4. Kapitel

Sam

»Links oder rechts?« Unschlüssig standen wir, Schulter an Schulter, vor dem schmalen Holzbett. Ich hatte keine Ahnung, wie das möglich war, aber wir schafften es ernsthaft, uns von einer unangenehmen Situation in die nächste zu katapultieren. Irgendetwas hatte Leena an sich, das mich immer wieder zu einem Teenager machte, dessen Nerven blank lagen. Für gewöhnlich war ich nie bedacht darauf, die richtigen Worte zu wählen oder mich normal zu bewegen. Aber mit Leena neben mir achtete ich auf jeden Schritt, den ich tat, und auf jeden Atemzug, der meinen Mund verließ.

»Rhabarbermuffins oder Erdbeerkuchen?« Im fahlen Licht, das von der einzigen, uralten Nachttischlampe in diesem Zimmer ausging, erkannte ich sie grinsen.

Lachend fuhr ich mir mit der Hand durch die Haare und drehte mich zu ihr. »Was?«

»Antworte einfach.« Sie biss sich schulterzuckend auf die Unterlippe, ehe sie blitzschnell den Mund schloss.

Ich hob eine Augenbraue an, voller Neugier, was das hier wurde. »Erdbeerkuchen.«

Nickend zeigte Leena nach links auf die Bettseite, die sich neben dem Kleiderschrank befand. »Du schläfst links.« Ohne abzuwarten, setzte sie sich in Bewegung, tippelte zur Fensterseite und hob die Decke an. »Worauf wartest du?«

Verdattert schüttelte ich den Kopf. »Was war das denn für ein Spiel?«

Zögernd strich sie sich eine Haarsträhne hinter das Ohr und wich meinem Blick aus. »So hat das meine Grandma immer gemacht, wenn ich mich nicht entscheiden konnte.« Sie schlug die Decke zurück und setzte sich auf das Laken. »Sie starb vor ein paar Jahren«, murmelte sie mit belegter Stimme und wog sanft den Kopf. »Wenn ich, zum Beispiel, nicht wusste, ob ich ein grünes oder ein blaues T-Shirt anziehen wollte, hat sie sich zwei andere Dinge ausgedacht, zwischen denen ich entscheiden muss.« Leenas betrübtes Lächeln pflanzte mir einen Stein in den Magen, und ich wagte nicht, sie zu unterbrechen. Viel zu selten erinnerten wir uns an schöne Momente. »Vorher hatte sie sich überlegt, was wofür stand.«

Ich lief um das Bett herum, ließ sie dabei allerdings nicht aus den Augen. »Also habe ich mich mit deiner Frage nach Rhabarbermuffins oder Erdbeerkuchen unbewusst für links oder rechts entschieden?«

Sie nickte. »Exakt!«

»Das merke ich mir.« Das Bett knarzte, als ich mich darauf niederließ. Leena knautschte sich das Kissen zurecht und schlüpfte unter die Decke. Ich wartete, bis sie eine bequeme Position gefunden hatte. »Aber eigentlich schlafe ich immer rechts.« Ich zwinkerte ihr neckend zu und versuchte gar nicht erst, mein Grinsen zu unterdrücken.

Sie lachte. »Das tut mir leider gar nicht leid«, ging sie auf meine Flirterei ein und zeigte auf mein Kopfkissen. »Leg dich hin, du siehst echt fertig aus.« Ohne Widerrede schlüpfte ich mit den Füßen unter die Decke und zog sie mir bis zum Kinn. »Ey!« Leena neben mir lachte meckernd auf und zog an der Bettdecke. »Ich hätte gern überall an meinem Körper einen Fetzen davon.«

»Hast du doch.« Ich zog unschuldig die Augenbrauen hoch. »Ich hab gar nichts gemacht.«

Stöhnend zog Leena eine Grimasse. »Oh nein. Bist du etwa ein notorischer Deckenklauer?«

Ich drehte mich lachend auf die Seite, um sie ansehen zu können. »Ein was?«

»Na, ein Deckenklauer«, wiederholte sie. »Jemand, der es nicht schafft, nur die Hälfte der Decke zu benutzen. Meine beste Freundin ist auch so. Das ist die Hölle.«

Leena zog an der Decke, doch ich hielt sie fest. »Lass das«, lächelte ich und deutete auf meinen freien Rücken. »Guck hier, alles frei.«

Sie setzte sich auf, um über mich hinwegzuschauen. »Dann ist die Decke zu klein.«

»Oder du bist zu gierig«, murmelte ich leise.

»Wie bitte?« Sie verschränkte in gespielter Empörung die Arme vor der Brust.

»Nichts?« Ich presste die Lippen aufeinander.

»Bin ich gar nicht.«

»Aha!«

Leena zog herausfordernd eine Augenbraue hoch, was in dem orangefarbenen Licht der Nachttischlampe beinahe gruselig aussah. »Was aha?« Sie äffte mich nach.

»Du hast mich also verstanden und trotzdem Wie bitte? gefragt«, erklärte ich triumphierend.

Es vergingen ein paar Sekunden, in denen Leena empört den Mund auf- und wieder zuklappte. »Ich …«, begann sie.

»Du?« Herausfordernd hob ich den Kopf an, um ihn auf meinen angewinkelten Arm zu stützen.

»Ich wollte dir die Chance geben, etwas Neues zu sagen.«

Ich zwang mich, nicht sofort in Gelächter auszubrechen, was mir nicht gelang. Ich prustete los. »Von welchem Pinterest-Board hast du denn das?«

Leena versuchte vergeblich, ernst zu bleiben und sich nicht von meinem Lachen anstecken zu lassen. »Instagram«, murmelte sie ertappt und griff pfeilschnell nach ihrem Kopfkissen. In der Sekunde, in der ich ahnte, was sie vorhatte, registrierte ich schon einen dumpfen Schlag in meinem Gesicht. Vor Schreck zuckte ich zurück, ohne zu bedenken, dass ich am äußersten Rand des Betts lag. Ich schaffte es gerade noch, nach der Decke zu greifen, und lag im nächsten Moment auf dem eiskalten Boden, die Bettdecke zur Hälfte auf mir. »Autsch«, jammerte ich in einem Mix aus Lachen und Japsen.

Eine Sekunde später lugte ihr Kopf vom Bett hervor, und sie kaute auf ihrer Unterlippe. »Alles okay?« Ihre Stimme war piepsig, und ihre geweiteten Pupillen bewiesen mir, dass sie sich erschrocken hatte.

Ich lächelte in mich hinein und entschied, sie auflaufen zu lassen. Mit ernster Miene hielt ich meine Hüfte und wies mit der anderen auf meinen Rücken. »Ich glaub, ich habe mir bei dem Sturz irgendwie das Kreuz verrenkt«, schwindelte ich und musste mich zusammenreißen, nicht zu lachen.

»Oh nein.« Hastig sprang Leena vom Bett auf, eilte zu mir und quetschte sich zwischen Schrank und mir bis zu meinem Oberkörper vor. Sie ging in die Hocke, wobei ihre Knie meine Brust berührten, da es so eng war. »Brauchst du Hilfe?« Sie schluckte, und augenblicklich kroch ein schlechtes Gewissen in mir hoch. Leena sorgte sich ernsthaft um mich.

»Hilfst du mir aufzustehen?« Meine Bitte war ruhig, und ich hob eine Hand an. Sie sprang auf und stellte sich breitbeinig über mich, hielt mir ohne eine weitere Sekunde abzuwarten die Hände hin. Mit gespielt schmerzverzerrtem Gesicht griff ich danach, doch statt mir von ihr aufhelfen zu lassen, zog ich sie in einem Überraschungsmoment zu mir herunter, sodass sie der Länge nach auf mir landete. Der Aufprall wurde untermalt von einem überlauten Keuchen ihrerseits, und auch ich musste mich zusammenreißen, nicht vor Schmerz aufzustöhnen. So elegant und sexy so was immer in Filmen aussah, war das hier leider nicht gewesen. Ich atmete tief ein, und es dauerte eine Sekunde, bis mein Brustkorb mir den dumpfen Aufprall verzieh und aufhörte zu brennen.

