3. Kapitel

Leena

»Was redest du da, Leena? Komm jetzt!« Ich sah mich kurz um und erkannte, dass die einzige andere Option war, im Wald zu bleiben. Im strömenden Regen, bei Blitz und Donner. Nicht ausgeschlossen, dass es wilde Tiere gab. Und Axtmörder. Ich würde niemals wieder an irgendeinem Gewinnspiel teilnehmen. Sorry, Sue, ab jetzt würde die Tombola wohl dein alleiniges Ding sein. Sam ging voraus, drehte den Knauf der alten Holztür und betrat die Blockhütte, ohne zuvor einen Blick durch ein Fenster zu werfen oder gar anzuklopfen.

»Du kannst nicht einfach einbrechen«, zischte ich bange und versuchte, meinen Atem zu regulieren. Das Herz pochte mir bis zum Hals, meine Knie schlotterten. Die ganze Situation jagte mir eine Heidenangst ein, und ich wünschte mich nach Hause ins Bett. Mit einem Lavender Latte, einem fesselnden Fantasyroman oder ein paar seichten Teeniefilmen auf Netflix, meinen geliebten Lichterketten, drölftausend Teelichtern und meiner Duftkerze, die nach frischer Wäsche roch. Gern gemeinsam mit Sam. Erschrocken über diese Eingebung, sog ich scharf die Luft ein. Diesen Wunsch hatte ich jahrelang nicht mehr gehegt. Es war, als würde meine Teenagerschwärmerei für ihn mit voller Wucht zurückkehren. Bloß dass es nun erwachsene Gedanken waren, die mir durch den Kopf schwirrten. Im vorstellbar unpassendsten Moment.

»Kommst du jetzt bitte rein, Leena?« Seine angenervte Stimme duldete keinen Widerspruch, demzufolge setzte ich notgedrungen den ersten Fuß über die Türschwelle, um in ein fremdes Haus einzudringen.

»Hier wohnt vielleicht jemand«, flüsterte ich und ließ den Blick durch die Hütte schweifen. Viel konnte ich durch die Dämmerung und das Gewitter nicht erkennen, aber es machte auf mich weder einen heruntergekommenen noch vernachlässigten Eindruck. Ein Lachen drang aus Sams Kehle, und er sah mich an, als hätte ich nicht mehr alle Latten am Zaun. Was hatte ich getan, um ihm so einen Lachanfall zu bescheren? Zu allem Überfluss beugte er sich vornüber, stützte sich auf seinen Knien ab. Wow, Übertreiber! »Ist ja gut.« Mit zu Fäusten geballten Händen schenkte ich ihm einen finsteren Blick, was alles verschlimmerte.

»Leena?«, japste er.

»Was?« Angriffslustig verschränkte ich die Arme vor der Brust und zog eine Augenbraue in die Höhe.

»Du dachtest, wir wären hier … eingebrochen?« Sein Mundwinkel berührte um ein Haar seine Augen, und dieses verdammte Grübchen lenkte mich ab. Wie konnte er von einer Sekunde zur anderen von ernst zu mopsfidel wechseln?

Ich runzelte die Stirn, verstand nur Bahnhof. »Sind wir das denn nicht?«

Kopfschüttelnd kam er auf mich zu, und ich war erst versucht, einen Schritt zurückzuweichen, blieb aber standhaft. »Nein.« Er ließ seinen Blick schulterzuckend durch den Raum schweifen. Ich beobachtete ihn, und mir fiel auf, wie er schluckte und kurz die Augen zusammenkniff. »Die Hütte gehört meiner Familie – wie auch das Feld, auf dem wir notgelandet sind. Es ist nicht weit bis zu unserem Haus.«

»Was? Aber …«

Er unterbrach mich. »Nichts aber. Ist ja auch egal, hier sind wir erst mal sicher und können das Gewitter abwarten.«

»Okay.« Wie peinlich. Warum hatte er das nicht gleich gesagt? Er griff an mir vorbei, um einen Lichtschalter zu betätigen, wodurch die Hütte in schummriges, orangefarbenes Licht getaucht wurde. Keiner von uns sagte ein Wort. Die einzigen Geräusche waren die peitschenden Regentropfen auf dem Dach und ein weiteres Donnergrollen, das mich zusammenzucken ließ. Das Gewitter schien direkt über uns zu sein. Die Angst und die Kälte ließen mich frösteln. Der Winter war nicht lang vorbei. Auch wenn die Sonnenstrahlen am Tag ihr Bestes gaben, wurde es abends bitterkalt.

»Zieh dich aus«, forderte er mich auf.

»Ich soll bitte was?« Perplex glotzte ich ihn an, schlang die Arme enger um meinen Oberkörper, um mich zu schützen.

»Sorry«, er kratzte sich peinlich berührt am Hinterkopf. »Das klang jetzt irgendwie falsch.«

Ich legte den Kopf schief. »Irgendwie schon, ja.«

Ein Grinsen schlich sich auf sein Gesicht, und er hob eine Augenbraue an. »Hätte ja klappen können«, scherzte er und kassierte dafür einen Hieb von mir gegen seinen Oberarm.

»Du spinnst wohl«, lachte ich und zitterte mittlerweile am ganzen Körper. Meine Kleidung war vom Regen durchweicht. Mit vor Kälte und Schock eiskalten Fingern zog ich das Handy aus meinem kleinen gelben Rucksack, das zwar feucht, aber noch funktionstüchtig war. Was für ein Glück im Unglück! Ich sah, dass Mom mir ein Foto gesendet hatte, wischte die Benachrichtigung aber beiseite, um es mir später anzusehen.

»Nein, ich meine es ernst. Ich suche uns trockene Kleidung, dann können wir aus den nassen Klamotten steigen. Sonst holen wir uns womöglich den Tod.« Täuschte ich mich, oder zuckte er bei seinen eigenen Worten zusammen?

