blatt, das an einer Stelle ein wenig eingerissen war. Das Stück Papier musste ihr am Herzen liegen, anders konnte ich mir nicht erklären, dass sie sich solche Mühe damit gegeben hatte. Die Überschrift verlief in hellblauen und pastellgrünen Buchstaben über die gesamte Breite, die von der Feuchtigkeit leider verschwommen war. Sie hatte winzige Illustrationen an die Ränder gezeichnet, von Blüten und Eichhörnchen über Bienen. Außerdem klebte hier und da ein Sticker, der den Sinn der einzelnen Punkte unterstrich: Sterne, Bäume, ein See. Manche lösten sich bereits vom Papier. Ich hob es an, um an ihm zu riechen, und es duftete dezent nach Leena, oder zumindest bildete ich mir das ein. Vermutlich hatte sie diese Liste lang bei sich getragen. Seufzend ließ ich mich rücklings aufs Bett fallen und schloss die Augen. Hoffentlich würde das alles nicht nach hinten losgehen.

Leena

Mürrisch sortierte ich die Regale und Auslagen im Verkaufsbereich. Es war der vierte Tag, nachdem Sam mich im Anschluss an unsere gemeinsame Nacht in der Hütte nach Hause gefahren hatte. Seitdem hatte ich ihn weder gesehen, noch von ihm gehört, und es störte mich, dass es mir nicht egal war. Ich war in einem Teufelskreis gefangen, und mit jeder Sekunde wuchs mein Unmut. Anscheinend war ich die Einzige von uns, deren Herz sich nach dem anderen sehnte. Die mehr in die Nacht hineininterpretiert hatte, als sie gewesen war. »So bescheuert«, murmelte ich mir zu, als ich eins unserer neusten Parfums in dem Aussteller drapierte, den die Kunden als Erstes sahen, wenn sie den Laden betraten. Meine Laune war von Tag zu Tag ein Stückchen weiter gesunken und befand sich nicht mehr weit vom absoluten Tiefpunkt entfernt. Das musste man erst mal schaffen, denn normalerweise fand ich immer etwas, das mich aufheiterte. Dazu benahm sich meine Chefin Sally seit gestern seltsam und grinste mich ständig an. Auf meine Nachfragen, warum zur Hölle sie das tat, denn es passte nicht zu ihr, schüttelte sie den Kopf, als wüsste sie etwas, wovon ich nichts ahnte. Es war zum Mäusemelken, meine Hirngespinste arbeiteten allem Anschein nach auf Hochtouren. Vermutlich nahm sie nur wieder am Speed-Dating teil, das Maddy einmal die Woche in seinem Café veranstaltete.

»Schaffst du es noch, die Kiste auszuräumen?« Sally stand mit einem weißen Karton in der Tür zum Lagerraum. »Larry hatte das Paket bei der Lieferung gestern übersehen und hat es gerade abgegeben.« Wann würde Sally endlich raffen, dass Larry es nicht vergaß, die Lieferungen abzugeben, sondern so verknallt in sie war, dass er das als Vorwand nahm, sie zu sehen? Dank Rupert wussten das alle. Alle, außer Sally. Ich schielte unnötigerweise zur Wanduhr über der Kasse. Natürlich schaffte ich es, immerhin hatte ich sowieso nichts weiter vor, als mich zu Hause in meinen Sessel zu kuscheln und die Welt zu hassen, während ich an Sam dachte. Genauso hatten meine letzten Abende auch ausgesehen. Erbärmlich.

»Na klar, Sally.« Ich nickte ihr zu und deutete neben den weißen Tresen, auf dem unsere altmodische Kasse stand. »Stell den Karton einfach ab.«

»Bist ein Schatz«, trällerte sie, tat wie geheißen und widmete sich der Tagesabrechnung. »Wenn du willst, kannst du das Ladenschild umdrehen.«

Ich schielte zum Schaufenster und hatte direkte Sicht auf den Festplatz, auf dem mich die Reste vom Heu-Blumen-Labyrinth an den Tag mit Sam erinnerten. Laut Maddy und George hatte es einen folgenschweren Streit zwischen den Freiwilligen gegeben, was dazu führte, dass niemand die Überreste des Tombola-Frühlingsfestes wegräumte. Es war Titelthema in der Saint Mellows Times – ein absoluter Skandal! Die Sonne stand niedrig am Horizont und würde bald hinter den Häusern verschwinden. Ich stellte das letzte Fläschchen auf den Aufsteller und rieb meine Handflächen aneinander, da sie kalt geworden waren, ehe ich zur Tür schritt, um das Open-Schild auf Closed zu wenden. Ich schnappte mir Larrys vergessene Lieferung und begann mechanisch, unsere Nachbestellungen in die Regale zu räumen. Ich erschrak, als jemand gegen die gläserne Ladentür klopfte, drehte mich allerdings nicht um. »Wir haben geschlossen«, rief ich genervt und hoffte, dass derjenige verschwand. Wir hatten nicht September, also war es nicht Phil, der mal wieder seinen Hochzeitstag vergessen hatte und panisch auf der Suche nach einem Last-Minute-Geschenk war. Es klopfte erneut, diesmal energischer, und ich wandte mich zu Sally, die grinsend auf ihrer Unterlippe kaute und mich anstrahlte. »Was ist denn mit dir los?« Ich zog verwundert eine Augenbraue hoch, denn Sally benahm sich eher seltener wie ein Kind an Weihnachten. Sie war der Inbegriff von Stil mit ihrer immer makellos sitzenden Kleidung, heute ein Kostüm in Limonengelb, und der allgegenwärtig passenden Mimik und Gestik. Ihr blonder Bob bewegte sich dank des ganzen Haarsprays kein Stück. Stirnrunzelnd wandte ich mich zur Tür und ließ vor Schreck die Verpackung fallen, aus der ich ein neues Probenfläschchen einer unserer beliebten Frühjahrsdüfte von Marc Jacobs herausgenommen hatte. Augenblicklich schlug mir der Puls bis zum Hals, und ich fragte mich, ob es möglich war, dass einem das Herz wortwörtlich aus der Brust sprang. An der Tür stand Sam und winkte mir lächelnd zu. Ich schüttelte wie in Trance den Kopf, starrte in seine Richtung. »Was will er hier?« Ich stellte die Frage mitten in den Raum und erwartete eigentlich keine Antwort.