Leena blickte mir verdattert in das Gesicht. »Was war das denn?« Sie grinste und wollte sich mit den Händen neben meinem Kopf abstützen, als ich wie im Reflex und ohne weiter darüber nachzudenken die Arme um ihren Oberkörper schlang, um sie daran zu hindern aufzustehen.

»Ich dachte, wenn du mich erschreckst, hab ich auch einen Freifahrtsschein«, erklärte ich zwinkernd.

Sie lachte, legte ihre Hände auf meiner Brust ab und bettete ihren Kopf darauf. »Du stehst wohl sehr auf Überraschungen«, neckte sie mich und trommelte aufgeregt mit ihren Fingern auf meinen Brustkorb. Erst jetzt wurde mir bewusst, dass uns nichts weiter trennte, als die alten Kleidungsstücke, die ich vorhin aus dem Schrank gefischt hatte. Mein Blick suchte ihren, und für eine Sekunde, die sich anfühlte wie eine halbe Ewigkeit, stand die Zeit um uns herum still. Weder sie noch ich atmete in diesem Augenblick. Keiner von uns blinzelte, und meine Kehle wurde so trocken wie die Sahara. Ohne darüber nachzudenken, hatte ich uns beide in eine intime Situation gebracht, dass mir jetzt beinahe das Herz aus der Brust sprang. Verdammt, bestimmt bemerkte sie unter ihren Händen, wie mein Puls raste. Ich verlor mich in ihrem Blick, und das Halbdunkel, in dem wir uns befanden, gab mir Mut. Langsam verringerte ich den Druck meiner Arme um ihren Oberkörper und strich sachte über ihren Rücken, wobei ich ihr Gesicht keine Sekunde lang aus den Augen ließ. Sie stieß zittrig Luft aus, als meine Hände sanft über den Stoff ihres Oberteils fuhren, und ich spürte, wie ihr Körper sich unter meiner Berührung anspannte.

»Alles okay?« Meine Stimme war kaum mehr als ein Hauchen. Sie schluckte, nickte dann aber und biss sich erneut auf die Unterlippe, was die große Lücke zwischen ihren Schneidezähnen betonte. Als hätte sie meine Gedanken gelesen, schloss sie blitzschnell den Mund, verharrte aber in der Position auf mir, rückte keinen Zentimeter von mir. Vorsichtig wanderte ich mit einer Hand ihren Rücken hinauf bis zu ihrem Nacken und strich zärtlich darüber, tippelte mit meinen Fingerspitzen an ihrem Hals entlang, wodurch sich eine sanfte Gänsehaut bildete, was mich schlucken ließ. Langsam steuerte ich eine Spur ihren Hals hoch, suchte tippend nach ihrem Kinn und fuhr ihr zart mit dem Daumen über die Lippen. »Du brauchst dich nicht zu verstecken«, flüsterte ich und übte einen leisen Druck auf ihre Unterlippe aus, sodass sich ihr Mund einen Spalt öffnete. Sie ließ es zu und senkte für einen Moment sinnlich die Augenlider. Es fiel mir unheimlich schwer, bei ihrem Anblick nicht aufzustöhnen. Ich spürte in mir ein Feuer auflodern, das mich weiter antrieb. Man brauchte kein guter Menschenkenner sein, um zu wissen, dass Leena Prinzipien hatte. Trotzdem sah ich meine Chance, wollte mein Glück versuchen. Wagemutig ließ ich auch die andere Hand, mit der ich nach wie vor liebevoll über den Stoff an ihrem Rücken fuhr, nach oben zu ihrem Nacken wandern. Ich beobachtete jede ihrer Gesichtsregungen und schluckte, als sie erneut für einen Augenblick die Augen schloss und verhalten und kaum sichtlich nickte. Es war, als hätte sie meine stumme Frage verstanden und mir eine Antwort gegeben, ohne dass Worte nötig gewesen waren. Ich übte sanften Druck auf ihren Nacken aus, wodurch ihr Gesicht meinem näher kam, sodass ich ihren sanften Atem auf meinen Lippen spürte. Als sich unsere Nasenspitzen berührten, senkte Leena die Lider, und ich atmete in freudiger Erwartung aus. Um die letzten Zentimeter Distanz zwischen uns zu überbrücken, hob ich den Kopf an, schloss ebenfalls die Augen und legte meine Lippen sanft auf ihre. Ich implodierte. Mein ganzer Körper pulsierte, als würden tausend kleine Nadelstiche durch meine Haut fahren. Ich bewegte den Mund behutsam an ihrem, öffnete ihn ein Stück und stöhnte leise auf, als sie ihre Lippen leicht öffnete, um meiner Zunge Eintritt zu gewähren. Vorsichtig tastete ich mich mit der Zungenspitze voran, fuhr ihr sanft über die weichen Lippen. Als sich unsere Zungen trafen, erschauderte Leena auf mir und seufzte kaum hörbar, was meine Erregung anfeuerte. Unser harmloser Kuss wurde drängender, und ich konnte nicht glauben, dass das hier gerade wirklich passierte. Da mein Nacken bereits schmerzte, lehnte ich mich langsam zurück, bis ich wieder auf dem Boden lag, in der Hoffnung, dass Leena mir folgte. Sie senkte ihren Kopf ab, um unseren Kuss nicht zu unterbrechen, und ich vernahm, wie sie ihren Oberkörper zaghaft auf meinem ablegte. Ihre Knie hatte sie links und rechts von mir auf dem Boden positioniert, und ich registrierte jede ihrer Bewegungen auf mir. Es fiel mir unheimlich schwer, meine Erregung zurückzuhalten, da sie rittlings auf mir saß, die Brüste an meinen Brustkorb gedrückt, während wir uns so vertraut küssten, als hätten wir nie etwas anderes getan. Ihr Mund schmeckte nach Früchtetee, und der Duft ihres Shampoos nach Apfelblüte wehte mir um die Nase. Ich sog ihn tief ein und stöhnte erregt auf, als sie sich auf mir bewegte.

»Alles okay?«, hauchte sie zwischen zwei Küssen an meinem Mund, und ich öffnete die Augen. Ihre Pupillen waren geweitet und nachtschwarz, was mir den Rest gab.

»Mehr als okay«, krächzte ich, griff mit einer Hand wieder in ihren Nacken und fuhr mit der anderen erneut ihren Rücken auf und ab. Sie zu küssen, war das Schönste, das ich seit vielen Jahren erlebt hatte, und ihr leises Seufzen zeigte mir, dass auch sie diesen Moment in vollsten Zügen genoss.

Leena

Bloß nicht bewegen. Wie erstarrt lag ich in dem schmalen Doppelbett und versuchte mir einzureden, dass mein rasender Puls nicht daher rührte, dass ich soeben neben Sam aufgewacht war. Ich umklammerte die Decke über meiner Brust und lehnte den Kopf zur Seite, um aus dem Fenster sehen zu können, durch das die ersten Sonnenstrahlen hereinfielen. Sie hatten mich an der Nasenspitze wach gekitzelt. Darauf bedacht, mucksmäuschenstill zu sein, wendete ich den Kopf und beobachtete Sam. Sein Brustkorb hob und senkte sich in regelmäßigen Abständen, und durch seinen minimal geöffneten Mund stieß er lange Atemzüge aus. Ich war dankbar, dass er noch schlief, denn ich brauchte ein paar Augenblicke für mich, um zu verstehen, was passiert war. Vor meinem geistigen Auge spielte sich der gestrige Tag wie ein Film im Zeitraffer ab. Frühlingsfest, Sue, Gewinn, Heißluftballon, Angst, Gewitter, Notlandung, Wald, Hütte, Kuss, Kuss, Kuss. Das konnte doch alles nicht wirklich passiert sein? Ich schüttelte ungläubig den Kopf, den Blick starr an die Zimmerdecke gerichtet. Sams leises Seufzen neben mir holte mich aus meinen Gedanken, der Puls schlug mir bis zum Hals. Ich beobachtete ihn beim Aufwachen, er atmete einmal lang aus, bevor er erst ein Auge und gleich darauf das zweite öffnete.