»In Ordnung. Mach schnell«, bat ich bibbernd und tat so, als fiele mir seine Zerstreutheit nicht auf. Er drehte auf dem Absatz um, durchquerte zielstrebig den Raum und verschwand in einem schmalen Flur. Ich zog die Boots aus und stellte sie an die Tür, gleich zu Sams Sneakers. Wann hatte er die denn ausgezogen? Stand ich dermaßen neben mir, dass ich nichts mehr mitbekam? Meine fliederfarbenen Socken mit Blumenmotiv zog ich ebenfalls aus und legte sie auf einen Heizkörper, obwohl er eiskalt war. Ich tippelte auf Zehenspitzen hinüber zu einer schlichten Küchenzeile, die aus zwei eierschalenfarbenen Hängeschränken, einem alten, petrolfarbenen Herd sowie einem rustikalen Holztisch mit vier Stühlen bestand. Ich öffnete sachte die quietschende Tür des Schranks und entdeckte, was ich erhofft hatte zu finden. Einen gusseisernen Teekessel, der unheimlich schwer und garantiert älter als ich war. Daneben stand eine Packung Früchtetee. Tipptopp! Ich drehte und wendete den Karton und rümpfte die Nase, als ich das Verfallsdatum entdeckte. Dieser Tee war abgelaufen, als ich noch zur Schule gegangen war. Skeptisch öffnete ich die Packung und schnupperte zögerlich daran. Ich roch deutlich die Hagebutte heraus und auch irgendetwas Blumiges. War es Apfelblüte? »Oh Mann«, seufzte ich im Flüsterton. »Ich benehme mich schon wie auf Arbeit.« Hoffentlich hatte die Hütte einen funktionierenden Wasseranschluss. Ich betätigte probehalber den Wasserhahn und erinnerte mich nicht, wann ich mich zuletzt über fließendes Wasser gefreut hatte, befüllte den Kessel und beäugte kritisch den Herd. Es war nicht das erste Mal, dass ich mit einem Gasherd zu tun hatte, doch würde ich ohne Streichhölzer nicht weit kommen. Zögernd öffnete ich die einzige Schublade. Sie hakte, sodass ich mehr Kraft aufwenden musste. Besteck, Flaschenöffner, Grillzange und: Zündhölzer. »Yes«, triumphierte ich. Wenige Sekunden später heizte der Herd den Teekessel auf, und ich hing je einen Teebeutel in eine Emailletasse, die an Haken an der Wand gehangen hatten. Aus einer rieselte eine tote Motte heraus. Egal, in der Not fraß der Teufel bekanntermaßen Fliegen. Ein wenig mulmig war mir nach wie vor zumute, da ich mich in einer fremden Küche bewegte.

»Hier«, Sams Stimme schreckte mich auf. Garantiert hatte er sich absichtlich angeschlichen. Er trug eine hellgraue Jogginghose, einen dunkelblauen Kapuzenpullover, dicke Wollsocken und hielt mir einen Stapel Kleidung entgegen. Er hatte versucht, seine dunkelblonden Haare trocken zu reiben, sodass sie jetzt in alle Himmelsrichtungen abstanden. »Geh einfach dort durch die Tür.« Er deutete mit dem Daumen hinter sich. »Da ist das Schlafzimmer, wo du dich umziehen kannst. Deine nassen Klamotten hängst du im Bad einfach zu meinen, eventuell trocknen sie.«

»Danke.« Ich schluckte, denn bei seinem Anblick versagte mir die Stimme. Er sah kuschelig aus, und irgendwas in mir wünschte sich, mich sofort in seine Arme zu schmiegen. Ehe er mir meine Gedanken noch vom Gesicht ablas, nahm ich die Kleidung entgegen und verschwand durch die enge Holztür. Das Schlafzimmer war ein überschaubarer Raum, in dem ein schmales Doppelbett und ein Kleiderschrank untergebracht waren. Superminimalistisch! Aber was benötigte man hier draußen schon? Außer Gesellschaft, Kaminholz und Streichhölzer vielleicht. Ich legte den Stapel zusammengefalteter Kleidung auf dem Bett ab und ließ meinen Rucksack folgen. Ich zog zuerst die Jacke aus und ließ sie klatschend auf den Boden fallen. Meine Jeans, die durch den Regen knalleng geworden war und anfangs keinen Zentimeter von meinen Oberschenkeln weichen wollte, folgte ihr. Gleich darauf auch der Pullover und mein Top. Eine hartnäckige Gänsehaut bedeckte meinen Körper, da mir die Kälte in die Knochen fuhr. Ich stand in Unterwäsche bekleidet da und fasste mir an die Brüste, um zu checken, ob mein BH durchnässt war. War er. Der Slip ebenfalls. »War ja klar«, brummte ich. Mir würde nichts anderes übrig bleiben, als mich aller Kleidungsstücke zu entledigen, wenn ich nicht riskieren wollte, mich zu erkälten. Warum nur hatte ich dieses Faible für bedruckte Unterwäsche? Wenn Sam meinen Slip, in dessen Mitte zwei Eichhörnchen knutschten, sah, würde ich ihm nie wieder unter die Augen treten können. Ich begutachtete den Stapel frischer Kleidung und fischte ein langarmiges Männershirt hervor, das ich mir schleunigst überzog. Die Ärmel reichten mir bis über die Hände, und es bedeckte meinen Hintern. Ich steckte es locker in den Bund der Jogginghose, die mir zu groß war. Ich krempelte die Beine mehrmals um, zog die riesigen Wollsocken darüber, schlüpfte in einen Pullover, dessen Ärmel zu lang waren, und begutachtete mich im Spiegel, der in den Kleiderschrank eingelassen war. Da es mich immer noch fröstelte, sah man, dass ich keinen BH trug. Wie kleine Perlen zeichneten sich meine Nippel unter dem dicken Pulloverstoff ab. Einsame Spitze. Es war so kalt, dass ich meinen eigenen Atem kondensieren sah. Ich rieb mir seufzend über die Oberarme, in der vergeblichen Hoffnung, mich zu wärmen. Das Bad grenzte direkt an das Schlafzimmer und war ebenso spärlich eingerichtet wie der Rest der Blockhütte. Was folgerichtig am nicht vorhandenen Platz lag. Duschkopf, Toilette, Waschbecken und ein ausklappbarer Wand-Trockner in der Dusche, auf dem Sams Kleidung hing. Seine Jeans, sein Shirt und … ich schluckte: seine Boxershorts. Nicht schwarz, sondern blau. Er. Hatte. Nichts. Drunter. Nicht, dass dieser Umstand irgendetwas änderte, doch das Wissen vernebelte meinen Verstand. Instinktiv stellte ich ihn mir nackt vor, und bei dem Gedanken schoss mir die Hitze zu Kopf. Rasch hängte ich die Kleidung neben seine, band mir die nassen Haare zu einem hohen Pferdeschwanz und atmete durch, bevor ich in den Wohnraum stapfte. Das Feuer im Kamin zog meine Aufmerksamkeit auf sich, als ich den Raum betrat.

Sam, der mit einem Schürhaken darin herumstach, bemerkte mich und schenkte mir ein Lächeln. »Ich dachte schon, du bist eingeschlafen«, neckte er mich augenzwinkernd.

»Quatsch«, nuschelte ich nervös und verschränkte erneut die Arme vor der Brust. Nicht aus Selbstschutz, sondern weil ich mir ohne BH so vorkam, als würde ich gar nichts tragen. Ich entdeckte die zwei dampfenden Tassen Tee auf einem hölzernen Beistelltisch beim Sofa, das vor dem Kamin stand. Mist. Woher sollte ich jetzt wissen, welche der Tassen die mit der toten Motte war?

»Ich hole Kissen und eine Decke, mach es dir gemütlich.« Er zeigte auf das Sofa, und sein Blick folgte mir, als ich langsam auf ihn zuging. Warum starrte er mich so an?

»Alles okay?« Verunsichert durch seinen intensiven Blick, biss ich mir auf die Unterlippe.