»Das wirst du bestimmt erfahren, wenn du die Tür öffnest.«

Sam fuhr sich ruhelos mit der Hand durch die Haare, und ich riss mich von ihm los, um Sally entgeistert anzustarren. »Weißt du etwa, warum er hier ist?« Sie presste die Lippen aufeinander und zuckte mit den Schultern, ehe sie sich von meinem Blick loseiste. »Danke dafür«, murrte ich, holte tief Luft, bevor ich mich zur Tür bewegte, um Sam hereinzulassen.

»Hi, Leena.« Er hob einen Arm an und zog mich in eine zögerliche Umarmung, die ich nicht erwiderte, da mein Körper sich schlagartig versteifte wie ein Brett.

»Hey?« Verwundert runzelte ich die Stirn. »Was willst du hier?«

»Sally hat echt dichtgehalten?« Sein Lachen breitete sich im Verkaufsraum aus und brach fast die Eisschicht, die mich umgab. Aber nur fast.

»Ob Sally – was?« Verdattert sah ich zu meiner Chefin, die plötzlich unglaublich geschäftig tat und einen leeren Notizblock durchblätterte. Was war hier los? Was lief hier?

»Ich hole dich ab«, gab er bekannt und schluckte, als hätte er Sorge, ich würde ihn abweisen und bitten zu gehen.

»Okay?« Mir fiel auf, dass ich kaum ein Wort sprach und noch dazu an alles ein Fragezeichen setzte.

»Ich habe eine Überraschung für dich.«

»Für mich?« Okay, es wurde nicht besser. Warum warf er mich so aus der Bahn?

Er versteckte seine Hände in den Taschen seiner Jacke. »Ja.« Er war, wie auch das letzte Mal, von oben bis unten in Schwarz gekleidet. Schwarze Jeans und Sneakers, schwarzer Pullover, wie schon damals auf der Highschool. Manche Dinge änderten sich wohl nie. Ich würde lügen, wenn ich behauptete, es zöge mich nicht an. Es passte perfekt zu ihm, mit seinen dunkelblonden Haaren, die mal wieder einen Schnitt vertrugen, den waldgrünen Augen und der dezent sonnengebräunten Haut. Ich atmete tief durch, um mich nicht weiter von seinem Erscheinungsbild einlullen zu lassen, verschränkte die Arme vor der Brust und stellte die Hüfte aus.

»Ich mag keine Überraschungen«, erinnerte ich ihn und verkniff mir ein Grinsen.

»Mein Gott, Leena«, kam es frustriert von meiner Chefin, die den Kopf schief gelegt hatte und zu uns herübersah. »Gib dir einmal einen Ruck.«

Mein Blick heftete sich auf den weißen Karton, um den sie mich gebeten hatte, ihn auszuräumen. Ich schluckte und zeigte darauf. »Ich muss noch arbeiten.«

»Musst du nicht, ich mach das«, fiel Sally mir eine Spur zu euphorisch in den Rücken. »Schönen Urlaub, morgen.«

»Danke«, murmelte ich und griff nach meinen Haarspitzen, als ich realisierte, was sie da gesagt hatte. »Moment! Urlaub? Ich habe keinen Urlaub.«

»Doch«, kam es zeitgleich aus Sallys und Sams Mündern.

»Äh, habe ich da auch noch ein Wörtchen mitzureden?« Unsicherheit ergriff Besitz von mir, und meine Knie wurden weich wie Pudding, während meine eiskalten Finger unkontrolliert zitterten. Wenn ich etwas noch mehr hasste als ungeplante Ereignisse, war es, wenn Dinge, die mich betrafen, über meinen Kopf hinweg entschieden wurden.

»Natürlich«, lächelte Sam schüchtern. »Magst du mitkommen?« Er sah mir in die Augen, und mein Herz machte einen kleinen Hüpfer, während in meinem Bauch eine Schmetterlingsparty entstand. »Bitte?«

Wie sollte ich da Nein sagen? Ich wollte ihn nicht vor den Kopf stoßen, erst recht nicht vor Sally, auch wenn ich gleichzeitig unglaublich wütend und verwirrt war. Aber das Gefühl, das auf der Spitze meiner Emotionen saß, war Freude darüber, ihn wiederzusehen. Ich verspürte das Verlangen, von ihm in den Arm genommen zu werden, um seinen warmen Duft nach Wald und Minze zu inhalieren. »Okay«, hörte ich die Worte meinen Mund verlassen. Allerdings nur aus dem einfachen Grund, um an meinem Arbeitsplatz keine Szene zu machen. Ich drehte mich um und trat zu Sally hinter die Kasse, wo mein gelber Cord-Rucksack und mein Mantel lagen.