»Hey«, nuschelte er und rieb sich über das Gesicht.

»Hi«, piepste ich mit angehaltenem Atem und versuchte, nicht auszusehen, als hätte ich etwas gestohlen.

Er grinste und hob eine Augenbraue. »Alles okay bei dir?«

Ich nickte stürmisch und umklammerte die Decke fester. »Klaaaar.« Ich wandte mich ab und presste die Augen zu.

Das Bett knackte unter uns, als Sam lachte. »Daaaann ist ja guuuuut«, zog er mich auf und brach damit das Eis.

Ich zog die Augenbrauen zusammen und suchte nach seinem Blick, funkelte ihn an. »Witzig.«

Er befreite seinen zweiten Arm aus der Decke und streckte ihn aus, nickte in seine Armbeuge. »Du bist doch hier die Witzige«, neckte er mich. »Komm her.« Ich starrte entgeistert auf seinen Arm und wusste, dass ich nicht zu viel Zeit vergehen lassen durfte, ehe es seltsam wurde. Was war los mit mir? Vor gar nicht so vielen Stunden hatte ich auch kein Problem mit seiner Nähe gehabt. Er räusperte sich. »Leena? Ist etwas?« Die Unsicherheit in seiner Stimme bescherte mir ein schlechtes Gewissen. Ich wollte ihn auf keinen Fall vor den Kopf stoßen. Und ja, ich wollte nichts lieber, als mich an ihn zu kuscheln. Herrgott, er bot es mir sogar an. Warum nur bewegte sich keiner meiner Muskeln?

»Nein, alles ist gut«, winkte ich ab. »Ich weiß auch nicht.« Ich suchte stumm nach einer Erklärung, Sam lächelte.

»Alles gut, Leena, echt. Willst du einen …«, grübelnd zog er die Stirn kraus und lachte leise, als er den Arm wieder einknickte, »… Früchtetee? Was anderes gibt es ja nicht in dieser Hütte. Ich sollte den Vorrat aufstocken.«

Ich nickte grinsend und hoffte, dass mein leerer Magen jetzt nicht knurrte. »Gern.« Als Sam aufstehen wollte, hielt ich ihn zurück. »Warte«, murrte ich, wies auf seinen Arm. »Nochmal von vorn, bitte.«

In seinem Gesicht sah man von Sekunde zu Sekunde, wie er erst nicht verstand und es schließlich checkte. Schmunzelnd legte er sich wieder hin. »Guten Morgen.« Sein Tonfall war rau, was meine Eingeweide zusammenzog. »Kooooomm heeeeeer«, zog er mich erneut mit tiefer Stimme auf, wofür er einen Hieb von mir gegen den Oberarm kassierte.

»Du bist eine kleine Arschgeige«, frotzelte ich, als ich zu ihm robbte und mich an ihn kuschelte. »Danke«, murmelte ich an seinen Hals, und als Antwort drückte er mich fest. Eine wohlige Wärme breitete sich in meinem Bauch aus, wanderte bis in meine Fingerspitzen. Ich fühlte mich wohl bei Sam und wusste nicht, wo das alles hinführte. Trotzdem genoss ich diesen Moment und versuchte, den Stich in meiner Magengegend zu ignorieren. Ich wollte diesen Augenblick wirklich genießen. Ein einziges Mal ganz ohne Routine und sogar bereit für Überraschungen. Warum war es nur so schwer?

* * *

Später saßen wir in einem silbernen Dodge und fuhren eine Ausfahrt entlang. »Soll ich dir wirklich nicht helfen?«

Sam wog den Kopf von links nach rechts. »Zum sechsten Mal: Nein, das brauchst du nicht. Ich fahre den Ballon gleich selber checken, nachdem ich dich abgesetzt habe.«

»Na okay«, grummelte ich und deutete hinter uns. »Hier lebst du also, ja?«

Sam nickte, verdrehte die Augen. »Erst mal wieder, ja.«

»Sind deine Eltern da?«

Aus dem Augenwinkel sah ich ihn schmunzeln. »Da Sonntag ist, gehe ich davon aus. Soll ich zurückfahren, damit du Hi sagen kannst?« Ich sog scharf die Luft ein. Neue Leute kennenzulernen, stresste mich. Wie konnte ich verhindern, dass Sam meine innere Zerrissenheit bemerkte? Wenn er wüsste, wie heftig mein Herz pochte. Heimlich wischte ich die feuchten Handflächen am klammen Pullover ab. »Wir müssen nicht.«

Ich sprang sofort darauf an. »Echt nicht? Gut.« Ups, das war vielleicht etwas zu enthusiastisch gewesen.

Lachend schüttelte er den Kopf und trommelte auf das Lenkrad. »Also nur, dass du es weißt«, räusperte er sich. »Ich hätte kein Problem damit, dich vorzustellen.«

Ich runzelte die Stirn, brauchte ein paar Sekunden, um den Sinn hinter seiner Aussage zu kapieren. Als es mir wie Schuppen von den Augen fiel, keuchte ich. »Gib mir ein bisschen Zeit, Sam.«

Er fuhr zu mir herum und zog verunsichert die Augenbrauen zusammen. Die Sonne schien in seine dunkelgrünen, warmen Augen, und er trat auf die Bremse. »Es war nicht meine Absicht, dich einzuengen«, entschuldigte er sich. »So war das nicht gemeint, ehrlich.«

»Tust du nicht«, versicherte ich ihm und strich mir verschämt die Haare aus dem Gesicht, obwohl dort keine hingen.

»Wir stellen uns ganz schön an, oder?« Sein Grinsen erreichte seine Augen, und das Grübchen, in das ich mich vor vielen Jahren verschossen hatte, zeigte sich von seiner besten Seite.

»Die Umstände sind ja auch speziell«, schmunzelte ich.

»Komm.« Er startete den Motor neu und legte seine Hand auf meinen Oberschenkel. »Du bist Leena, ich bin Sam. Wir kennen uns von früher, und wir gucken einfach mal, okay?«

Aus dem Konzept gebracht, nickte ich und versuchte, unter seiner Berührung nicht zu einer Pfütze zu zerfließen. Du bist Leena, ich bin Sam … Und wir gucken einfach mal? Was sollte das denn heißen? Das Vibrieren meines Handys in der Jackentasche holte mich aus der Trance. Erschrocken fischte ich es hervor und schlug mir mit der flachen Hand gegen die Stirn. »Oh nein. Nein, nein, nein.«

Sam wartete stumm ab. Ich legte verzweifelt den Kopf gegen die Scheibe, wobei mir auffiel, was für einen wunderschönen Tag wir hatten. Nur vereinzelt zogen Zuckerwattewolken über den Himmel, und die Sonne wärmte die Frühlingsblüher, die sich ihren Weg durch die von Tau bedeckte Erde kämpften. »Leena?« Sam stupste mir gegen den Arm.

»Ich bin zu spät«, murmelte ich und zog einen Flunsch, während ich mit flinken Fingern eine Nachricht an Sue sendete. »Das passiert mir nie. Sue wird mich sofort ausquetschen.« Stöhnend steckte ich das Handy in die Tasche.

»Sue ist deine beste Freundin, richtig?«

Ich nickte. »Ja, schon immer. Seit dem Kindergarten.«

»Das klingt schön.« Er presste die Lippen aufeinander.

Verwundert runzelte ich die Stirn, entschied mich jedoch, nicht nachzuhaken, warum er schlagartig so ernst dreinsah.