Er schluckte und nickte. »J-ja, klar. Alles cool.« Alles cool? Hatte er das gerade wirklich gesagt? Ich verkniff mir ein Grinsen. Irgendetwas musste ihn aus der Fassung gebracht haben. Und irgendwie gefiel mir das. Wenig später kam er mit zwei großen Kissen und einer Decke zurück. »Hier, fang«, rief er und warf eines der Kissen in hohem Bogen zu mir. Reflexartig riss ich die Arme in die Höhe, um es aufzufangen. »Wusste ich es doch.« Verschmitzt lächelte er und hob eine Augenbraue an.

Verdutzt beäugte ich erst ihn, dann misstrauisch das Kissen in meinem Schoß. »Was wusstest du?«

»Dass du nichts drunter trägst.« Er kam auf mich zu und zuckte mit den Schultern, als er sich lässig neben mir fallen ließ. Das Grübchen auf seiner Wange zeigte sich wieder, und mir fiel die Kinnlade herunter.

»Ist das dein Ernst du … Spanner?« Empört hielt ich das Kissen vor den Oberkörper und blitzte ihn finster an.

Er lachte. »Echt jetzt? Spanner? Eine bessere Beleidigung fällt dir nicht ein?«

Mein Mund klappte auf und zu, wieder auf und wieder zu. Dieser Knallkopf schaffte es, mir meine Schlagfertigkeit zu rauben. Das würde er früher oder später büßen. Er breitete die Decke über uns aus, und mit einem Mal wurde mir die Nähe zu ihm richtig bewusst. Ich verkrampfte, wünschte mich meilenweit weg und gleichzeitig näher an ihn heran. Ich war ein inkonsequentes, gefühlsbestimmtes Wrack. Aber zu meiner Verteidigung: Der heutige Tag passte absolut nicht in meine Routine. Und die liebte ich. Wirklich! Ich liebte es, jeden Tag gleich zu beginnen: mit einer Tasse Kaffee und einem Roman im Lesesessel, mit Blick auf den Baum vorm Wohnzimmerfenster. Mir gefiel es, denselben Weg zur Arbeit zu nehmen. Wenn man genau hinsah, erkannte man sogar im Identischen Unterschiede, die den Leuten verborgen blieben, die nicht achtsam waren und ihr Umfeld nur grob wahrnahmen. Meine Routine gab mir Sicherheit und Rückhalt. Sie schützte mich, und keiner verstand besser als ich, dass aus ihr auszubrechen fatale Folgen haben konnte. Egal wie schlimm ein Tag war, abends in meinem Bett zu liegen, der Duft meiner Wäsche und die Luft, die durch die Fenster wehte, beruhigten mich. Nein, das heute passte nicht zu mir. Die Stoffe an meinem Körper fühlten sich fremd an, kratzig und dufteten nach altem Holzschrank. Meine Füße steckten in fremden Wollsocken, und es roch nach Feuer. Nach Kohle, Holz, Flammen und Eisen. Ich behauptete nicht, dass mir das alles missfiel, doch es verunsicherte mich und zeigte mir einmal mehr, welchen Wert ich darauf legte, die Kontrolle zu behalten. Keine Ahnung, wie viel Zeit verging, in der wir einfach nebeneinandersaßen und stumm an unseren Tees nippten. Ich versuchte wirklich, nicht an die Motte zu denken, doch bildete ich mir ein, zerbröselte Mottenflügel zu schmecken. Garantiert hatte ich die Tote-Motten-Tasse abbekommen. Die Stille um uns herum, die in unregelmäßigen Abständen von Ästen, die gegen die Fenster oder auf das Dach peitschten, unterbrochen wurde, wurde immer angespannter. Je länger ich neben Sam saß, desto mulmiger wurde mir. Warum sagte er nichts mehr? Warum wurde ich den Gedanken nicht los, dass hinter Sams forscher, frecher Fassade die pure Traurigkeit schlummerte? Zu gern würde ich in seine Gedankenwelt eintauchen, um zu begreifen, warum er in einem Moment lachte und sich im nächsten zurückzog. Lag es an dieser Hütte? Mir war sein Zögern nicht entgangen, als er die Tür geöffnet hatte.

»Du, Sam?« Ich räusperte mich und stellte die Emailletasse vor mir auf dem Tisch ab. Er antwortete nicht, sondern schenkte mir ein müdes Lächeln. Garantiert war er wieder in Gedanken vertieft gewesen. »Bist du immer so still?«

Lachend stellte er seine Tasse neben meiner ab. Kurz überlegte ich, ihn abzulenken, damit ich sie mit meiner tauschen und von seinem Tee probieren konnte. Meiner schmeckte nämlich wirklich nach Motte. »Nein. Bist du immer so still?« Er drehte den Spieß um, ich fühlte mich ertappt.

Ich knabberte auf der Unterlippe herum und entschied, nicht zu flunkern. »Manchmal schon, ja«, schmunzelte ich. »Aber heute ist sowieso alles anders, als es sein sollte.«

Sam hob gähnend die Arme über seinen Kopf, um sich zu strecken, wobei sein Pullover einen Streifen Haut freilegte. Sofort riss ich den Blick los, bevor sich meine Pupillen weiteten und verrieten, was solch ein klitzekleiner Ausschnitt seiner Haut mit meinem Verstand anrichtete. War es plötzlich heiß hier drin? »Da hast du absolut recht, Leena«, seufzte er und knautschte sich ein Kissen zurecht, positionierte es an seiner Lehne und wandte sich mir zu. »Also, du wolltest mir vorhin Fragen stellen, oder?« Grinsend beugte er den Kopf zur Seite.

»Wollte ich das?«

»Ich sag mal so. Wir werden die nächsten, schätzungsweise, acht Stunden allein in dieser Hütte verbringen. Es schadet bestimmt nicht, wenn wir uns kennenlernen. Was meinst du?«

Lachend griff ich ebenfalls nach einem Kissen, schüttelte es auf und kuschelte mich hinein. »Könnte was dran sein. Aber du bist jetzt dran.« Ich zwinkerte ihm zu. Ich war froh über den halben Meter Abstand zwischen uns. Es fiel mir so schon schwer, geradeaus zu denken. Kaum auszumalen, wie durcheinander ich wäre, wenn wir uns berühren würden.

»Was ist dein Lieblingsgetränk?«

Ich prustete los und hielt mir beim Lachen die Hand vor den Mund. »Echt? Das ist, was dich brennend interessiert?«

Er zuckte mir den Schultern. »Ich fange einfach an.«

»Kaffee. Ich liebe Kaffee in allen Variationen.«

»Siehst du? Und schon hast du einen Pluspunkt gesammelt.« Sein breites Grinsen erreichte seine Augen, die im schummrigen Licht leuchteten.

»Da hab ich ja Glück gehabt.« In gespielter Erleichterung wischte ich mir den Schweiß von der Stirn.

»Du bist wieder dran«, erinnerte er mich.