»Und wer öffnet morgen früh den Laden?« Ich klimperte mit den Schlüsseln.

»Ich, natürlich«, grinste Sally.

»Morgen ist Freitag, wer leitet dann den Aerobic Kurs der Senioren?« Ich ließ sie nicht so schnell vom Haken.

Ertappt schnappte sie nach Luft, fasste sich jedoch schnell wieder und schenkte mir ihr Pokerface-Lächeln. »Das lass mal meine Sorge sein.« Sie strich mir einmal über den Rücken und nickte mir lächelnd zu. »Viel Spaß.«

Als Antwort funkelte ich sie grimmig an. »Mach so was nicht nochmal«, bat ich sie, lächelte ihr zum Abschied aber zu.

Ich stiefelte an Sam vorbei und drehte mich mit in die Hüften gestemmten Händen zu ihm um. »Und jetzt? Wir sind in Saint Mellows! Hier gibt es nur Frühstückscafés, und der 24-Stunden-Supermarkt hat seit einer Stunde geschlossen.«

Sam drehte sich kurz weg, und ich sah, dass Sally uns beobachtete. »Komm.« Er griff nach meinem Handgelenk und zog mich sanft ein paar Meter weiter vor das Schaufenster vom einzigen Schuh- und Reifengeschäft in Saint Mellows. »Es tut mir leid.« Er ließ meine Hand los.

Verdutzt glotzte ich ihm ins Gesicht. »Was denn?«

»Ich habe mich nicht gemeldet und überfalle dich jetzt.«

Ich schluckte, nickte schließlich lächelnd. »Das sollte es auch, Mister.«

»Komm her.« Er hielt seine Arme auf und legte den Kopf schief, schenkte mir ein Lächeln, dem ich unmöglich widerstehen konnte. Aber im Augenblick gewannen die Verärgerung in meinem Bauch und die Verwirrung die Oberhand. Was hatte er sich dabei gedacht, mich die ganzen letzten Tage auf heißen Kohlen sitzen zu lassen, nur, um dann vorbeizuschneien und was-weiß-ich mit mir anstellen zu wollen? Spekulierte er darauf, dass ich ihm ausgelassen in die Arme springen würde?

»Moment, Sam«, erwiderte ich stirnrunzelnd. »Ich verstehe dich nicht. Was geht hier vor?«

Sam stieß einen Schwall Luft aus und blähte die Wangen, fuhr sich mit der Hand durch die Haare. »Ich hätte mich melden sollen, oder?«

Verunsichert biss ich mir auf die Unterlippe und nuschelte ein nahezu tonloses »Vielleicht«.

»Okay«, räusperte er sich. »Du bist böse auf mich.«

»Bin ich nicht, im Ernst«, murmelte ich und verdrehte die Augen mit einem zaghaften Lächeln. Mit in den Hosentaschen versenkten Händen kickte ich einen Stein auf die Straße. »Aber ich stehe nicht auf solche Aktionen, okay?«

»Warum nicht?«

»Das geht dich nichts an«, erwiderte ich schnippischer, als ich wollte, und bereute es im nächsten Augenblick.

»Okay, bitte vergiss meine Nachfrage«, versuchte er, das Schiff zu wenden. »Wirklich. Du musst mir nichts erzählen.«

Stöhnend richtete ich den Blick zum Himmel und blinzelte blitzschnell, damit die aufkommenden Tränen versiegten. Warum nicht? Klar, logisch betrachtet waren wir wie Fremde. Fremde, die sich geküsst und eine Nacht miteinander verbracht haben. Aber was würde schon passieren, wenn ich ihm einen Krümel meiner Ängste hinwarf? Es war nur ein Bruchteil, und irgendetwas in mir verlangte danach, die Worte endlich einmal auszusprechen. »Ich habe mal …« Die Stimme drohte mir zu versagen. »Ich habe mal einen Menschen verloren, meine Grandma, und habe in solchen Momenten sehr daran zu knabbern. Sonst nichts.« Sonst nichts. Das war gelogen. Ohne ihn anzublicken, heftete ich den Blick auf meine Schuhspitzen und hoffte, dass er nicht weiter nachfragte. Eventuell war ich bereit, bei Sams Spiel mitzuspielen. Allerdings war ich noch lange nicht so weit, ihm zu erzählen, warum mir der Ausbruch aus meiner Routine wirklich solche Angst einjagte.

»Das tut mir sehr leid, Leena. Darf ich dich nach Hause bringen?« Sam kam einen Schritt auf mich zu, das hörte ich am zögerlichen Auftreten seiner Füße. Als ich den Kopf anhob, trafen sich unsere Blicke, und ich erkannte, wie Enttäuschung sich in seiner Miene ausbreitete. Das sachte Flattern von Schmetterlingsflügeln in meinem Magen machte meinem schlechten Gewissen Platz. Ja, vielleicht war die Art, wie Sam mich überrumpelte, nicht optimal. Und woher sollte er ahnen, dass ich Überraschungen nicht leiden konnte? Wenn ich die beiden Fakten außen vor ließ, sie einfach ignorierte, war das hier doch eigentlich schön. Verwirrend, herausfordernd und ein wenig seltsam, aber schön.

