19. Kapitel

Leena

Mit nervösen Fingern umklammerte ich das Stück Papier, das ich wie einen geheimen Schatz vor Sam versteckt hielt. Tief durchatmend, straffte ich die Schultern und kreiste den Kopf, um mich zu beruhigen. Ich warf einen kurzen Blick zur Wohnungstür, um mich zu vergewissern, dass Sam noch nicht wieder da war, ehe ich mich in das weiche Polster meines Sofas zurückfallen ließ. Nach dem Telefonat mit Conor hatte Sam auf mich gewirkt, als könnte er plötzlich fliegen. Als wäre seine Aura leichter geworden, als hätte er Veränderung gespürt. Nein, als hätte er sich eingestanden, sein Leben selbst in die Hand nehmen zu können und sich mit seinen Dämonen der Vergangenheit zu konfrontieren. Ich entfaltete das Papier, atmete tief durch und blickte auf die Worte, die Sam draufgeschrieben hatte.

»Fehler eingestehen«, las ich flüsternd vor und realisierte, wie sich meine Mundwinkel nach oben bogen. War Sam überhaupt bewusst, dass er das längst getan hatte? Dass er nicht nur seinen Fehler eingestanden, sondern diesen direkt aus dem Weg geräumt hatte, indem er den ersten Schritt auf seinen Bruder zugesetzt hatte? Vorsichtig strich ich mit dem Daumen über das Geschriebene, fast so, als würde ich mich dadurch verbundener mit ihm fühlen. Der zweite Punkt würde für Sam schwieriger sein, zumindest glaubte ich das. Keiner ahnte, welches Päckchen er mit seinem Dad zu tragen hatte, das wussten nur die beiden selbst. Dennoch hörte ich diese leise Stimme in meinem Hinterkopf, die mich darum bat, Sam den benötigten Schubs zu geben. Auf seinen Dad zu.

»Hey, was hast du da?« Er klimperte mit meinem Ersatzschlüssel, den ich ihm für heute gegeben hatte.

Erschrocken schrie ich auf, sprang vom Sofa und versuchte vergeblich, Sams Liste galant zu verstecken. »Nichts?« Ich biss mir von innen auf die Wangen und hätte über mich selbst die Augen verdreht, wenn Sam mich nicht so angestiert hätte.

Er zog schmunzelnd eine Augenbraue hoch und wies auf meine hinter dem Rücken versteckten Hände. »Ach ja?«

Seufzend zuckte ich mit den Schultern. »Erwischt.« Ich kniff die Augen für ein paar Sekunden zusammen, ehe ich ihm das Papier hinhielt. Ich verfolgte seine Bewegungen, beobachtete, wie er langsam um die Couch herumlief, den Blick starr auf meine ausgestreckte Hand gerichtet.

»Oh«, räusperte er sich, als er erkannte, worum es sich handelte. »Das.« Ich schluckte nickend, ließ mich auf das Sofa sinken und klopfte auf die Fläche neben mir, damit er sich setzte. »Das hatte ich fast vergessen.« Er sank mit geschlossenen Augen gegen die Lehne und fuhr sich mit den Handflächen über das Gesicht.

Enttäuscht zog ich einen Flunsch. »Hast du?«

Sam drehte den Kopf zu mir und lächelte augenzwinkernd. »Nein, aber ich habe es versucht«, gab er zu und streckte einen Arm nach mir aus, um mich eng an sich zu ziehen.

»Warum?« Meine Stimme war kaum mehr als ein Hauchen.

»Weil diese Liste abzuarbeiten, mein Endgegner wird.«

Schmunzelnd stupste ich ihm gegen den Bauch. »Jetzt übertreibst du.« Er schüttelte vehement den Kopf. Zögerlich hob ich das Papier an, um es ihm hinzuhalten. »Schau es dir an«, bat ich ihn nachdrücklich. »Los, bitte.«

Sam sah abwechselnd zwischen mir und dem gefalteten Blatt hin und her, ehe er stöhnte, mir einen Kuss auf die Schläfe drückte, sich aufrecht hinsetzte, um widerwillig nach seiner Liste zu greifen. »Du machst mich fertig, Leena Pierson.«

»Und das mit Freude«, schmunzelte ich und kuschelte mich tiefer an seine Brust. »Komm schon«, feuerte ich ihn an und tippte auf seinen Handrücken, damit er das Blatt entfaltete.