»Hat es einen Grund, dass du immer Schwarz trägst?«

Sam kniff die Augen zusammen und blinzelte belustigt. »Hast du etwa damals Tagebuch über meine Outfits geführt?«

Ertappt schluckte ich und versuchte krampfhaft, mir eine Ausrede einfallen zu lassen. »Ich bin einfach aufmerksam?«

Amüsiert legte er den Kopf schief. »Ach ja?«

»Ja!« Ich nickte übertrieben.

»Es gibt eigentlich keinen bestimmten Grund.« Er sah an sich herab, zupfte schulterzuckend am Bund des hellgrauen Pullovers. »Ich glaub, es steht mir einfach. Verrate mir, woher du es wusstest.«

Ich hob eine Augenbraue an und setzte einen überlegenen Blick auf. Zumindest hoffte ich, dass mein Pokerface funktionierte. »Na, hör mal, wir haben zwei Jahre lang gemeinsam im Anne’s gearbeitet.«

Sam streckte sein Bein aus, um mir mit dem Fuß gegen das Knie zu tippen. »Als ob ich das vergessen hätte.«

»Bis du eines Tages nicht zu deiner Schicht erschienen bist. Und dann nie wieder.« Ich schnippte gegen sein Schienbein, damit er das Bein wieder einzog.

»Was würdest du sagen, wenn ich dir verrate, dass ich zu schüchtern war, um mich zu verabschieden?« Seine raue Stimme kletterte eine Oktave tiefer und drang mir bis ins Mark.

»Das kann ich mir nicht vorstellen, Sam. Du warst vielleicht etwas mürrisch, aber doch nicht schüchtern«, wisperte ich und wackelte angespannt hin und her.

»Diesen Eindruck hattest du von mir?« Er schluckte. »Glaub mir, ich hätte dich gern näher kennengelernt, aber damals stand ich mir bei vielen Dingen selbst im Weg.« Die Intimität, die sich plötzlich zwischen uns anbahnte, setzte meiner Feinfühligkeit einen Riegel vor.

»Blöd gelaufen«, nickte ich schulterzuckend und hoffte, er nahm mir die Teilnahmslosigkeit nicht ab.

»Blöd war wohl nur ich«, gab er zu. »Ich mochte dich echt gern und hab gern mit dir zusammen bei Anne gearbeitet.«

Verblüfft starrte ich ihn an. »Okay? Ich hatte eher den Eindruck, du duldest mich nur.« Nervös grinsend legte ich den Kopf schief. »Seitdem ist eine Menge Zeit vergangen.«

Lachend fuhr er sich über den Nacken. »Da hast du recht. Manchmal kommen mir die letzten Jahre vor wie ein ganzes Leben, in dem ich versucht hatte, Saint Mellows aus meinem Gedächtnis zu streichen.«

»Hatte es denn geklappt?«

Sam warf die Stirn in Falten. »Vieles schon, ja. Aber das Besondere an dieser Stadt ist, dass man nach nur fünfzehn Minuten im Stadtkern all seine Erinnerungen auf dem Silbertablett serviert bekommt.« Er suchte lachend meinen Blick.

»Die Uhren ticken hier eben langsamer, ich mag das.« Ich blinzelte ihn an und lächelte mitfühlend. Er wendete seinen intensiven Blick nicht ab, wodurch mir die Hitze in die Wangen schoss. Nervös hob ich die Hand zu meinem Nasenring, drehte ihn, weil die Situation mich überforderte.

Er legte den Kopf schief und tippte sich an die Nase. »Den hattest du damals schon. Und die hellblonden Haare auch.«

Betreten nahm ich die Hand vom Piercing, umfasste stattdessen meinen kurzen Zopf. »Die sind von Natur aus so«, nuschelte ich, wandte mich von ihm ab und starrte meine Mottentasse an. Irgendwie überforderte mich das Wissen, dass ich für ihn damals nicht unsichtbar gewesen war. So wie für viele andere doch auch. Selbst das Nasenpiercing, das ich mir mit 14 heimlich in der nächsten Stadt in einem seltsamen Schuppen hatte stechen lassen, hatte daran nichts geändert. Nach einer Weile bemerkte ich aus dem Augenwinkel, wie er mir immer wieder einen behutsamen Blick zuwarf, traute mich aber nicht, diesen zu erwidern. Diese Situation gewann rasant an Intimität, und das verwirrte mich.

Endlich räusperte er sich. »Du, Leena?« Seine Stimme war ruhig, und ich schaffte es nicht, seinen Tonfall zu deuten. Was ich aber sagen konnte, war, dass von seiner angeblichen früheren Schüchternheit nichts mehr übrig war. Auch fiel mir auf, dass er die Stille mit dem gleichen Wortlaut unterbrach wie ich vorhin.

»Ja?« Ich schenkte ihm einen verwunderten Blick.

»Du bist hübsch. Warst es schon damals.« Er lächelte verhalten und sah mich mutig an, wandte sich nicht ab.

Die Luft blieb auf dem Weg in meine Lunge stecken, und in meinem gesamten Körper kribbelte es erneut. Die Fußsohlen eingenommen. Er sagte das so einfach freiheraus. Als wäre es kinderleicht, Derartiges über die Lippen zu bringen. Ich räusperte mich lächelnd, doch schloss ich sofort wieder den Mund. »Danke.« Wie reagierte man in so einem Moment auf ein Kompliment? Mich zu bedanken, schien mir das Vernünftigste.

»Weißt du, was ich mich schon damals immer gefragt habe?«

Neugierig zog ich die Nase kraus, unsicher, ob ich die Frage wirklich hören wollte. »Was denn?«

»Warum du so darauf achtest, mit geschlossenem Mund zu lächeln?« Er lehnte sich zu mir vor, berührte mein Kinn mit seinen Fingern, hob es sanft an und entfernte seine Hand ruckartig, als ich zurückwich. Die Hautstelle stand in Flammen, und meine Eingeweide zogen sich schmerzhaft zusammen. Sam hatte, wie schon im Heißluftballon, absolut keine Berührungsängste, und doch war mir bewusst, dass er damit sofort aufhörte, wenn ich ihn bat. Es war, als testete er mich Stück für Stück. Ich konnte mir nicht mal selbst erklären, warum ich gezuckt hatte. Vielleicht, weil es keine Anzeichen gab. Sam handelte überraschend. Er sagte Dinge ohne Vorbereitung und traf damit genau ins Schwarze. Ich musste mit dem Umstand fertigwerden, dass er, Sam, wieder hier war, denn seit Jahren hatte ich keinen Gedanken mehr an ihn verschwendet. Und deswegen verwirrte es mich, wie einfach ich mich in seinem Lächeln verlieren konnte, als wäre er nie weg gewesen und als hätten wir tatsächlich eine gemeinsame Vergangenheit, die aus mehr bestand, als aus Kaffee kochen.

Ich schüttelte flüchtig den Kopf und starrte in meinen Motten-Tee. »Ich mag es halt nicht«, gab ich zu und stellte die Tasse, ein wenig zu energisch, auf den Tisch zurück.