Resigniert fuhr ich mir mit den Handflächen über das Gesicht. »Ach, Sam«, seufzte ich. »Was machst du hier nur?« Ich hob die Arme an und deutete abwechselnd auf uns.

»Ich weiß nicht, was ich sagen soll, Leena.« Er schenkte mir ein schiefes Lächeln und zuckte mit den Schultern. Seine Ehrlichkeit beeindruckte mich. Zögerlich setzte ich einen Schritt auf ihn zu und lehnte mich gegen seinen Körper, woraufhin er seine Oberarme fest um mich legte und mich an sich drückte. Ich spürte, wie er sein Kinn auf meinem Scheitel ablegte, und hörte das Herz in seiner Brust schlagen. Ich presste die Kiefer aufeinander und schloss die Augen, um seinen Duft einzuatmen. Er roch haargenau so, wie ich es mir jeden Tag ins Gedächtnis gerufen hatte. Meine Eingeweide zogen sich schmerzhaft zusammen und suggerierten mir, mehr zu wollen. Bevor diese Gefühle meinen Verstand unzurechnungsfähig machten, hob ich den Kopf, um unsere Umarmung zu lösen.

»Und jetzt?« Die Stimme blieb mir im Hals stecken, und ich räusperte mich, was mir peinlich war.

»Bitte erschieß mich nicht«, bat er, als er mir seinen Arm um die Schultern legte, um mich zum Laufen zu bewegen.

»Habe meine Knarre nicht dabei«, witzelte ich und genoss das Gefühl, ihm nah zu sein. Sams Sicherheit, wenn es darum ging, mich zu berühren, tat mir unfassbar gut und schenkte mir Mut. Ich genoss es, keine Gedanken daran verschwenden zu müssen, den ersten Schritt zu tun, denn bisher hatte er es übernommen. Und er tat es sogar jetzt, obwohl seit unserem ersten und einzigen Treffen einige Tage vergangen waren.

»Wir spazieren zu dir.«

»Zu mir?« Ich runzelte die Stirn und fummelte nervös am Tragegurt meines Rucksacks herum. Ich blickte zu ihm auf und sah, dass er angespannt auf seiner Unterlippe kaute.

»Genau, damit du packen kannst.«

Ich lachte kurz auf und strich mir eine Haarsträhne hinter das Ohr. »Ja. Klar.« Damit, dass er aus heiterem Himmel stehen blieb, hatte ich nicht gerechnet und strauchelte. Als ich mich wieder gefangen hatte, suchte ich verwirrt seinen Blick, der nahezu schmerzverzerrt aussah. Eine Eiseskälte kroch meine Adern hinauf und lähmte meinen Körper. Das war kein Scherz? »Du meinst das ernst?« Meine Stimme schrillte in meinen eigenen Ohren, und ich versuchte, nicht zu hyperventilieren. Er nickte verunsichert und griff nach meinem Handgelenk. Ich ließ ihn gewähren, auch wenn er unfair spielte, denn sobald er mich berührte, knipste er automatisch einige wichtige Synapsen in meinem Gehirn aus.

»Ich würde mich freu…« Er seufzte, als suchte er nach passenderen Worten. Räuspernd fuhr er sich mit den Fingern durch die dunkelblonden Haare. Konnte man neidisch auf eine Hand sein? Ich wollte ebenfalls durch seine Haare fahren. »Vertraust du mir? Wie letztens im Ballon?«

Mit dieser Frage hatte ich nicht gerechnet, Sam ging wirklich aufs Ganze. »Ich denke schon«, murmelte ich und erschrak darüber, meine eigene Stimme zu hören. Ich denke schon? Die Worte hatten meinen Mund verlassen, ohne es mit meinem Gehirn abgesprochen zu haben. Mein schnell klopfendes Herz zeigte mir, dass es schuld daran war. Seit wann handelte ich unüberlegt? Und seit wann bescherte es mir keine Heidenangst? Bevor meine Gedanken zu Grandma Edith abschweiften, der der Ausbruch aus ihrer Routine zum Verhängnis geworden war, suchte ich lächelnd Sams Blick.

Sam zog mich erneut an sich und senkte den Kopf, bis sein Mund direkt an meinem Ohr war. »Okay«, hauchte er. »Danke.«

Ich nickte lediglich als Antwort, denn was hätte ich auch darauf erwidern sollen?