»Ist es«, murmelte ich und fragte mich, warum Sam derart seltsam darauf reagiert hatte, dass Sue und ich seit Kindertagen beste Freundinnen waren. In Gedanken durchlief ich das Gespräch immer und immer wieder, doch egal, von welcher Seite ich es betrachtete: Nichts daran kam mir komisch vor. Seine Nachfrage klang für mich eher wie eine Vergewisserung, im Grunde war mir klar, dass er es bereits wusste. Immerhin hatte Sue während meiner Schichten im Anne’s oft dort herumgelungert oder mich abgeholt. Was war es nur, das ihn eine Mauer hochfahren ließ? Ich ließ die Scheibe ein Stück herunter, um die frische Morgenbrise in die Fahrerkabine strömen zu lassen und krallte mich an meinem Rucksack fest. Wir fuhren eine Landstraße entlang, die ich kannte wie meine Westentasche. In zehn Minuten würden wir im Stadtkern sein. Die Baumkronen voll zarter Blüten wogen sanft hin und her, und ich sah vereinzelte Rehe über das Feld tollen, was mir ein Lächeln ins Gesicht zauberte. Ich liebte meine Heimat sehr. Mit geschlossenen Augen ließ ich den Wind um meine Nase wedeln und sog genießerisch den erdigen Duft ein.

»Wo soll ich dich absetzen?« Sam durchschnitt die Stille.

»Ginger Street wäre super«, sinnierte ich. »Kennst du die?«

Er riss seinen Blick kurz von der Straße los, um mir beim Antworten ins Gesicht zu schauen. »Natürlich. Parallel zur Primrose Street.« Er lächelte, und mir fiel ein Stein vom Herzen. Irgendwo tief in mir drin hatte ich Sorge, ihn verärgert zu haben. Dass er mir ein Lächeln schenkte, erleichterte mich mehr, als es eigentlich dürfte.

»Prima«, erwiderte ich und knetete aufgewühlt meine Finger ineinander. Sam schien das aus dem Augenwinkel bemerkt zu haben, denn ohne Vorwarnung lag seine rechte Hand in meinem Schoß. Er umschloss meine Hände mit seiner warmen, großen und strich mir sanft mit dem Daumen über den Handrücken. Ich hoffte ungemein, dass er nicht merkte, wie ich vor Aufregung zitterte. Wie konnte es sein, dass ein Mann, an dem kaum ein Bewohner von Saint Mellows ein gutes Wort ließ, dermaßen aufmerksam war? Wer war er nur geworden?

Sam

Ich wünschte, der Weg zum Feld würde länger dauern als zehn Minuten. Das monotone Geräusch des Motors schaffte es nicht, mich auf andere Gedanken zu bringen. Das Wissen, gleich allein den schweren Ballon zusammenfalten zu müssen, bereitete mir bereits physische Schmerzen. »Bitte lass ihn unversehrt sein«, murmelte ich leise vor mich hin, während ich unter Anspannung mit den Fingern auf das Lenkrad trommelte. Dad würde alles andere als begeistert sein, wenn der Ballon Schaden genommen hätte. Ich setzte den Blinker und vergewisserte mich, dass die Landstraße frei war, ehe ich in den schmalen Feldweg einbog, der bis zu dem Wald führte, an dem wir gestern Abend notgelandet waren. Aus der Ferne sah ich zwei Autos an der Unfallstelle parken und hätte am liebsten auf der Stelle kehrtgemacht. »Scheiße, nein«, fluchte ich und schlug mit der Hand auf das Lenkrad. Das durfte nicht wahr sein. Ich spürte die Wut der Verzweiflung schmerzhaft und heiß in meinem Magen aufsteigen. Dort vorn war Dads Auto. Er war hier, und gleich würde es Vorwürfe hageln. Ich verlangsamte das Tempo, da der Feldweg, je weiter ich Richtung Wald steuerte, immer huckeliger wurde. Jeder zurückgelegte Meter fühlte sich an, als käme ich der Schlachtbank näher. »Was soll’s«, ermutigte ich mich selber. »Augen zu und durch.« Ich parkte den Dodge und zog Dads Aufmerksamkeit auf mich, als ich die Autotür zuknallte.

Mit wutverzerrtem Gesicht kam er auf mich zugestiefelt, und ich schluckte, wappnete mich innerlich gegen seine Tirade. »Samuel«, brüllte er und warf eine Hand in die Höhe. »Was soll das?« Er wirbelte mit beiden Armen durch die Luft und zeigte abwechselnd auf den notgelandeten Ballon und mich.

»Beruhige dich, ich wollte ihn gerade einsammeln«, knurrte ich und weigerte mich, kleinlaut seine Rüge entgegenzunehmen. Ich war froh, seinem bohrenden Blick trotz der Anspannung, die mich zittern ließ, standzuhalten. Was ich allerdings nicht erwartet hatte, war seine Reaktion.

»Einsammeln?« Jegliche Farbe wich aus seinem Gesicht. »EINSAMMELN? Du glaubst, darum geht es mir?«

Ich zuckte mit den Schultern und zog verwirrt die Augenbrauen zusammen. »Wo ist das Problem?« Ich verschränkte die Arme vor der Brust. »Ich bin hier, um zu checken, ob er unversehrt ist, was willst du …«

»SAMUEL«, unterbrach er mich dröhnend, was mich zusammenzucken ließ. Ich setzte einen Schritt zurück und bereute es, denn ich wollte ihm gegenüber keinerlei Schwäche zeigen.

»Was ist dein verdammtes Problem, Dad?« Wütend ballte ich die Hände zu Fäusten und widerstand dem Drang, auf dem Absatz kehrtzumachen. Einfach wegzufahren, weit weg. Am liebsten auf Nimmerwiedersehen. »Sag es mir«, verlangte ich schnaubend. »Hast du Angst, irgendjemand könnte erfahren, dass es Komplikationen im Zusammenhang mit deinem scheiß Unternehmen gab? Dass jemand an deinem 5-Sterne-Bewertungen-Baum rüttelt? Dass sich dein Schein endlich mal trübt?« Die Wut verzerrte meine Sicht, und ich brachte sämtliche Selbstbeherrschung auf, ihm nicht noch mehr der unzähligen Dinge an den Kopf zu werfen, die mir auf der Zunge brannten.

Er schüttelte den Kopf, und in seinen Augen las ich Enttäuschung. Prima. »Du denkst immer das Allerschlimmste von mir, oder?« Seine plötzlich beherrschte, traurige Stimme drang wie ein Dolch mitten in mein Herz. »Seit damals bin ich ein Monster für dich.« Er presste die Lippen aufeinander.

»Du hast mir auch nie eine andere Seite von dir gezeigt«, drängte ich hervor, ignorierte die Enge in meinem Hals.

Dad zuckte für den Bruchteil einer Sekunde zusammen, und ich sah, wie sich in ihm ein Schalter umlegte. »Dass du dich nicht schämst«, zischte er mir entgegen und rügte mich mit erhobenem Zeigefinger, einer Geste, die sich durch unsere Vergangenheit zog und sich in mein geistiges Auge gebrannt hatte. »Du benimmst dich noch immer wie ein undankbares Kind, Samuel. Selbst nach all den Jahren Abstand bringst du mir nichts als Wut entgegen für etwas, das so lang zurückliegt und niemals in meiner Hand gelegen hatte.« Die dunkler werdende Vene auf seiner Stirn drohte zu platzen.