»Was? Dein Lächeln?« Statt zu antworten, zuckte ich mit den Achseln. »Es ist das Schönste an dir«, erklärte er in fester Überzeugung.

Ich versuchte erfolglos, das mulmige Gefühl zu ignorieren. »Ich dachte, das Romantik-Paket wurde nicht mitgebucht?« Ich scherzte aus Nervosität und spürte, wie er sich neben mir versteifte und einen Millimeter von mir abrückte, der allerdings ausreichte, dass ich mich fühlte wie ein Depp. Ich wünschte mir wie so oft, dass ich meine Worte zurücknehmen konnte. Doch wie vieles im Leben, war es mit gesprochenen Worten nun mal das Gleiche: Sie waren nicht rückgängig zu machen. Wir starrten in das Feuer, und nach einigen Minuten nahm ich all meinen Mut zusammen. »Du, Sam?« Meine Stimme war nicht so fest, wie ich wünschte.

»Jep?« Er klang gleichgültig, aber er konnte mich nicht täuschen. Die Art, wie er am Saum seines Pullovers herumnestelte, verriet seine Unsicherheit.

»Es tut mir echt leid. Ich … kann das nicht.«

Aus dem Augenwinkel nahm ich wahr, wie er den Kopf in meine Richtung drehte. »Was kannst du nicht?«

»Na, das hier.« Frustriert hob ich den Blick an und zeigte mit den Händen um mich herum und abwechselnd auf uns beide.

»Was meinst du denn?« Sam wandte seinen Oberkörper weiter zu mir und zog ein Bein nach oben, sodass der Fuß sein Knie berührte. Wie sollte ich ihm erklären, dass ich sofort abblockte, sobald mir jemand näherkam, wenn ich selbst nicht wusste, warum? Egal ob ich die Person mochte oder sogar mehr als das. Es fiel mir schwer, mich auf Menschen einzulassen, und ich hielt es direkt für eine Falle, wenn man mir ein Kompliment machte. Irgendetwas tief in mir warnte mich. Vor Sam, davor, mich fliegen zu lassen und davor, eventuell verletzt zu werden. Ich ging auf Nummer sicher, ohne Ausnahme. In den unpassendsten Situationen erzählte ich Witze, lachte aus unerfindlichen Gründen oder wechselte das Thema. Ich redete mir ein, dadurch nicht nur mich, sondern ebenso mein Gegenüber zu schützen. Vor peinlichen Momenten, vor unbedachten Worten oder vor Berührungen, für die man nicht bereit war. Aber heute belog ich mich selbst. Das hier war Sam. Der unerreichbare Sam, dessen Name meine früheren Tagebücher füllte. Keine Ahnung, was mir solche Angst bereitete. Selbst wenn diese Nacht etwas Einmaliges blieb, würde die Welt nicht untergehen. Weder meine noch seine. Das Herz pochte mir bis zum Hals, und ich entschied, nur dieses eine Mal alles auf mich zukommen zu lassen.

»Eben das. Wir beide gerade hier und …«, weiter kam ich nicht. Als ich nach Worten suchen wollte, spürte ich seine Hand in meinem Nacken. Es war blitzschnell gegangen, dass er sich zu mir herüberbeugte. Mir blieb keine Zeit zum Reagieren. Er zog meinen Kopf sanft zu sich heran, und als sich unsere Blicke trafen, explodierte etwas in mir. Langsam strich sein Daumen meinen Nacken auf und ab und bescherte mir eine Gänsehaut. Ich war nicht fähig, ein weiteres Wort zu sprechen. Sam wartete ab, ob ich ihn abwies, aber das hatte ich nicht vor. Sam verzauberte mich, ich wollte diese Nähe. Das erste Mal in meinem Leben genoss ich das Unbekannte in vollsten Zügen, wägte nicht das Pro und Kontra ab und vertraute auf mein Gefühl. Ich vertraute auf meinen Instinkt, verließ meine Routine. Ich brach aus. Als kein Einwand von mir kam, drückte er meinen Kopf sanft in seine Richtung, und mein Blick heftete sich auf das Grübchen an seiner linken Wange. Einen Augenblick später hauchte er mir einen einzelnen, zarten Kuss auf die Lippen. Er dauerte kaum eine Sekunde, doch war der Kuss intensiver als alle, die ich bisher bekommen hatte. Ich hatte nicht bemerkt, wie ich für den Moment die Augen geschlossen hatte, und fuhr mit der Zunge langsam über meine Lippen. War das wirklich geschehen? Mein 16-jähriges Ich fiel in Ohnmacht. Ich verlor mich in seinem abwartenden Blick und gewann an Zuversicht. Mutig beugte ich mich zu ihm und legte meine Lippen sanft auf seine. Sam strich mir mit seinen Fingern über die Wange, und ich löste meine Hände, die als Knäuel in meinem Schoß lagen. Ich griff in seinen Nacken, um ihn näher an mich zu ziehen. Woher kam dieser Mut in mir? Sofort presste er seine Lippen auf meine, und der unschuldige Kuss wandelte sich zu etwas Tiefem, Innigem, Vertrautem. Sein Duft nach Regen und Holz betörte mich, ich sog ihn tief ein und begrüßte den angenehmen Schwindel, der mich überkam. Unsere Zungen trafen sich, und ich zitterte vor Aufregung und Glück. Die Muskeln in meinem Kiefer pulsierten, und aus meiner Mitte breitete sich eine Wärme aus, die in sämtliche Nervenenden floss.

»Ich finde schon, dass du das kannst«, flüsterte er lächelnd an meinem Mund und drückte mir einen vorsichtigen Kuss auf die Stirn, ehe er mich in seine Arme zog. »Und wenn du jetzt fragst, ob ich das bei allen Frauen so mache, setze ich dich eigenhändig auf die Veranda in den Regen.« Ich entschied, gar nichts zu sagen, und lächelte einfach nur. Um nichts in der Welt wollte ich diesen perfekten Moment vernichten. Ich hatte keine Ahnung, was nach dem Gewitter sein würde. Wusste nicht, was in dieser Nacht noch geschehen würde. Doch ich fühlte, dass dieser eine Kuss von Sam wie ein Versprechen war, um das ich niemals gebeten hatte.