Eine Viertelstunde später stand ich inmitten eines Klamottenchaos in meinem Schlafzimmer, den winzigen Handgepäckkoffer, den ich erst zweimal benutzt hatte, aufgeklappt auf dem Bett. »Was stimmt nicht mit mir?« Hysterisch lachte ich und ließ mich hilflos auf den Bettrand fallen. »Ein Trip muss geplant sein. Von mir selbst.« Selbstgespräche zu führen, war schon immer mein heimliches Ventil gewesen. Manche Dinge musste man mit sich selbst ausmachen, und da half es, seine eigene Stimme zu hören. »Okay. Du packst jetzt einfach alles in diesen Koffer, was du hübsch findest.« Ich bemerkte, dass ich vor Nervosität wieder an meinem Nasenring drehte, und zwang mich sofort, die Hand herunterzunehmen. »Warm sollte es sein, kuschelig, sexy.« Mir schoss die Hitze ins Gesicht. Hatte ich sexy gesagt? Warum wollte ich mich sexy fühlen? Sam gab mir nicht das Gefühl, mich aufbrezeln zu müssen. Immerhin hatte er mich das erste Mal geküsst, als ich alte, verwaschene Männerkleidung getragen hatte, die drei Nummern zu groß gewesen war. Allerdings hatte ich auch keine Unterwäsche getragen, was er gewusst hatte. »Besser haben, als brauchen«, nuschelte ich, als ich nach meiner hübschen Unterwäsche griff, die mir Sue aufgequatscht hatte, als wir einen Trip nach Los Angeles gemacht hatten und sie in einen unaufhaltbaren Kaufrausch verfallen war. Sam meinte, ich solle für eine Nacht packen. Ich schielte zu dem hellblauen Koffer. Frustriert starrte ich auf den Kleiderhaufen. Reichte ein Pullover? Was, wenn es kalt würde? Sollte ich eine Extra-Jeans einpacken? Noch nie zuvor hatte ich einen halben Nervenzusammenbruch erlitten, weil ich einen Koffer packen musste. Für eine Nacht. Ich spürte, wie die Aufregung in mir hochkroch und mir die Kehle zuschnürte. Ich durfte nicht zu viel darüber nachdenken, dass ich in gewissem Maße die Kontrolle abgab. Und das auch noch irgendwie freiwillig. »»Okay.« Ermutigt stand ich auf und klatschte in die Hände. »Einfach machen, Leena. Komm schon, einfach machen.«

Eine halbe Ewigkeit später rollte ich den vollgestopften Koffer zur Wohnungstür, vorbei an der Küchenzeile und meinem kuscheligen Wohnzimmer. Ich liebte den offenen Schnitt meiner winzigen Wohnung. Im Flur, in dem eine alte Kommode aus dunklem Holz stand, hielt ich in der Bewegung inne. Ich ließ den Blick über die Fotos gleiten, die ich an einer Lichterkette befestigt hatte. Wenn ich im Wohnzimmer auf dem grauen Sofa mit den zur Jahreszeit passenden Kissen saß, hatte ich direkte Sicht auf sie. Kurz überlegte ich, das Kissen, das die Form eines Eichhörnchens hatte, einzupacken, um einen Teil von zu Hause dabeizuhaben. Ich entschied mich dagegen. Ich benahm mich wie ein Kleinkind. Meine Aufmerksamkeit heftete sich auf eins meiner Lieblingsfotos. Darauf saßen Sue und ich als Mädchen hinter unserem ersten Limonadenstand vor dem Haus meiner Eltern. Hinter uns stand Grandma, jedem von uns eine Hand auf die Schulter gelegt. Sie grinste genauso breit in die Kamera wie Sue und ich. Ich erinnerte mich noch genau daran, wie stolz wir an diesem Tag waren. »Oh Granny«, seufzte ich leise und schluckte schwer. »Mir wird nicht das Gleiche passieren wie dir. Das verspreche ich.« Ich hob die Hand zu meinem Mund, hauchte einen liebevollen Kuss auf meine Fingerspitzen und drückte diese auf das Foto. Plötzlich kam mir etwas in den Sinn, das Grandma einst zu mir gesagt hatte. Irgendjemand sollte immer wissen, wo ich war und mit wem. Egalwie verliebt ich oder wie vertrauenswürdig jemand anderes war. Sie hatte recht. Natürlich wusste ich, dass Samuel nicht plante, mir etwas anzutun. Andererseits schadete es nicht, jemandem Bescheid zu geben. Und dieser auserkorene Jemand war Sue. Ich ließ den Rucksack von der Schulter gleiten und kramte mein Handy daraus hervor.

Ich: Flipp jetzt nicht aus!

Ich wartete ein paar Sekunden, starrte grinsend ihren Namen an, und wie so oft war sie sofort online. Sue und ihr Handy waren verheiratet. Unter dem Namen Sue-ster, was ein Mix aus Sue und Sister war, erschienen drei Punkte, was mir zeigte, dass sie tippte.

Sue-ster: WAS IST PASSIERT?

Ich: Ich wollte dir nur Bescheid geben, dass ich heute nicht zu Hause schlafe.

Sue tippte, hörte auf und tippte wieder.

Sue-ster: Okay? Sondern?

Ich: Weiß ich nicht. Sam hat eine Überraschung für mich.

Sue-ster: Und du machst freiwillig mit?

Ich: Irgendwie schon. Pass auf, ich teile gleich meinen Standort mit dir, ja?

Sue kannte meine Angst. Sie war der einzige Mensch, der nachvollziehen konnte, warum ich so verbittert an meinem Alltag festhielt.

Sue-ster: Klar, ich check ihn immer mal. Und schreib mir zwischendurch!

Ich: Werde ich!

Sue-ster: Nicht vergessen!

Lachend verdrehte ich die Augen.

Ich: Hab dich lieb, Sis.

Sue-ster: Hab Spaß!

Sue-ster: Warte!

Ich legte den Kopf schief, voller Neugier, was kommen würde, und lachte auf, als sie mir eins ihrer berüchtigten, inspirierenden Zitatebilder aus Pinterest in den Chat postete. Girl, do it for you stand darauf. Wie schaffte sie es, innerhalb weniger Sekunden etwas Treffendes zu finden?

Ich: Mache ich.