Lachend fuhr ich mir mit der Hand über das Gesicht. »Du glaubst doch nicht wirklich, was du da sagst?« Ich spürte, wie sich Frustration in mir ausbreitete. »Natürlich hättest du, hättet ihr anders mit allem umgehen können. Ihr habt alles nur schlimmer gemacht, indem ihr es verheimlicht habt.«

»Fahr nach Hause, Sam.« Auch wenn er gedämpft sprach, ahnte ich, dass jetzt der falsche Moment für weiteren Widerspruch war. Ich nickte gezwungen, doch sah er es nicht, da er sich abgewandt hatte, um Floyd zur Hand zu gehen, der den Ballon zusammenfaltete. Meine Knochen schmerzten. Die letzten Tage waren zu viel gewesen, ich war müde. So, so müde. Letzte Nacht, neben Leena, hatte ich das erste Mal seit Wochen ein paar Stunden am Stück geschlafen. Weder wurde ich von Albträumen der Erinnerungen geweckt, noch hielten Vorwürfe und Schuldgefühle oder gar Wut mich wach. Nur Leena war in meinen Gedanken gewesen, und sie ahnte nicht einmal, was das bedeutete. Sie ahnte nicht, dass sie die erste Frau war, neben der ich ruhte, und meine schwarzen Gedanken, wenn auch nur vorübergehend, stillschwiegen. Keine Ahnung, was es war, das mein Gedankenkarussell bei ihr verstummen ließ. Als würde sie es außer Gefecht setzen und mir die Atempause geben, nach der mein Körper sich verzehrte. Vielleicht war es albern, nach einer einzigen Nacht so zu denken. Doch woher sollte ich schon wissen, was richtig war und was nicht?

Ich ertrug es keinen Augenblick länger, Dad und Floyd bei meiner Arbeit zu beobachten, also hastete ich zum Wagen und knallte die Tür hinter mir zu. Stöhnend atmete ich aus und blickte zum Beifahrersitz, auf dem vor weniger als einer Stunde noch Leena gesessen hatte, und wünschte mir, sie wäre noch bei mir. Ein mir unbekanntes Stück Papier, das zwischen dem Sitz und der Tür klemmte, zog meine Aufmerksamkeit auf sich. Stirnrunzelnd beugte ich mich über die Mittelkonsole, um es zu greifen. Ich entfaltete das klamme Blatt und verzog den Mund. Was war das? Ich kratzte mich am Hinterkopf. Eine Art Liste, die mindestens zwanzig Stichpunkte aufführte, deren Sinn sich mir erst nicht erschloss. Einen Kunstkurs besuchen? Frühjahrsputz? Häschen-Cookies backen? Sonnenaufgang beobachten? Mir fiel auf, dass ich das Blatt nicht gänzlich entfaltet hatte, und klappte den oberen Rand um. Ein Lächeln stahl sich auf meine Lippen, als ich begriff. Das Kribbeln, das meinen Körper seit gestern ständig übermannte, war wieder präsent und breitete sich bis in alle Nervenenden aus.

»Oh Leena, lass dich überraschen«, grinste ich in mich hinein, faltete die feuchte Liste zusammen und verstaute sie sicher in meinem Portemonnaie, damit sie nicht einriss. In meinem Kopf formte sich bereits eine Idee. Ich startete den Motor und fuhr rückwärts den Feldweg entlang, bis ich wieder auf die Landstraße bog, die mich nach Hause führte. Voller Elan sprang ich grinsend die Treppenstufen zu meinem Zimmer empor, ignorierte meine Schmerzen, schnappte mir den Laptop und legte Leenas Bucket-List daneben auf dem Bett ab. »Dann mal los«, lächelte ich, als ich mich auf die Tagesdecke plumpsen ließ und das Passwort eingab, um das Notebook zu entsperren. Sofort pingte eine Mail von Kyle auf, und ich grinste kopfschüttelnd, denn er verabscheute Kurznachrichten und sendete lieber Mails. Lange Mails. Seine Zeilen zu lesen, in denen er sich über seinen Vermieter aufregte, ließen mich auflachen. Ich vermisste meinen Kumpel und unsere Gespräche über Gott und die Welt, klickte auf den Antworten-Button und rasselte alles herunter, was mir in den letzten vierundzwanzig Stunden widerfahren war. Nur meine Dämonen der Vergangenheit ließ ich wie immer aus. Als ich fertig war, registrierte ich erst, wie kalt mir war, da ich noch immer die klammen Klamotten von gestern Abend trug. Ich stand ächzend auf, pellte mich aus der Kleidung und gönnte mir eine warme Dusche, ehe ich mich meinem Plan widmete.

Leena

Frisch geduscht und in molligen, trockenen Klamotten, machte ich mich zu Fuß auf zum Anne’s, um mit Sue zu frühstücken. Der Blick auf meine Armbanduhr ließ mich erahnen, dass sie alles andere als begeistert sein würde. Immerhin waren wir vor über einer Stunde verabredet gewesen. Ich ließ den Blick über die Häuser gleiten, in deren Fenstern die Sonne reflektierte. Die Vorgärten hatten den Winter hinter sich gelassen, es gab keine einzige Schneeflocke mehr, alles erwachte aus einem tiefen Schlaf und wappnete sich für den heißen Sommer, der uns jedes Jahr überrollte. Ich liebte das fleißige Treiben der Mellowianer. Alles verlief in seinem geregelten Gang, die Helfer und Organisatoren des Frühlingsfestes waren dabei, die Buden zurückzubauen und die Deko so zu arrangieren, dass sie wie beiläufig aussah. Das war unser schlichtes Touristen-Geheimnis. Hier ein überdimensionales Osterei, da eine monströse, pastellfarbene Girlande und ab und an, vermeintlich zufällig, ein Strohballen. All diese ländlichen Details sorgten für das Gefühl, seinem Alltag entflohen zu sein und abgeschaltet zu haben. Einige der Helfer warfen mir stirnrunzelnde Blicke zu oder winkten mir, wobei sie erleichtert wirkten. Was war denn bloß in sie gefahren? Für mich war der Weg in die Stadt eigentlich wie ein alltäglicher Mini-Urlaub geworden, und ich wollte es nicht missen, doch das seltsame Verhalten der Leute heute verunsicherte mich. Ich passierte Maddy’s Bakery in der Primrose Street, und sogleich strömte mir der Duft von frischem Apfelkuchen mit Walnüssen in die Nase. Maddy’s Bakery hielt sich selten an die saisonale Küche, demnach passierte es, dass sie zu Weihnachten Mango-Plätzchen verkauften. Die Bäckerei gehörte Martin, der den Laden von seiner Grandma Madeline übernommen hatte, und er liebte die verwirrten Gesichter neuer Gäste, wenn er sich ihnen als Maddy vorstellte. Vor Jahren war sein On-Off-Ehemann George mit ins Geschäft eingestiegen, und da die beiden sich so gut mit Hochzeiten auskannten, hatten sie Maddy’s Bakery zu Maddy’s Bakery & Weddingmagic ausgeweitet. Immerhin hatten sie mittlerweile dreimal geheiratet und sich zweimal scheiden lassen. Die beiden waren aufbrausend und begeisterungsfähig, hatten aber stets ein offenes Ohr für jeden. Demnach war es passend, dass sie einmal die Woche ein Speed-Dating-Event veranstalteten, bei dem traurigerweise immer dieselben Verdächtigen teilnahmen. Eigentlich war es ein Wunder, dass es heute frischen Kuchen bei Martin und George gab, denn die beiden hielten nichts von Richtlinien und legten sich nicht gern fest. Es gab Tage, an denen bekam man kein Gebäck, dafür konnte man an einem spontanen Makramee-Kurs teilnehmen und Buchweizen-Spirelli mit veganem Pesto bestellen. Ohne Maddy und George würde in Saint Mellows eindeutig etwas fehlen.

Ich sah Maddy ein paar Gäste bedienen, als er wie von der Tarantel gestochen sein Tablett auf deren Tisch abstellte, um zur Eingangstür zu hechten. Verdattert blieb ich in einiger Entfernung stehen, da mein Gefühl mir sagte, dass ich der Grund dafür war – warum auch immer. »Ist alles okay bei dir?«, rief er mir atemlos zu und hielt sich schnaufend die Seite, als wäre er tatsächlich mehr als zehn Meter gerannt.