Sam

Selbst wenn ich könnte, würde ich meine Augen für keine Sekunde schließen. Das Gewitter wurde mittlerweile von regelmäßigen Regentropfen abgelöst, die beruhigend gegen die Fenster trommelten. Ebenso hatte sich der Sturm gelegt und fegte nicht mehr in ohrenbetäubender Lautstärke um die Hütte. Ich lag auf dem Sofa, in meinen Armen Leena, die mir innerhalb nur weniger Stunden vertraut geworden war. Die Mauern, die ich normalerweise hochzog, sobald mich jemand auch nur interessiert musterte, ruhten. Es war ihre Abneigung gewesen, in den Heißluftballon zu steigen. Die Art, wie sie versucht hatte, ihre Angst vor der Höhe und dem Kontrollverlust zu verstecken. Und der Umstand, dass ihr das keineswegs gelungen war. Natürlich erinnerte ich mich an Leena, auch wenn sie zu den Menschen und Dingen gehörte, die ich mit meiner Abreise aus meinen Gedanken vertrieben hatte. Sie heute zu sehen, erwachsen geworden, aber noch mit dem gleichen Blitzen in den Augen, hatte die Zeit um Jahre zurückgedreht. Und wieder einmal stellte ich mir Was-wäre-wenn-Fragen. Was wäre gewesen, wenn ich Leena damals nur einen winzigen Teil von mir offenbart hätte? Wären wir Freunde gewesen? Vielleicht sogar mehr? Ich wusste, dass all diese Gedanken mich nicht weiterbrachten. Wenn ich mich nicht täuschte, hatte sie einmal für ein Projekt mit meinem kleinen Cousin Jack zusammenarbeiten müssen. Ich lachte leise und biss mir auf die Lippen, damit ich sie nicht weckte. Vermutlich war sie damals genauso verzweifelt gewesen wie mein Onkel, denn Jack war ein absoluter Träumer. Das hatte sich bis heute nicht geändert, doch er hatte es wenigstens geschafft, sich von den Erwartungen seiner Eltern freizukämpfen. Ich sah hinunter auf Leena und fuhr mit dem Blick jede Kontur ihres Gesichts nach. Schon seltsam, wie wenig es brauchte, dass aus einem hübschen Teenagergesicht dieselbe, aber erwachsene Frau wurde. Sie war mittlerweile vor Erschöpfung eingeschlafen, auch wenn sie gekämpft hatte, wach zu bleiben. Mich fröstelte bei dem Gedanken, dass wir beide vor wenigen Stunden in den Tod hätten stürzen können. Garantiert würde sie niemals wieder einen Heißluftballon betreten, was ich ihr nicht einmal verübeln konnte. Mein Herz zog sich krampfhaft zusammen, und ich versuchte, die Bilder vor meinem geistigen Auge zu verscheuchen. Das heute war anders gewesen als damals. Es war eine andere Situation, hatte einen anderen Ursprung und war gut ausgegangen. Würde das zur Normalität für mich werden, solang ich zurück in Saint Mellows war? War das von nun an mein Alltag? Dass ich durch jedes Straßenschild, durch jedes Gesicht und jedes Geräusch, das ich hörte, an damals erinnert wurde? Selbst die schönen Erinnerungen mündeten in den Moment, der alles zerstört hatte.

Leena seufzte im Schlaf und bewegte ihre Lippen, die ein wenig offen standen. Es kostete mich enorme Anstrengung, den Blick von ihr abzuwenden. Ihr Haar löste sich aus ihrem Zopf, fiel ihr fransig in das Gesicht, und ich widerstand der Versuchung, es aus ihrer Stirn zu streichen. Ich erkannte mich selbst nicht wieder. Seit wann nahm ich so rasant Fahrt auf? Nicht nur, dass ich ihre Hand ergriff, als wären wir seit Jahren beste Freunde. Was hatte mich dazu bewogen, sie zu küssen? Die Erinnerungen an sie? Das Verlangen in mir, mich das zu trauen, wofür ich als Teenager zu feige gewesen war? Ich dehnte meinen Hals, indem ich den Kopf von einer Seite auf die andere zog, und ächzte unmerklich. »Mist.« Fluchend versuchte ich, mich aufzusetzen, ohne Leena zu wecken. Das Feuer im Kamin brauchte ein neues Holzscheit, wenn ich es nicht ausgehen lassen wollte. Behutsam hob ich ihren Kopf von meinem Schoß, pellte mich vom Sofa und bettete ihren Kopf auf das Kissen, das mir im Rücken lag. Darauf bedacht, keinen Mucks von mir zu geben, schlich ich zum Kamin und positionierte das Holzscheit darin, das knisternd von den Flammen begrüßt wurde. Ich stand auf und sah mich tief ein- und ausatmend in der Hütte um. Das schummrige Licht warf Schatten an Wände und Decke, die tänzelnd eine Geschichte erzählten. Ich bemerkte die Kälte, als eine feine Gänsehaut meine Arme bedeckte. Kurz wägte ich ab, mich wieder zu Leena zu setzen, doch mein schmerzender Rücken verbat es mir. So gern ich mich an ihren warmen Körper schmiegen wollte, wenn ich morgen aufrecht stehen können wollte, musste ich mir etwas anderes einfallen lassen. Auf Zehenspitzen schlich ich zum Tisch, um mein Handy zu greifen, und tippelte langsam in Richtung der Küche, nachdem ich mir mit der Taschenlampenfunktion den Weg geleuchtet hatte. Zu gern hätte ich die entgangenen Anrufe und die Nachricht ignoriert, die mir auf dem Display entgegensprangen.

Mom: Ist alles okay? Weder dein Auto noch der Ballon sind zurück, bitte melde dich bei Dad oder mir.

Mom: Sam, bitte melde dich kurz, damit wir wissen, dass alles okay ist.

Seufzend tippte ich auf antworten, woraufhin die virtuelle Tastatur aufploppte.

Ich: Hey Mom, alles okay, bringe den Heißluftballon morgen zurück, keiner verletzt.

Mürrisch hielt ich das Handy in die Höhe, damit die Nachricht endlich gesendet wurde, der Empfang war hier draußen nämlich nicht der beste. Mir war nicht danach, ihr ausführlicher zu erklären, was vorgefallen war. Fürs Erste musste diese Nachricht ausreichen. Garantiert durfte ich mir morgen einen Vortrag über die Notlandung anhören, da man das Gewitter vielleicht früher hätte kommen sehen können. Ach, keine Ahnung. Ich zuckte mit den Schultern. Damit musste ich mich nicht schon jetzt befassen. Wo war nochmal diese blöde Heizung? Umsichtig öffnete ich die Schranktüren und lugte unter den Tisch. Nichts. Ich erinnerte mich, dass irgendwo in der Hütte eine elektrische, tragbare Heizung versteckt war. Als ich umkehren wollte, entdeckte ich sie unter dem Fenster.

Ich schaltete das Handy aus, verstaute es in der Tasche meiner Jogginghose und hob ächzend den Heizkörper an. »Um Himmels willen«, stöhnte ich. Entweder war diese Heizung in meiner Erinnerung leichter gewesen, oder ich war schwach geworden. Mit einem Ruck hob ich sie an, presste die Lippen aufeinander und konzentrierte mich auf den Weg vor mir, um nirgends gegenzustoßen. Wenige Minuten später stand ich im Schlafzimmer, das sich von gefühlten minus zehn Grad aufheizte, und suchte im Schrank nach sauberer Bettwäsche.