Mit einem fetten Grinsen im Gesicht verstaute ich das Handy im Rucksack, schulterte ihn, griff nach dem Koffer und öffnete die Wohnungstür, nachdem ich meine Foto-Lichterkette ausgeschaltet hatte. Ich versuchte, das Zittern meiner Finger zu ignorieren. »Bis bald, Wohnung«, verabschiedete ich mich, als ich die Tür hinter mir ins Schloss zog und den Koffer die Treppe hinunterwuchtete. Ich wohnte seit zwei Jahren hier. Es war eine Einliegerwohnung, und um zu ihr zu gelangen, kam ich nicht umhin, durch den persönlichen Flur meiner Vermieterin zu gehen. Anfangs hatte mich das gestört, und ich hatte dreimal überlegt, ob ich wirklich rausmusste. Mein Ziel war gewesen, Unterhaltungen mit ihr aus dem Weg zu gehen. Irgendwann hatte ich mich daran gewöhnt, und mir war klar geworden, dass ich mich mehr oder weniger selbst eingesperrt hatte. Nur weil ich Angst hatte, angesprochen zu werden und ein Gespräch führen zu müssen. Wie immer begegnete ich ihr auch dieses Mal nicht. Ich stieß die Haustür auf und starrte zu Sam, der gegen seinen Pick-up gelehnt auf sein Handy sah. Er hob den Kopf, und ein breites Grinsen zeigte sich auf seinem Gesicht, was meine Schmetterlinge im Bauch erneut weckte. »Ruhig, da unten«, tadelte ich meinen kribbelnden Magen, als ich auf wackeligen Beinen auf Sam zulief.

»Ich dachte schon, du verbarrikadierst dich da oben, und ich muss allein fahren.« Er nahm mir den Koffer ab und öffnete die Beifahrertür, um ihn im hinteren Teil der Fahrerkabine zu verfrachten.

»War kurz davor«, gab ich lächelnd zu und krallte mich an meinen Rucksack, da mir vor Aufregung die Hände zitterten.

»Können wir?« Er legte beide Hände in seinen Nacken und atmete angestrengt aus. Ich rechnete es ihm so unglaublich hoch an, dass er nicht versuchte, seine Nervosität zu verstecken. Seine offensichtliche Anspannung hielt meine eigene in Schach, auch wenn das eigentlich keinen Sinn ergab.

Ich nickte und schaute kurz zum Himmel, der sich mittlerweile fast komplett dunkel gefärbt hatte. »Wir können.«

Als Antwort beugte er sich blitzschnell zu mir herunter und drückte mir einen flüchtigen Kuss auf den Mund. Wie gelähmt blieb ich stehen und starrte ihn an. Meine Lippen hatten Feuer gefangen, mindestens eintausend Nadelstiche fuhren mir durch die Haut. Ich musste mich beherrschen, sie nicht mit den Fingern zu berühren. Sam hingegen drehte sich einfach um und deutete auf die offen stehende Beifahrertür. »Steig ein, und das Abenteuer beginnt.«

Langsam stolperte ich auf ihn zu und stieg in das Auto. Sam stieß die Tür zu und lief um den Wagen herum. »Abenteuer. Was soll schon passieren?«, murmelte ich wie erstarrt und erblickte Rupert in seinem typischen braun-gelb karierten Mantel und der Schiefermütze, der gerade seinen Mops Gassi führte und mir neugierig in die Augen sah. Na super.

Sam

»Alles okay bei dir?« Sogar Conor hätte erkannt, dass etwas in Leena vorging. Es war, als umgäbe sie eine Aura aus Angst. Doch was war es, wovor sie sich fürchtete? Immer wieder rutschte sie auf dem Sitz umher. Kontrollierte, ob sie eine Nachricht bekommen hatte. Einmal sah ich aus dem Augenwinkel, wie sie ein Foto bekam, ein leises Seufzen von sich gab und ihre Finger zum Antworten blitzschnell über die Tastatur flogen. Auf dem Schnappschuss grinsten ein Mann und eine Frau in die Kamera, wahrscheinlich ihre Eltern? Schnell hatte ich mich abgewendet, nicht dass sie noch glaubte, ich wäre zu neugierig. Dann öffnete sie Instagram. Als ihr Daumen das erste Mal das Icon antippte, lief es mir eiskalt den Rücken herunter, und in mir wuchs die Neugierde zu einem riesigen Gebirge an. Ich wäre am liebsten sofort rechts herangefahren, um mir mein Handy zu schnappen und nach ihr zu suchen. Was sie wohl für Fotos und Reels hochlud? Oder war sie stille Beobachterin? Mein Herz schlug stärker in meiner Brust, da es so vieles gab, das ich nicht von ihr wusste. Woher auch? Eine leise Stimme in mir schrie, dass ich alles kennenlernen wollte. Jedes kleine bisschen von ihr.

»Ja.« Leena räusperte sich, warf mir ein schiefes Lächeln zu und steckte sich eine lose Strähne zurück in den Pferdeschwanz.

»Sicher?« Ob es schlau war nachzuhaken? Dabei war mir klar, dass sie schwindelte. Irgendetwas war los.

Den Blick auf ihren Schoß senkend, atmete sie tief ein, ehe sie den Kopf schüttelte. »Irgendwie nicht. Ich mache so was eigentlich nicht, weißt du?«

Ich schnalzte mit der Zunge und zwinkerte ihr kurz zu, ehe ich den Blick wieder auf die Straße vor uns richtete. »Das habe ich mir gedacht. Warum nicht?« Ich nahm aus dem Augenwinkel wahr, dass sie die Schultern hochzog.