Verblüfft hob ich die Augenbrauen an und bedeutete ihm mit erhobenen Handflächen, sich zu beruhigen. »Natürlich, warum denn nicht?« Ein ungutes Gefühl beschlich mich. Hatte ich mir die ganzen verstörten Blicke doch nicht nur eingebildet?

»Na, wegen des Sturms, Süße.« Er deutete zum Himmel, an dem nichts mehr an den vergangenen Abend erinnerte.

»Nachdem du und dieser Sam weggeflogen seid, hat euch niemand mehr gesehen. Alle haben sich Sorgen um dich gemacht.«

Dieser Sam? Weggeflogen? Sorgen? Um mich? Ein Gefühl, das ich nur schwer beschreiben konnte, erfasste mich und bescherte mir eine Gänsehaut. Beobachtete mich Saint Mellows? »Das ist nicht nötig«, murmelte ich und wischte mir eine Haarsträhne hinter das Ohr. »Alles ist gut, niemand braucht Panik schieben, nur weil man mich mal nicht sieht. Ich bin erwachsen.« Keine Ahnung, warum ich den letzten Satz angefügt hatte, doch etwas in mir verlangte, das klarzustellen.

Empört schnappte Maddy nach Luft und stemmte die Hände in die Hüften. »Na, hör mal, wir passen hier aufeinander auf.«

Mir fiel die Kinnlade herunter, und kurz überlegte ich, ihm den Unterschied zwischen Aufpassen und Beobachten zu erklären, entschied mich allerdings dagegen. »Okay«, gab ich nach, denn ich wollte dem Gespräch entfliehen. »Ich muss jetzt los. Danke fürs Aufpassen.« Der sarkastische Unterton in meiner Stimme war nicht zu überhören.

»Schön, dass es dir gut geht«, pflaumte Maddy mich im gleichen Ton an, hob sein Kinn an und stiefelte zurück in seine Bäckerei.

»Diese Stadt hat sie doch nicht mehr alle«, nuschelte ich mir selbst zu. »Und Maddy erst recht nicht.« Ich atmete tief ein, um das Gespräch zu vergessen, schloss die Augen und genoss den sanften Windhauch, der meine Wangen streichelte. Die Luft war kalt, doch die Sonnenstrahlen gaben ihr Bestes, meine Haut zu erwärmen.

»Meow.« Erschrocken blieb ich stehen und sah an mir herunter auf meine lackschwarzen Schnürstiefel. Das pechschwarze Kätzchen von gestern schmuste mit einer Laterne und kam sofort auf mich zugetappst, als ich in die Hocke ging.

»Na, du süße Maus«, begrüßte ich sie und strich ihr über das Köpfchen. »Passt du etwa auch auf mich auf?« Als Antwort miaute sie erneut und stupste ihren winzigen Kopf in meine Hand. Sie schlängelte mir um die Beine und hinterließ eine Tonne Katzenhaare an meiner schwarzen Strumpfhose mit dezenten silbernen Sternapplikationen und meinem senfgelben Cordrock. »Ich muss jetzt weiter.« Ich zupfte mir ein paar Haare von der Kleidung und kraulte ihr noch einmal das Ohr. Den Rest des Weges wich ich sämtlichen Blicken aus. Schon von Weitem entdeckte ich Sue im Anne’s. Sie hatte sich unseren Lieblingsplatz an der Fensterfront gesichert, auf der in geschwungenen Lettern »Anne’s – Coffeeshop & Foods« geschrieben stand. Ich kniff die Augen zusammen, um Sue besser zu erkennen, und verdrehte sie seufzend. Sie hatte den Kopf in eine Hand gestützt und ihre dunkelbraunen Haare fielen auf ein Dokument, das sie studierte. Sie hatte ernsthaft ihre Arbeit mitgebracht. An einem Sonntag. In der anderen Hand hielt sie einen Textmarker, mit dem sie konzentriert auf den Tisch trommelte. Als spürte sie, dass sie beobachtet wurde, hob sie stirnrunzelnd den Kopf und sah sich suchend um. Als sie mich entdeckte, winkte ich ihr zu. Auf ihrem Gesicht bildete sich ein fettes, wissendes Grinsen, und sie wies demonstrativ auf den freien Stuhl neben sich. Oh nein. Ich ließ die Hand in der Tasche meiner hellblauen Jeansjacke verschwinden. Als ich das Café betrat, klingelte die vertraute Glocke am Eingang, um mich anzukündigen. Keine zwei Sekunden später stand Anne hinter dem Tresen und winkte mir zu. Ich erwiderte ihren Gruß lächelnd und steuerte zielgerichtet auf Sue zu, die Akten in einer Tasche verstaute.

»Es ist Sonntag.« Tadelnd hob ich eine Augenbraue und deutete auf den Textmarker, der vor ihr auf dem Tisch lag.

Sue zog eine wehleidige Grimasse. »Nicht im Big Apple, Süße.« Seufzend feuerte sie den Stift zu den Akten.

»Hast du schon gefrühstückt?« Ich hängte meine Jacke über den in die Jahre gekommenen Holzstuhl und zog die schwarze Wollmütze mit den dezenten weißen Punkten von meinem Kopf.

Entgeistert starrte sie mich an. »Selbstverständlich, du glaubst doch nicht, dass ich verhungere, nur weil du mich einen halben Tag auf dich warten lässt.«

Ich lachte laut auf. Sue war immer die Beste darin gewesen, völlig zu übertreiben. »Entschuldigt bitte, Euer Hochwohlgeboren«, grinste ich und drehte mich zum Tresen, um herauszufinden, was unter dem Glas lag, und überbrückte die kurze Distanz bis zu Anne.

»Hey.« Ich zeigte auf Scones, die mit verschiedensten Blüten verziert waren. Ich war wirklich leicht zu beeindrucken. »Einen von denen mit Himbeerbutter.« Ich lächelte Anne zu. »Und einen Lavender Latte, bitte.«

»Dein typisches Frühlingsmenü?« Anne zwinkerte, und ich konnte nicht verhindern, dass mir die Hitze zu Kopf stieg.

»Bin ich so berechenbar?« Seit gestern kreiste in meinem Unterbewusstsein die Frage umher, ob ich eventuell festgefahren war in meinem Handeln. Und der Umstand, dass ich anscheinend nicht mal eine Nacht woanders verbringen durfte, ohne mich bei meiner Stadt abzumelden, verstärkte diese nur.

Anne schüttelte lächelnd den Kopf. »Nein, Liebes.« Sie suchte meinen Blick und legte den Kopf schief. »Du weißt, was du magst. Das ist ungeheuer wichtig.« Ich presste die Lippen aufeinander. Wusste ich das? Oder war ich nur zu feige, Neues auszuprobieren, sobald ich etwas gefunden hatte, mit dem ich zufrieden war? Insgeheim war ich ihr dankbar, dass sie mich nicht löcherte, so wie Maddy zuvor. »Setz dich, Sue erdolcht dich schon mit Blicken«, lachte Anne und nickte in Sues Richtung.

Ich verdrehte lachend die Augen und schlenderte zurück zum Tisch. »Hör auf, mir Löcher in den Rücken zu starren«, pflaumte ich sie liebevoll an, als ich mich auf den Stuhl ihr gegenüber niederließ.

»So, dann leg mal los.« Auffordernd lehnte meine beste Freundin sich zurück und hielt ihre Cappuccino-Tasse mit beiden Handflächen vor ihre Brust. »Ich bin startklar.«

Ich fuhr mir durch die Haarspitzen und rutschte hibbelig auf meinem Stuhl herum. »Womit soll ich loslegen?« Es war einfach unmöglich, dass Sue irgendetwas gehört hatte. In Saint Mellows tickten die Uhren, was Gossip anging, zwar doppelt so schnell, aber woher sollte irgendjemand außer Sam und mir wissen, was gestern geschehen war?