Leena

Ein Knall, vermutlich ein Ast, der auf das Dach fiel, ließ mich hochschrecken. Ich tastete aus Gewohnheit blind neben mir nach meinem Handy, vergeblich, es war nicht da. Die Knochen taten mir weh, und in dem Zwielicht konnte ich kaum etwas erkennen. Sam. Heißluftballon. Gewitter. Wald. Ich brauchte eine Sekunde, um zu realisieren, wo ich mich befand. Ich war gar nicht in meinem Bett, sondern in der Hütte. Oh mein Gott! Dann war das alles also kein Traum gewesen? Ich rieb mir über die Augen. Wir mussten eingeschlafen sein, das Feuer im Kamin war mittlerweile fast erloschen. Ich drehte und wendete den Kopf auf der Suche nach Sam. Wo war er? »Sam?« Ich rief in das schummrig beleuchtete Wohnzimmer hinein. Meine Stimme war rau und leise, sodass mich eh niemand hörte. Ich lauschte. Keine Antwort. Logisch. Das einzige Geräusch, das an meine Ohren drang, waren knarrende Äste über dem Hüttendach und der prasselnde Regen. »Sam? Wo bist du?« Ich schluckte, denn mich überkam ein ungewohntes Gefühl von Angst. Die Situation überforderte mich, und das flaue Gefühl im Magen suggerierte mir, dass etwas nicht stimmte. Mein Körper und meine Seele verlangten lautstark nach Routine. Nach meinem Bett, meinem Zuhause, meiner Sicherheit. Ich setzte mich auf und fasste mir mit der Hand in den schmerzenden Nacken, der im Schlaf steif geworden war. Ich fröstelte und wünschte, in meinem eigenen Bett zu liegen, meinen eigenen Pyjama zu tragen. »Sam? Sam, das ist wirklich nicht lustig. Wo bist du?« Ich erschauderte beim Klang meiner Stimme, die dumpf von den Wänden widerhallte. Ich hörte ein Klappern. Oder war es eher ein Poltern? Etwas ging in dieser Hütte vor sich, und das Herz rutschte mir in die Hose. Durch das tosende Unwetter vor der Tür vermischten sich sämtliche Geräusche zu einem angsteinflößenden Durcheinander. Ich riss die Augen weit auf, um in diesem Zwielicht überhaupt etwas erkennen zu können. Weder am Tisch noch an der Eingangstür konnte ich eine Bewegung ausmachen, und ich bemerkte, dass ich vor Anspannung die Luft angehalten hatte. Lautlos atmete ich ein und aus. Träumte ich vielleicht? War das alles nur ein gemeiner Streich meines Unterbewusstseins, das mich zurück in die Teenagerzeit katapultierte? Das meinen größten Teenagertraum wahr werden ließ? Ich hörte es erneut, doch dieses Mal konnte ich das Geräusch besser verorten: Es kam aus dem – Schlafzimmer? Ich fegte die Decke von mir herunter und setzte erst einen, dann den zweiten Fuß auf dem Boden auf. Dieser war trotz des wärmenden Feuers im Kamin eiskalt geblieben, das merkte ich sogar durch die dicken Wollsocken. Wachsam und darauf bedacht, mich mucksmäuschenstill zu bewegen, setzte ich einen Schritt nach dem anderen und schlich auf Zehenspitzen zur Geräuschquelle, bückte mich auf dem Weg zu meinem Rucksack hinunter, der neben dem Sofa stand, um mein Handy sicherheitshalber herauszunehmen. Vielleicht würde ich gleich die 911 wählen oder das Handy als Waffe benutzen müssen, wer wusste das schon? Meine Haare, die sich im Schlaf aus dem Zopf gelöst hatten, fielen mir in die Stirn und kitzelten mich an der Nasenspitze. »Hallo?« Ich kam mir vor wie eine dieser irrationalen Hauptfiguren im Horrorfilm, die lachend und ohne mit der Wimper zu zucken, in ihr Verderben rannten. »Jetzt drehst du durch, Leena«, tadelte ich mich augenrollend. Ängstlich hangelte ich mich mit den Händen an der Wand entlang. Als ich einen letzten Schritt vom schmalen Flur entfernt war, öffnete sich eine der Türen. Vor Schreck stieß ich einen spitzen Schrei aus und taumelte zurück, wobei ich über meine eigenen Füße stolperte. Ich suchte vergeblich nach Halt und krachte mit einem polternden Knall zu Boden. Im gleichen Moment, in dem mein Hintern auf den Steinboden traf, erkannte ich Sam, und mein Herz, das mir vor Angst fast aus der Brust gesprungen war, beruhigte sich um einen Takt.

»Oh mein Gott, Leena?« Sam setzte einen Schritt auf mich zu, um den Sturz abzufangen, was ihm leider nicht gelang. »Was soll das, warum schleichst du dich an?« Seiner erstickten Stimme nach zu urteilen, hatte ich ihm einen ebenso großen Schrecken eingejagt. Gut so. Das schwache Feuer im Kamin warf bedrohliche Silhouetten an die Wände. Er ging vor mir in die Hocke, sodass sich unsere Gesichter fast auf einer Höhe befanden. Das Spiel von Licht und Schatten auf seinem Gesicht zog meinen Blick wie magisch an und betonte seinen kantigen Kiefer. Ich schüttelte kurz den Kopf, um wieder klar denken zu können.

Entrüstet funkelte ich ihn an und rieb mit der Hand über den Knöchel. »Ist das dein Ernst?«, murrte ich und wies auf meinen Fuß, um zu untermalen, wie bescheuert seine Frage war. »Ich bin allein in einem fremden Haus aufgewacht«, schnaubte ich eingeschnappt. »Entschuldige bitte, dass ich schauen wollte, wo du bist. Hätte ja auch sein können, dass dich ein Bär gefressen hat. Oder so.« Sams erschrockene Miene wandelte sich in einen amüsierten Gesichtsausdruck.

»Ein Bär also, ja?« Er hielt mir die Hand hin, um mir aufzuhelfen.

Ich grinste und zuckte mit den Schultern. »Man kann ja nie wissen, oder?« Als ich nach seiner Hand griff, durchfuhr mich ein Blitz. Warum reagierte ich so enorm auf Sams Berührungen? Bildete ich es mir ein, oder war auch er kurz zusammengezuckt?

»Du hast auf jeden Fall eine blühende Fantasie, Leena. Bären«, schmunzelte Sam. »Ist alles okay mit dir? Hast du dich verletzt?« Er begutachtete mich von oben bis unten, was mir eher vorkam, als würde er nicht meine möglichen Verletzungen, sondern mich durchchecken. Sofort wurde mir wieder das Fehlen von Unterwäsche bewusst, weshalb ich die Arme vor dem Oberkörper verschränkte, das Handy fest umkrallt. Ich sah an mir herunter, bewegte ein Bein, dann das andere und nickte ihm zu. Das dezente Puckern im Knöchel ignorierte ich dabei. Es würde schon nicht so schlimm sein.