»Tyrannin«, kommentierte er meine Hartnäckigkeit, tat aber wie geheißen und öffnete die Liste. »Ich würde ja gern leugnen, dass ich das geschrieben habe«, brummelte er.

»Warum wünschst du dir, dass sie nicht von dir ist, Sam?« Was war los mit mir? Warum setzte ich Sam heute dermaßen die Pistole auf die Brust? Ich würde mindestens einen inneren Tobsuchtsanfall erleiden, täte er das mit mir.

»Weil da nichts von Eis essen gehen draufsteht?« Er hüstelte verhalten, wollte die Stimmung lockern, doch ich entschied, ihn nicht aus meinem Klammergriff zu entlassen.

»An den ersten Punkt kannst du schon einen Haken setzen«, erklärte ich ihm und strich mit der Hand über seinen Bauch, der sich durch das T-Shirt wohlig warm anfühlte. Er gab ein Schnauben von sich, starrte die Worte an, und ich sah seine Kieferknochen hervortreten. »Du bist es doch gewesen, der den ersten Schritt nach einem Streit gemacht hat«, zählte ich auf. »Dazu gehörte, dass du deinen Fehler erkennst und ihn eingestehst. Du warst es, der Conor angerufen und um Verzeihung gebeten hat.« Ich schluckte, da mir die Stimme versagte. »Das warst ganz allein du, Sam. Nur du.«

Stumme Sekunden vergingen, wandelten sich in Minuten, in denen keiner von uns ein Wort sprach oder sich regte. Das einzige Geräusch, das ich vernahm, war sein ruhiger Atem, das monotone Ticken meiner Wanduhr und das Brummen der Autos von der Straße, das durch mein geöffnetes Fenster drang.

»Vielleicht hast du recht«, flüsterte er, und doch dröhnten die Worte laut in meinen Ohren.

Ich stützte mich ein Stückchen hoch, um ihm in die Augen blicken zu können. »Darum geht es nicht.«

»Ich weiß«, lächelte er, und ich fiel in sein Lächeln ein. Wie oft er diese zwei Worte schon zu mir gesagt hatte.

»Du bist stark, Sam.« Ich richtete mich auf den Knien auf, sodass sich unsere Gesichter auf der gleichen Höhe befanden. »Und diesen letzten Punkt wirst du auch abhaken.«

Er schnaubte und drehte den Kopf weg. »Wie denn? Leena, das sagst du so leicht.«

»Weil es leicht ist«, beharrte ich. »Zumindest der Versuch ist kein Hexenwerk.«

Lachend schüttelte Sam den Kopf und warf die Liste auf meinen Couchtisch, was mir einen kurzen Stich versetzte. »Du glaubst ernsthaft, es wäre kein Hexenwerk, all die verlorenen Jahre mit meinem Dad wieder aufzuholen?«

Seufzend legte ich den Kopf schief. »Nein, natürlich nicht, Sam. Man kann nichts zurückholen, was fort ist. Das weiß kaum jemand besser als ich.« Ich spürte, wie das Blut in meinen Venen zu Eis gefror. Meine Handflächen fühlten sich feucht an. Der plötzliche Kloß in meiner Kehle schnürte mir die Luft ab und machte es mir schwer zu sprechen. »Aber man kann die Zeit retten, die vor einem liegt.«

Sam senkte die Lider. »Wie denn?«

»Sprich mit ihm.«

»Und du meinst, dann ist alles wieder im Lot?« Er öffnete die Augen und sah mich an, malmte die Kiefer, was ihm einen beinahe zornigen Ausdruck verlieh.

»Keine Ahnung. Aber ich weiß, dass das zumindest der einzig sinnvolle Schritt in die richtige Richtung ist.«

»Man kann nicht nur durch Worte alles wieder hinbiegen«, murmelte Sam.

»Und ohne ein einziges Wort hat man es nicht einmal versucht.«

Sam

Mir war nicht entgangen, dass Leena versucht hatte, ihre Enttäuschung zu verbergen. Die Stille zwischen uns, die auf ihre Ein-Satz-Standpauke gefolgt war, war unerträglich gewesen. Normalerweise schwieg ich gern mit Leena, denn anders als bei anderen Menschen schwebte die Ruhe nicht wie ein Damoklesschwert über unser beider Köpfen. Aber meine Reaktion hatte sie unverkennbar verletzt. Ich hatte in der letzten Nacht kaum ein Auge zugetan. Was, wenn das, was sie gesagt hatte, der Wahrheit entsprach? Wenn der erste Schritt zur Versöhnung mit Dad Worte waren? Schlichte Worte? Worte konnten zerstören, aber vielleicht stimmte es, dass ein simples Wort ebenso einen Neuanfang heraufbeschwören konnte?