Sue nahm einen Schluck aus ihrer Tasse und zog die Augenbrauen zusammen. »Du bist zu spät, Leena. Und du verschläfst nie. Das würde dir mal guttun, schau deine Augenringe an.«

Das sagte die Richtige. Warum mussten mir immer alle unter die Nase reiben, wie durchgetaktet mein Leben war? Ich schnaubte. »Einmal ist immer das erste Mal.« Angegriffen verschränkte ich die Arme vor der Brust, da ich mir schlagartig wie in einem Verhör vorkam.

Sue ruderte zurück, wedelte mit einer Hand. »Entschuldige, ich wollte dich nicht drängen. Du hast also verschlafen?«

Ich wich ihrem Blick nickend aus. Konnte es sein, dass der Tratsch es doch noch nicht bis zu ihr geschafft hatte? An sich war das keine Lüge, oder? Ich nestelte an meinem Pulloversaum herum. Doch, es war gelogen. Verdammt. Wenn ich Sue nicht erzählte, was passiert war, wäre ich exakt die Art von Freundin, die ich nicht sein wollte: verschlossen. »Jein«, schmunzelte ich und spürte, wie ich rot anlief.

»Meine Aufmerksamkeit gehört ganz dir.« Sues Grinsen berührte beinahe ihre Ohren, und sie stellte ihre Tasse ab, um sich auf den Ellenbogen abzustützen. Dadurch war sie mir näher, was mir sehr gelegen kam, denn man wusste nie, wer seine Lauscher an Orten hatte, wo sie nicht hingehörten. Unauffällig schaute ich mich im Café um und entdeckte die größte Klatschbase Saint Mellows: Rupert. Ungünstig war, dass sich sein Gehör stets verschlechterte und er bei seinen Lauschattacken nur die Hälfte verstand. Was ihn aber nicht daran hinderte zu tratschen. Was ihm dabei entging, schmückte er gern aus, und ungünstigerweise war er im Gossipverein mit Maddy und George, die Neuigkeiten, egal ob wahr oder falsch, binnen Minuten im ganzen Stadtkern verteilten. Vermutlich gab es einen Nachrichten-Verteiler, ansonsten konnte ich mir nicht erklären, wie das möglich war.

Räuspernd rutschte ich ebenfalls näher an sie heran. »Das Los gestern …«, begann ich, doch Sue unterbrach mich.

»Ernsthaft? Wir haben gewonnen?« Freudig klatschte sie in die Hände, und aus dem Augenwinkel sah ich, wie Rupert sich aufrichtete. »Wann geht’s los? Ist es ein Wellnesswochenende?« Sue plapperte weiter, ich ließ sie lächelnd gewähren. »Oh bitte, lass es Wellness sein, ich bin so verspannt.«

Mit hochgezogener Augenbraue zeigte ich auf ihre Tasche, die zu unseren Füßen stand. »Das könnte an dem Zentner Papiere liegen, die du ständig mit dir herumschleppst.«

Seufzend schloss sie die Augen. »Ich weiß. Aber das muss bis Dienstag fertig sein, und wenn ich heut schon etwas davon schaffe, habe ich morgen vielleicht ein bisschen mehr Freizeit«, versuchte sie hastig, sich herauszureden.

»Das ergibt keinen Sinn, Süße. Du könntest die freie Zeit auch einfach heute nehmen. Am Sonntag.«

»Lenk nicht ab.« Sue wedelte das Thema mit den Händen vom Tisch. »Also, sag schon: Was haben wir gewonnen?«

Sie wusste es tatsächlich noch nicht. Ich schluckte. »Ich war gezwungen, den Gewinn direkt gestern Abend einzulösen.«

Ich war nicht vorbereitet auf die Enttäuschung, die sich blitzschnell auf ihrem Gesicht ausbreitete. »Oh.«

»Ich hätte dich ja gern dabeigehabt«, nuschelte ich und realisierte, wie irgendein Part von mir laut Lüge schrie, und schämte mich dafür. Bis eben war es mir nicht bewusst gewesen, dass das alles nicht passiert wäre, wenn Sue nicht Akten hätte wälzen müssen. Danke, New Yorker Anwaltskanzlei.

Sie rieb sich den Arm, und für den Bruchteil einer Sekunde wanderte ihr Blick vorwurfsvoll zu den Akten, als verteufelte sie diese. »Was war es? Hattest du Spaß?« Beim Gedanken an letzte Nacht schwitzte ich. Mir kam Sams Anblick in den Sinn, wie er mich tief in seine dunklen Augen hatte sinken lassen. Sein Mund, der meine Lippen erforschte, und seine Fingerspitzen, die eine sanfte Spur auf mir hinterließen. »Leeni?« Sue runzelte die Stirn und lachte verhalten.

»Oh ja«, schmunzelte ich und fasste Mut. »Der Hauptgewinn war eine Heißluftballonfahrt, gesponsert von den Forsters.«

Sues Gesichtsausdruck nach zu urteilen, verstand sie nur Bahnhof. »Okay … und?«

»Ich habe Höhenangst«, näherte ich mich dem Thema, ohne zum wirklich pikanten Part zu kommen.

»Stimmt. Und hast du es gemacht?« Sie presste die Lippen aufeinander, um ihr Lachen zu unterdrücken.

»Jep.«

Sie knuffte mir gegen den Oberarm. »Wow, ich bin stolz auf dich. Du springst viel zu selten über deinen Schatten.«

Uff. Das saß. Ich schluckte und versuchte krampfhaft, mir nicht anmerken zu lassen, dass ihre Worte mich verletzten. Sue war manchmal emotionsloser als ein Bagger. Glücklicherweise befreite Anne mich aus der Situation, indem sie mir mein frühlingshaftes Sonntagsmenü brachte, und Sue einen weiteren Cappuccino. Außerdem versperrte sie Rupert den Blick auf uns, was ein angenehmer Nebeneffekt war. »Danke schön.« Ich nahm den Teller von ihrem Tablett, Sue hatte sich bereits den Kaffee geschnappt und setzte an zu trinken.

»Kein Problem«, erwiderte Anne und wischte sich ihre Hände an der Schürze ab, wobei sie verräterisch grinste. Sie würde doch nicht? »Wie war es gestern mit Sam?« Doch, sie würde.

Ohne Vorwarnung prustete Sue und hustete ganz fürchterlich. Vor Schreck sprang ich von meinem Stuhl auf, um ihr mit Bedacht klopfend über den Rücken zu streichen. »Alles okay?« Der Schock stand ihr ins Gesicht geschrieben, und als sie sich beruhigte, lachte ich mir klammheimlich ins Fäustchen. Das war die Rache für den Spruch über meinen Schatten.

»Ich gehe dann mal.« Verlegen strich sich Anne erneut über die Schürze, nachdem sie aus dieser einen Lappen gezogen hatte, um blitzschnell Sues Sudelei aufzuwischen.

»Okay.« Sue tippte mit dem Zeigefinger auf die Tischplatte und schenkte mir einen Blick, den ich gern als ihren Anwaltsblick bezeichnete. Man traute sich einfach nicht, wegzuschauen oder gar zu schwindeln. Sue war wie der Weihnachtsmann. Sie wusste, wann jemand log. »Irgendwas liegt schon den ganzen Morgen in der Luft, und ich habe das Gefühl, du verheimlichst etwas.«

»Sam – kennst du ihn noch?« Ich versuchte, es beiläufig klingen zu lassen, dabei zitterten meine Knie, als bestünden sie aus Wackelpudding. Zum Glück saß ich wieder sicher.

Gespielt unwissend, legte sie den Zeigefinger an ihr Kinn und zog eine Schnute, als würde sie überlegen. »Natürlich«, grinste sie. »Jeder weiß, wer Sam ist.«

»Okay. Jedenfalls war er es, mit dem ich gestern die Tour gemacht hab.« Egal, wie ich versuchte, es zu formulieren, es klang total bescheuert.