»Ich denke, schon.«

Sam grinste. »Ein Glück. Sonst hätte ich dich den ganzen Weg bis zu unserem Haus huckepack tragen müssen.« Er knuffte mir mit der Faust gegen den Oberarm, musterte mich eindringlich und senkte seine Stimme. »Obwohl, wenn ich es mir recht überlege, hätte ich überhaupt nichts dagegen.«

Ich hob eine Augenbraue an und versuchte krampfhaft, sein Lächeln nicht zu erwidern. »Du Knalltüte!«

Sam lachte. »Nicht so frech, junge Dame. Sonst lockst du noch den gefährlichen Grizzly an.« Um sein Argument zu verstärken, hob er bedrohlich beide Arme über den Kopf.

Ich ignorierte seinen Tadel und die Spitze mit dem Bären, auch wenn seine Geste mich zum Schmunzeln brachte. »Nein, jetzt ehrlich, was hast du dort in dem Zimmer gemacht?« Ich zeigte mit dem Finger hinter ihn auf die Tür. »Ich bin von einem Knall wach geworden.«

Er folgte meinem Blick und fasste sich nervös an den Hinterkopf. »Das war die Heizung, sie ist gegen den Schrank gekippt. Ich dachte, du möchtest vielleicht nicht die ganze Nacht auf dieser ungemütlichen Couch liegen?« Er zuckte mit den Schultern und wich meinem Blick aus. War er etwa verlegen? Das war irgendwie niedlich. »Daher habe ich das Bett hergerichtet und die Heizung angestellt.« Ich fixierte ihn entgeistert, konnte seinen Worten kaum folgen. Heizung? Bett? Er starrte peinlich berührt zurück. »Für … dich.«

Hitze stieg mir in die Wangen, und ich war dankbar, dass man in dem Licht unmöglich meine Gesichtsfarbe ausmachen konnte. Die Frage, ob wir etwa beide in diesem Bett schlafen würden, stand wie ein riesengroßer Elefant mitten im Raum.

»Okay, danke.« Ich nickte in Richtung der Tür hinter ihm und kam mir dabei unbeholfen vor. »Dann … gehe ich mal … ins … Bett«, stammelte ich nervös. In was für einer absurden Situation war ich nur gelandet? Meine Prinzipien brüllten mit wehenden Fahnen Nein. Normalerweise schlief ich mit niemandem in einem Bett, den ich gerade erst kennengelernt hatte. Oder wieder neu kennengelernt hatte? Den ich seit Jahren nicht gesehen hatte? Wow, war das kompliziert. Andererseits war heute überhaupt nichts normal. Außerdem wäre ich um Haaresbreite bei einem Heißluftballonabsturz ums Leben gekommen und befand mich in einer mir fremden Holzhütte mitten in einem Wald. Ich wusste nicht einmal, welcher Wald es war, es gab einfach zu viele um und in Saint Mellows. Also: Warum sollte ich ausgerechnet jetzt versuchen, irgendwie Normalität zu wahren?

Er nickte. »Okay.« Irrte ich mich, oder war Sam geknickt? »Ich gehe dann mal wieder zurück zum Sofa«, murmelte er und wandte sich von mir ab. Ich stand da wie ein begossener Pudel und wusste nicht recht, wie ich mich verhalten sollte. Wir waren zwei erwachsene Menschen, die vom Gewitter überrascht worden waren, mit einem verdammten Heißluftballon notlanden mussten und hier gestrandet waren. In meinen Gedanken legte ich mir immer wieder die gleichen Argumente zurecht. Außerdem hatten Sam und ich uns geküsst und waren gemeinsam auf der Couch eingeschlafen, als wären wir ein frisch verliebtes Paar. Daran. War. Einfach. Nichts. Normal. Dennoch musste es von mir ausgehen, Sam ins Bett einzuladen. Auch wenn es seins war. Was für eine skurrile Situation.

»Sam?«, piepste ich und verdrehte die Augen darüber, wie zaghaft meine Stimme war. Er hob die Decke auf, hielt in der Bewegung inne und drehte sich erwartungsfreudig zu mir um. Selbst in diesem schummrigen Licht erkannte ich, wie sich das Grübchen auf seiner Wange abzeichnete.

»Ja?«

»Möchtest du vielleicht auch lieber im Bett statt auf der ungemütlichen Couch schlafen?« Ich biss mir auf die Unterlippe. Es fiel mir unheimlich schwer, seinen Blick zu erwidern, da ich mich bei dieser Frage verletzlich fühlte. Was, wenn er Nein sagte? Doch meine Angst löste sich binnen Sekunden in Luft auf, denn auf Sams Gesicht bildete sich ein selbstbewusstes, ja beinahe selbstgefälliges Grinsen.

»Puh, ich dachte echt, du würdest mich nicht fragen.« Lässig lief er zum Feuer, um die Glut zu überprüfen. Kurz darauf stand er neben mir, und als ich mich zur Schlafzimmertür umwandte, spürte ich seine Hand an meinem Handgelenk. »Leena?« Sams Stimme war nicht mehr als ein Flüstern. Ein wohliger Schauer rieselte meine Wirbelsäule herab und bescherte mir eine Ganzkörpergänsehaut. Die Stelle an meinem Arm, die er berührte, stand in Flammen.

»Ja?« Es fiel mir schwer, seinen Gesichtsausdruck in diesem Dämmerlicht richtig zu deuten, doch ich vernahm die Gefahr, mich tief im Waldgrün seiner Augen zu verlieren. Die Verbindung seines intensiven Blicks und der intimen Berührung vernebelte meine Gedanken.

»Das, was da vorhin auf dem Sofa passiert ist …« Er stoppte, und es lief mir eiskalt den Rücken hinab. Jetzt würde es passieren. Er würde erklären, dass das ein großer Fehler war. Einfach filmreif. Prima. Wie konnte ich nur so naiv sein? Ich ignorierte mein Unbehagen und nickte ihm auffordernd zu, damit er weitersprach. Bloß keine Enttäuschung anmerken lassen. »Ich weiß echt nicht, was mit mir los war«, flüsterte Sam grinsend und strich liebevoll über mein Handgelenk. »Aber es war schön.«

Perplex starrte ich erst seine Hand, dann ihn an. Hatte ich mich verhört? Er hatte es schön gefunden? Redete er über seine Gefühle? Einfach so? Mir wurde schwindelig, das Herz schlug mir bis zum Hals, und es fiel mir schwer zu atmen. »Okay«, hauchte ich und bereute sofort, keine anderen Worte gefunden zu haben. Sam strich mir weiterhin über den Handrücken, was meine Beine zu Pudding mutieren ließ. »Was machst du nur mit mir, Sam?«, flüsterte ich tonlos mit dem Anflug eines Lächelns und realisierte, dass er mir langsam näher kam. Er lächelte, und ich war mir sicher, dass er mich küssen würde. Er musste bemerkt haben, dass sich mein Körper versteifte, denn statt seinen Mund zu meinem zu führen, fühlte ich seinen warmen Atem an meinem Ohr. Seine tiefe, raue Stimme setzte sich in meinen Eingeweiden fest, und die Worte, die er zu mir sprach, würde ich mein Leben lang nicht mehr vergessen.

»Vielleicht kann aus einem Gewitter etwas Schönes entstehen.«