»Verflixt«, fluchte ich kopfschüttelnd und schaffte es nicht, ein sachtes Lächeln zu unterdrücken. Sie hatte recht. Das einzig Richtige war, Dad um ein Gespräch zu bitten. Und urplötzlich kam mir eine Idee, wie ich es am besten anstellen würde. Ein Kribbeln entstand in meinem Magen, das sich bis in die Fingerspitzen ausbreitete. Ich parkte den Dodge vor unseren Garagen und hechtete zum Haus. Wenn ich Glück hatte, war Dad da und würde sich darauf einlassen. Nervös legte ich die Hand auf den gusseisernen Knauf unserer Eingangs-Doppeltür. Ich atmete tief durch, ehe ich ihn drehte, eintrat und im Foyer meines Elternhauses stand, von dem aus ich direkt in den ersten Stock und zu Dads Arbeitszimmer gelangte. Selten hatten sich meine Schritte angefühlt, als wären meine Schuhe mit Steinen oder Blei gefüllt. Noch seltener war mir mit jeder Treppenstufe übler und übler geworden. Am oberen Treppenabsatz hielt ich mich am Geländer fest und atmete tief durch. Alles um mich herum drehte sich. Aber das, was ich vorhatte, gehörte auch nicht zu den Dingen, die man als alltäglich bezeichnete. Ich strauchelte nach rechts, zu Dads Büro, und lauschte. Weder hörte ich ihn telefonieren, noch war eine andere Person anwesend. Perfekt. Mir brach der Schweiß aus, als ich wie gebannt die dunkle Holztür anstarrte und wünschte, die nächsten Minuten einfach überspringen zu können. Ich hob die Faust, um anzuklopfen, doch zögerte ich. War das wirklich eine gute Idee? Ich hatte nicht lange genug darüber nachgedacht. Andererseits hatte ich so auch nicht die Möglichkeit gehabt, mir mein Vorhaben zu zerdenken. »Jetzt oder nie«, seufzte ich und vernahm ein Klopfen, ehe ich realisierte, es selbst verursacht zu haben.

»Ja?« Dads Stimme drang zu mir, und kurz wog ich ab, wie ein Fünfjähriger die Beine in die Hand zu nehmen, um zu flüchten. Nur war ich leider zu alt für Klopfstreiche.

Mit schweißnassen Händen und pochendem Nacken drückte ich die Klinke herunter, schob die schwere Tür auf, die stockend über den dicken Teppich fuhr. Dad saß aufrecht an seinem Laptop, die Hände auf der Tastatur. »Hi. Dad«, räusperte ich mich, fuhr mir mit der Hand durch die Haare und zwang mich mit aller Macht, nicht die Hände in meinen Jeanstaschen zu versenken. Ich betete, dass mir nicht die Stimme versagte.

Verdattert blickte Dad vom Bildschirm auf und klappte den Laptop zu. »Sam«, begrüßte er mich argwöhnisch. »Ist alles okay? Gibt es ein Problem?« Ich wusste nicht, was ich von der Sorge in seiner Stimme halten sollte. Glaubte er, ich war hier, weil ich in Schwierigkeiten steckte? Andererseits konnte ich es ihm nicht verübeln. Verdammt, ich musste einen kühlen Kopf bewahren, sonst ging das alles nach hinten los.

»Ja, alles in Ordnung«, erklärte ich und setzte einen Schritt in sein Büro. An den Wänden standen dieselben deckenhohen, dunklen Bücherregale, und auch sein Mahagoni-Schreibtisch war derselbe wie vor vielen Jahren. Einzig die Sessel, die davorstanden, kannte ich nicht.

»Setz dich«, bat er mich und verwies auf ebendiese. Ich schüttelte den Kopf, wollte nicht hier mit ihm reden, denn die vier Wände seines Arbeitszimmers schüchterten mich auf ihre ganz eigene Art ein.