»Das weiß ich nicht. Ich plane einfach gern selbst.«

Das Kribbeln in meiner Brust breitete sich wie eine Druckwelle bis in meine Fingerspitzen aus. Eigentlich war das die beste Vorlage, um sie einzuweihen. »Auch das vermutete ich.«

Sie drehte den Kopf zu mir herum, und ich lächelte ihr kurz zu. »Und wie kommst du darauf?«

»Fass in meine Hosentasche«, forderte ich sie auf und nickte zu meinem Schoß.

Nachdem sie sich nicht regte, realisierte ich, wie behämmert das klang, und riskierte einen Blick zu ihr. Wie erwartet hatte sie eine Augenbraue angehoben, und die Mundwinkel verrieten ihren Versuch, ein Lachen zu unterdrücken. »Ich soll, bitte was, tun?« Der Schalk saß in ihrer Stimme und weckte die Schmetterlinge in meinem Bauch. Sie flatterten wild umher, berührten einander und meine Magenwände.

»Das klang wieder irgendwie falsch«, grinste ich und fuhr mir mit einer Hand über das Gesicht, ehe ich sie sicher um das Lenkrad schloss.

»Irgendwie schon, ja«, lachte sie und hielt sich dabei eine Hand vor den Mund.

Ohne sie anzusehen, nahm ich die rechte Hand vom Lenker und umfasste zögerlich ihre Hand. »Nicht verstecken, Leena.« Die Worte blieben mir beinahe im Hals stecken. Es stimmte zwar, dass ich mein Herz auf der Zunge trug. Dennoch war es für niemanden einfach, seine Gefühle in Worte zu fassen. Nicht unbedingt, weil einem die Wörter fehlten, sondern weil man sich verletzlich machte. Aber irgendetwas an Leena gab mir die Sicherheit und den Mut, frei heraus zu sagen, was mir in den Kopf kam. Ihre weiche Haut war eiskalt, was meinem schlechten Gewissen, sie aus ihrem Alltag gerissen zu haben, Feuer gab. Andererseits war es erleichternd zu wissen, dass sie mindestens genauso aufgeregt war wie ich.

»Okay.« Ihre Stimme war leise, sodass ich sie über die Motorengeräusche kaum hörte. Als Antwort verschränkte ich meine Finger mit ihren und genoss es, sie auf ihren Oberschenkel zu legen. Ein Gefühl huschte mir über den Rücken, das ich lang nicht mehr wahrgenommen hatte. Zufriedenheit. In diesen Sekunden, hier in meinem Dodge, war ich zufrieden, da ich Leenas Hand halten durfte. Manchmal bedarf es keiner großen Momente, um glücklich zu sein. Glück. Ein mulmiges Gefühl breitete sich in mir aus und schnürte mir die Kehle zu. Es war ein Wort, das ich nicht mehr hören konnte. Ich hatte es zu oft im Zusammenhang mit dem Schrecklichsten gehört, das mir jemals widerfahren war. Samuel hatte Glück. Ein Glück ist nichts Schlimmeres passiert. Ihr Sohn kann sich glücklich schätzen. Leider hatte Conor weniger Glück als Samuel. All diese Sätze, die Ärzte, Nachbarn, unsere Familie und fremde Menschen zu meinen Eltern gesagt hatten, hatte ich bis heute nicht vergessen können. Der Unfall war alles gewesen, außer Glück. Er hatte zerstört, zerrissen und es unmöglich gemacht, dass mein kleiner Bruder jemals ein normales Leben würde führen können. Ich spürte, wie Leenas Daumen unentschlossen über meinen Handrücken strich. »Ist alles okay mit dir?« Sie betonte das letzte Wort. Es war zu früh. Ich war nicht bereit, ihr davon zu erzählen, zumal sie garantiert davon gehört hatte. Jeder in Saint Mellows wusste, dass etwas Grausames passiert war. Ich schnaubte kopfschüttelnd. Leena war damals ein Kind gewesen. Warum hätten ihre Eltern ihr davon erzählen sollen? Entsetzliche Unfälle erschütterten und ließen die Welt für eine Weile stillstehen. Doch sobald man die Sanduhr wieder herumdrehte, ging das Leben weiter, als hätte es nie eine Unterbrechung gegeben. Sekunde für Sekunde rauschte an einem vorbei, und irgendwann hatte man die Sanduhr so oft gedreht, dass man sich nicht mehr daran erinnerte, was einst geschehen war. Zu unserem Leidwesen waren Conor, meine Eltern und ich für immer in der Mitte der Sanduhr gefangen. Unsere Erinnerungen und die Konsequenzen waren zu präsent, als dass sie jemals hindurchpassen würden. Für manche Menschen hatte sich die Zeit weitergedreht. Für uns nicht.

Ich zwang mich dazu, die schwarzen Gedanken zu vertreiben, und nickte. »Jep.«

»Ich glaube dir nicht, Sam. Aber ich lass das einfach mal so stehen.«

Lächelnd schüttelte ich den Kopf. »Ich habe nicht mehr geschwindelt als du«, neckte ich sie und verstärkte den Griff um ihre Hand.