»Du warst mit dem Typen, in den du als Teenager so arg verknallt gewesen bist, in einem Heißluftballon? Allein?« Ungläubig zog sie die Stirn hoch, dass ihre Augen fast unter ihrem dunklen Fransenpony verschwanden.

Erschrocken fiel mir das Messer aus der Hand, mit dem ich mir Himbeerbutter auf den Scone schmierte. »Wie bitte?« Ich musste mich verhört haben. Und hoffentlich hatte sich Rupert genauso verhört. Niemand hatte es gewusst, niemand.

»Dass du mit deinem Jugendschwarm in einem Heißluftballon saßt?« Sie zog zwinkernd einen Mundwinkel hoch. »Du glaubst doch nicht wirklich, dass ich es nicht wusste, oder?«

Die Erkenntnis schlug mir direkt auf den Magen. Verunsichert schob ich meinen Teller von mir und sank gegen die Stuhllehne. »Woher? Ich habe es niemandem erzählt.«

»Leeni«, lächelnd griff Sue nach meinem Unterarm, wofür sie sich fast auf die Tischplatte legte. »Selbst ein Blinder mit Krückstock hätte es bemerkt.«

»Wie?« Es war mir unbehaglich. Ich hatte nie zu den Mädels gehört, die anderen von ihrem Schwarm erzählten. Schon immer hatte ich das mit mir selbst ausgemacht.

Meine beste Freundin atmete angestrengt aus. »Zum einen hast du dich in der Schule jedes Mal versteift, sobald er in der Nähe war«, zählte sie auf. »Und hier im Café war das so was von eindeutig. Ihr habt euch ständig gegenseitige, heimliche Blicke zugeworfen, es war zum Verzweifeln.«

Ich ließ das Grinsen, das sich auf meine Lippen schlich, gewähren. »Warum hast du mich nie darauf angesprochen?«

Sue biss sich auf die Unterlippe. »Weil wir beste Freundinnen sind? Ich wusste, dass dir das unangenehm wäre.«

Mein Herz zog sich schmerzhaft zusammen. Einerseits, weil ich mir lächerlich vorkam, und andererseits, weil ich so unglaublich froh war, Sue zu haben. »Danke.« Ich formte das Wort nahezu tonlos mit den Lippen. Nimm das, Rupert.

»Ach, du süße Nudel«, lachte Sue und schob mir meinen Teller wieder hin. »Iss. Das ist alles ist Jahre her. Wie war der Flug?« Sie stützte das Kinn in die Hände, und an dem Funkeln in ihren Augen erkannte ich ihre ungebändigte Neugierde.

»Der war okay.« Ich hieß die warme Welle lächelnd willkommen, die durch meine Adern floss. »Bis ein plötzliches Gewitter uns fast tötete.«

»Was? Ihr wart während des Monstersturms da oben?«

Ich bewegte die Hände unauffällig auf und ab und nickte beiläufig in Ruperts Richtung, damit sie leiser sprach. »Ja, wir mussten notlanden, auf einem Feld. Ich dachte wirklich, wir würden sterben, Sue.« Beim Gedanken an das Gewitter und das Gefühl, dem in dieser Weise schutzlos ausgesetzt gewesen zu sein, schnürte sich mir erneut die Kehle zu.

»Aber …« Sue grinste. »Ihr lebt. Beide, oder?« Ich knabberte nickend an meiner Unterlippe. Zappelig hob ich die Hand zu meinem Nasenring und drehte ihn vorsichtig. Das war eine Geste, die ich oft tat, wenn ich supernervös war, und ich hatte es fast geschafft, sie mir abzugewöhnen. »Kommt da noch mehr?« Ich nickte erneut. »Und?« Ungeduldig wackelte sie auf ihrem Stuhl herum.

»Nachdem wir gelandet waren, rannten wir in einen Wald …«

Sue unterbrach mich. »Du? Du bist freiwillig in einen Wald gerannt?« Sie wusste genau, dass Wälder mir Angst einjagten.

»Ja. Obwohl. So ganz freiwillig war es nicht. Wir hatten vielmehr keine bessere Alternative.«

»Stimmt auch wieder«, pflichtete Sue mir bei. Ich riss mich zusammen, um nicht die Augen zu verdrehen. Ich liebte mein kleines Plappermaul Sue, aber es war schwer, ihr etwas zu erzählen, da sie einen ständig unterbrach.

»Wir haben in einer Waldhütte Unterschlupf gesucht.« Ich holte tief Luft und rasselte den Rest der Geschichte herunter, als würde ich ein Pflaster von einer Wunde reißen. »Da haben wir uns umgezogen, ich war bis auf die Knochen nass. Wir tranken uralten, abgelaufenen Motten-Tee, redeten, küssten uns, sind eingeschlafen, wachgeworden, ich hab ihm mit einem Kissen eins übergebraten, daraufhin haben wir uns wieder geküsst, sind erneut eingeschlafen, und heute Morgen hat er mich nach Hause gefahren. Fertig.« Atemlos beendete ich den Monolog und starrte auf meine Hände, mit denen ich vor Nervosität den Saum meines Pullovers völlig ausgeleiert hatte.

»Bitte, was?« Sue schüttelte ungläubig den Kopf. »Kannst du das nochmal langsamer erzählen? Ich glaube, irgendwo zwischen dem Blabla habe ich verstanden, dass ihr euch geküsst habt? Mehrmals?« Sie fuhr sich mit einer Hand über die Stirn. »Himmel, ist das heiß hier drin.«

Ich lachte über ihren Schockzustand. »Dir ist heiß?« Ich fächelte mir Luft zu, um zu verdeutlichen, dass ich diejenige von uns war, die ein Sauerstoffzelt benötigte.

»Wow, Leena. Und jetzt? Wie geht es weiter?«

Ich zuckte mit den Schultern. »Das weiß ich nicht.«

Sie blinzelte. »Magst du ihn? Ich meine – immer noch?«

Verwirrt zog ich die Augenbrauen zusammen, denn ich hatte keine Ahnung. Den Schmetterlingen in meinem Bauch nach zu urteilen, ja. Meinem Verstand nach zu urteilen – auch ja. Irgendwie. »Ich denke schon. Ich weiß nicht, Sue.« Verzweifelt ließ ich die Stirn auf die Tischplatte sinken. »Ich hab das nicht geplant«, nuschelte ich mit platt gedrückter Nase.

Sue tippte mir gegen den Kopf. »Mir fallen gerade mindestens zehn motivierende Pinterest-Sprüche ein, die ich dir gern ins Ohr flüstern würde.« Ich stöhnte auf und würde einen Teufel tun, ihr jetzt ins Gesicht zu sehen. »Aber ich denke, dass du ganz genau weißt, dass das Leben das ist, was du nicht geplant hast.«

Ich hob lachend den Kopf an. »Das ist einer dieser doofen Sprüche, die du mir ständig weiterleitest.«

»Echt?« Sie hob unschuldig die Schultern an. »Okay.« Sue klatschte schon wieder in die Hände, was Rupert bestimmt kirre machte. »Bitte tu mir den Gefallen und mach nicht so einen Mist wie drei Tage zu warten, ehe du ihm schreibst. Und lass ihn deine Routine crashen.«

Ich ignorierte ihren Einwand bezüglich meiner Routine und schielte zur Tasche, in der ich mein Handy verstaut hatte. »Das sollte kein Problem sein«, murmelte ich kleinlaut. »Ich habe seine Handynummer nicht. Und er meine auch nicht.«

Sue hob eine Augenbraue. »Gute Ausgangslage, ihr Trottel.«

»Ey!« Lachend warf ich mit einer Stoffserviette nach ihr. »Das hier ist nicht New York. Ich schätze mal, dass wir uns schon noch über den Weg laufen werden.«

»Das hoffe ich, Leeni.« Ihr ehrliches Lächeln erwärmte mich, und ich krallte meine plötzlich zitternden Finger erneut um meinen Pulloversaum. Ich hoffte es auch. Sehr.