»Nein, es dauert nicht lang.« Ich wartete nicht, ob er etwas erwiderte. Dieses Pflaster zog ich mit einem Ruck ab, damit es mir keine Schmerzen bereitete. »Ich würde dich gern nachher treffen. Um vier auf dem Feld hinter dem Haus.«

Überrumpelt zog mein Dad die Augenbrauen hoch und schien nach passenden Worten zu suchen. »Sam«, stammelte er, fuhr sich durch die Haare. »In Ordnung, ich werde da sein.«

»Okay.« Erleichterung durchfloss mich, und ich setzte einen Schritt zurück, bis ich die Tür im Rücken spürte. Ich krallte mich an die Klinke wie an einen Rettungsring und zog sie hinter mir zu, ohne den Augenkontakt zu Dad abzubrechen. »Bis später«, rief ich durch die geschlossene Tür und fühlte mich, als würde ich auf Wolken laufen. Der erste Schritt war getan. Jetzt musste ich die verbleibenden Stunden herumbringen, ohne vor Aufregung den Verstand zu verlieren.

Leena

Kaum eine Stunde nachdem Sam meine Wohnung verlassen hatte, klingelte das Handy, und ich las seinen Namen auf dem Display. Ich wischte mir die vom Abwasch nassen Hände an der Jogginghose ab und versuchte, den Anruf entgegenzunehmen. »Meine Güte«, stöhnte ich mein Smartphone an, als es nicht reagierte, und benutzte kurzerhand die Nase. Zum Glück konnte niemand in meine Wohnung schauen und mich dabei beobachten. »Hi«, begrüßte ich ihn atemlos, aber lächelnd.

»Und jetzt?« Sam klang verzweifelt und so, als hätte ich ihm heißen Kaffee über die Jeans gekippt.

»Und jetzt was?« Ich zog amüsiert eine Augenbraue hoch und schlenderte zum Wohnzimmerfenster, um die wohltuende Frühlingsluft zu inhalieren.

»Wegen dir muss ich mit Dad reden«, echauffierte er sich.

»Und das ist meine Schuld, weil?«, hakte ich nach und presste die Lippen aufeinander, damit ich nicht versehentlich laut lachte. Mir war durchaus bewusst, dass die Situation eine ernste war, aber Sams Art war einfach zu skurril.

»Weil du gesagt hast, dass ich das tun soll«, maulte er mich durch den Hörer an.

Nun hatte er mich so weit, dass ich doch lachte. »Habe ich gar nicht«, erwiderte ich. »Außerdem hast du ganz allein den Punkt auf deine Liste geschrieben.«

»Ja, aber nur, weil du es wolltest«, murmelte er.

»Stimmt nicht«, flötete ich grinsend und beobachtete, wie zwei Katzen sich durch die Straße jagten. Es blieb still zwischen uns, und Unbehagen breitete sich in mir aus. »Sam?«

»Ich weiß nicht, worüber ich mit ihm reden soll, Leena«, gab er zu und klang so traurig, dass ich ihn am liebsten durch das Handy zu mir gezogen hätte, direkt in meine Arme.

»Ich glaube, dabei kann ich dir nicht helfen«, nuschelte ich und wünschte mir, es wäre anders. Wie gern hätte ich ihm die Unterstützung gegeben, die er brauchte. Egal, wie man es drehte und wendete: Das Gespräch mit seinem Dad musste er allein führen. Niemand würde ihm das abnehmen können.

»Was, wenn das alles nach hinten losgeht?«

»Sam.« Ich seufzte schwer und lehnte meine Stirn gegen den Fensterrahmen. »Zum einen glaube ich das nicht. Und falls es wirklich ganz schrecklich wird, hast du es wenigstens versucht. Ich werde da sein, okay?«

»Holst du mich ab?« Seine Stimme war so leise und gebrechlich wie die eines Vierjährigen, der aus dem Kindergarten abgeholt werden wollte, weil ihn jemand geärgert hatte.

»Natürlich« versicherte ich ihm, auch wenn das hieß, dass ich die Reifen meines Fahrrads aufpumpen musste, denn zu Fuß war der Weg bis zu seinem Elternhaus zu weit, und die einzige Buslinie in Saint Mellows war alles außer zuverlässig. Hoffentlich hatte ich keinen Platten.

»Ich schätze, halb sechs sollten wir fertig sein«, murrte Sam in den Hörer und klang wieder mehr nach ihm selbst.

»Ich werde da sein«, versprach ich ihm.

»Okay, bis später dann.« Er legte auf.

»Okay?« Verdutzt starrte ich meinen Home-Bildschirm an, denn Sam hatte noch nie einfach aufgelegt. Er musste wirklich durch den Wind sein. »Bis später dann«, wiederholte ich seine Worte schulterzuckend und widmete mich wieder dem dreckigen Geschirr, ehe ich mich im vollgemüllten Schuppen zu meinem Fahrrad kämpfen würde.