»Erwischt«, murmelte sie, drehte sich weg und sah aus dem Beifahrerfenster. Noch nie war ich einer Frau begegnet, die Geheimnisse akzeptierte. Die mich nicht drängte zu erzählen, warum meine Gedanken manchmal schwarz wurden. Man merkte es mir an, auch wenn ich es zu verhindern versuchte. Ich befreite widerwillig meine Hand aus ihrer und fischte ihre Bucket-List aus der Hosentasche. Lächelnd hielt ich das zusammengefaltete Stück Papier in die Höhe und warf immer wieder kurze Blicke zu ihr herüber. »Woher hast du die?«

Ein Schauder rieselte meinen Rücken hinab, da ihre Stimme eiskalt war, als hätte ich sie verletzt. »Ich habe sie gefunden«, erklärte ich stirnrunzelnd.

»Hast du sie gelesen?« Sie klang weinerlich und erbost zugleich. Ich hatte mit vielem gerechnet, aber nicht damit.

Zögerlich nickte ich und hielt an einem Feldweg, der die Landstraße kreuzte, auf der wir fuhren. Ich lenkte das Auto mit klitschnassen Fingern in den Weg ein und schaltete den Motor aus. »Habe ich. Es tut mir leid«, entschuldigte ich mich. »Auch wenn ich nicht verstehe, warum.«

»Das war meins, Sam. Persönlich.« Gekränkt faltete sie die Liste zusammen und krallte ihre Finger darum.

»Erklärst du mir, was dich wütend macht, Leena?« Wie gern hätte ich nach ihrer Hand gegriffen oder sie in eine Umarmung gezogen. Anscheinend hatte ich sie verletzt. Demnach war das eingetreten, was ich befürchtet hatte.

»Ich bin nicht wütend, aber das ging dich schlichtweg nichts an«, murmelte sie und wich meinem Blick aus. »Ja?«

»Es tut mir leid«, wiederholte ich meine Worte.

»Du hattest kein Recht, das zu lesen«, erwiderte sie bedrückt, und ich sah ihre Unterlippe beben. Überfordert trommelte ich mit den Fingerspitzen aufs Lenkrad, öffnete die Tür und stieg aus, da mir die Luft in der Fahrerkabine zu dünn wurde. Ich fuhr mit den Händen über mein Gesicht und durchs Haar. Warum reagierte sie so extrem? Hatte ich sie wirklich verletzt? Es war doch nicht ihr verdammtes Tagebuch, oder? Entrüstung darüber, ungerecht behandelt zu werden, stieg in mir auf, auch wenn ein rationaler Teil von mir wusste, dass meine Reaktion ebenfalls übertrieben war. Aber die letzten Tage hatte ich jede Minute zur Planung genutzt. Für niemand Geringeren als die Frau, die mich jetzt ansah, als wäre ich ihr Todfeind. Ich hörte eine zuschlagende Autotür und spähte über das Autodach hinüber zu Leena. Das einzige Licht, das uns umgab, stammte von den Scheinwerfern des Wagens. Sogar der Mond versteckte sich hinter einer dicken grauen Wolkenschicht. Ich lauschte ihren Schritten auf der Erde, die sich mir näherten. Mit vor der Brust verschränkten Händen sah sie mich an. »Was machst du da?«

Mir fiel die Kinnlade herunter. »Was ich hier mache?« Ich schaffte es nicht zu verhindern, dass ein ungläubiges Lachen aus meiner Kehle drang. »Leena, du behandelst mich, als hätte ich dein Tagebuch gestohlen.«

Sie kickte mit gesenktem Blick einen Stein zur Seite. »Ichweißja«, nuschelte sie im unverständlichen Flüsterton.

»Was?«

Stöhnend hob sie den Kopf an und warf ihn in den Nacken. »Ich weiß.« Ihre Stimme war erstaunlich fest, wo sie doch eben noch klang, als würde sie gleich weinen.

»Es tut mir wirklich leid«, beharrte ich erneut und versenkte die Hände in den Taschen meiner Jeans.

»Okay. Es ist nur …« Sie brach mitten im Satz ab, senkte ihren Blick wieder zu Boden und ließ die Schultern sinken.

»Was ist es nur, Leena?« Ihre Reaktion beobachtend, setzte ich einen Schritt auf sie zu, und da sie nicht zurückwich, direkt einen zweiten.

»Ich schreibe solche Listen einfach für mich, verstehst du? Ohne irgendwelche Hintergedanken.«

Ich nickte und zog eine Hand aus der Hosentasche, um ihr Kinn anzuheben. »Ich wollte dir nicht zu nahe treten, indem ich die Liste gelesen habe.« Ich biss mir auf die Lippe, um mein Grinsen zu unterdrücken.

»Und warum grinst du so albern, wenn es dir leidtut?« Sie hob eine Augenbraue und lachte beschämt.

»Weil dieser Ausflug damit zu tun hat.«

Das Licht der Scheinwerfer reflektierte in ihren Augen, und sie blinzelte. »Wie meinst du das?«

»Das wirst du sehen.«

Sie seufzte und ließ ihren Kopf wie einen Stein gegen meine Brust fallen. »Du schaffst mich, Sam.« Ihre Worte drangen gedämpft durch den Pullover zu mir, und ich lachte, wodurch ihr Kopf auf mir wippte. Ich schlang grinsend die Arme um sie und drückte sie an mich, genoss das Kribbeln an jedem Quadratmillimeter, an dem sie mich berührte.

»Du mich auch«, flüsterte ich, bevor ich mutig einen versöhnenden Kuss unter ihrem Ohr hinterließ.