Selten waren die Tage so schnell an mir vorbeigezogen wie die letzten. Ich war gleichzeitig erschöpft und voller Energie, da Sam es schaffte, mich nächtelang wach zu halten, ohne direkt bei mir zu sein. Mit jeder weiteren Nacht ohne ihn erkannte ich, dass ich ihn um mich haben wollte. Immer. Gähnend zog ich meine Haustür hinter mir ins Schloss und inhalierte die kühle Frühlingsluft, die mir um die Nase wehte und eine sanfte Gänsehaut auf meinen Armen hinterließ. Die Büsche und der Rasen waren von zartem schneeweißem Morgentau überzogen, und ich hörte Vögel ihr Morgenlied zwitschern. Friedliche Momente wie dieser luden meine Akkus in Windeseile auf. Die aufgehende Sonne tauchte alles um mich herum in einen sanften Mix aus Rosa, Gelb und Hellblau, und auch, wenn ich nicht die einzige Mellowianerin war, die sich zu dieser frühen Stunde auf den Straßen befand, war es ruhig. Als würden wir alle diese Momente der Ruhe genießen. Um auf meine Armbanduhr zu schauen, hob ich meinen Arm an und schob den Ärmel meines grauen Wollpullovers nach oben. Seufzend registrierte ich, dass ich einen Zahn würde zulegen müssen, wenn ich mir bei Anne noch ein Frühstück to go würde holen wollen, bevor ich den Laden aufschloss.
»Guten Morgen, Liebes«, begrüßte Anne mich, die dabei war, ihre Auslagen zu befüllen, und deutete zu einem Tisch am Fenster. »Ich bin gleich bei dir.«
»Ich habe leider keine Zeit«, lächelte ich ihr zu und wackelte mit meinem leeren Kaffeebecher, den ich in der Hand hielt.
»Lavender Latte?« Anne wischte sich ihre Hände an der Schürze ab und füllte Milch in den Milchaufschäumer.
Ich nickte, stellte den Becher auf den Tresen und ließ meinen Blick über all die Köstlichkeiten gleiten. »Auf jeden Fall.«
»Ich habe Erdbeertörtchen gemacht«, murmelte Anne und wies mit einer Hand zu den perfekt aussehenden kleinen Küchlein. Sofort legte sich ein Schatten auf mein Gemüt, und ich versuchte, ihn durch ein Lächeln zurückzudrängen. Meine Grandma und ich waren oft bei Anne gewesen, um genau diese Törtchen zu verschlingen. »Möchtest du eins?«
»Ja«, hauchte ich, ehe ich es mich versah. Ich hob den Blick an und traf direkt auf Annes, die mir ein trauriges Lächeln schenkte. »Gib mir bitte zwei Stück.«
»Ich weiß, Liebes«, sagte sie mitfühlend, als hätte sie meine Gedanken gelesen. »Sie fehlt mir auch.«
»Ja. Es wird irgendwie nicht leichter«, seufzte ich achselzuckend und kramte mein Portemonnaie aus dem Rucksack, legte Anne das Geld neben die altmodische Kasse.
»Ich habe an Edith gedacht, als ich sie gebacken habe«, erklärte Anne mit einem verträumten Lächeln, als sie mir die Papiertüte mit dem Gebäck über den Tresen schob.
»Das ist schön, Anne«, seufzte ich und fühlte mich mit einem Mal ein winziges bisschen leichter. Es war schön zu wissen, dass Grandma nicht nur ein Loch in meinem Leben hinterlassen hatte. Dass sie geliebt und geschätzt und vermisst wurde. Ich schnappte mir meinen Becher und die Tüte und wandte mich um, wobei ich einen Blick auf die Festwiese warf. »Wie hältst du das nur tagtäglich aus?« Ich konnte nicht anders, als zu prusten bei dem Anblick, der sich mir bot.
»Ich möchte es überhaupt nicht missen«, lachte Anne hinter mir.
»Ich eigentlich auch nicht«, stimmte ich ihr zu und drehte mich noch einmal zu ihr um, ehe ich das Café verließ. Drei- bis viermal die Woche traf sich der Saint Mellows Sportclub zum Frühsport auf der Festwiese, und da heute Freitag war, wurden die Übungen von niemand Geringerem angeleitet als von meiner Chefin Sally. Wie die Kaninchen hoppelten die in den quietschigsten Farben gekleideten, bevorzugt älteren Bewohner Saint Mellows über die Wiese. Mein Blick blieb an Rupert hängen, der in einfach jeder Menschenmenge besonders auffiel. Seine knallrote Sportshorts war viel zu kurz und seinem gequälten Gesichtsausdruck nach mit großer Wahrscheinlichkeit auch zu eng. Vielleicht war ihm auch einfach zu kalt. Doch Rupert wäre nicht Rupert, wenn er nicht noch einen draufsetzen würde. Statt Hanteln trug er seine Mopsdame Panda vor sich her, der garantiert wieder schlecht werden würde, so wie Rupert sie herumwirbelte. Ich begegnete Sallys Blick, die mir fröhlich zuwinkte, woraufhin auch all ihre Lemminge die Arme hoben, um zu winken, da sie es für einen Bestandteil des Workouts hielten. Das war wirklich ein Bild für die Götter. Lachend erwiderte ich ihren Gruß und machte mich auf zur Parfümerie, um sie aufzuschließen und in den letzten Arbeitstag für diese Woche zu starten.
Just in dem Moment, als ich den letzten Schluck meines Lavender Latte getrunken hatte, vibrierte mein Handy im Rucksack, den ich wie immer hinter dem Tresen deponiert hatte. Mit einem kribbeligen Gefühl im Bauch bückte ich mich herunter und grinste breit, als ich sah, dass Sam mir geschrieben hatte.
Sam: Hast du heute schon was vor?
Ich: Ich arbeite bis um vier
Sam: Und danach?
Ich verließ unseren Chatverlauf, um meinen Kalender zu checken, und stöhnte auf. Heute Abend war ich mit Sue zum Videocall verabredet, wir wollten endlich mal wieder ausgiebig quatschen und uns dabei sehen, auch wenn so viele Meilen zwischen uns lagen. Kurzerhand wählte ich ihre Nummer.
»Hey, Leeni«, begrüßte sie mich. »Alles okay?«
Lächelnd fummelte ich am Saum meines Pullovers herum. »Hey, Sue. Ja, du, ich wollte fragen«, stammelte ich und kam mir plötzlich vor wie die schlechteste beste Freundin überhaupt.
Zu meiner Überraschung lachte Sue auf. »Lass mich raten, du möchtest unseren Videocall verschieben, weil Mr Forsters dich für sich haben möchte?«
»Sozusagen«, gab ich schluckend zu. »Hast du heute Mittag Zeit?«
»Ich habe heute einen vollen Uni-Tag«, seufzte Sue. »Warte kurz.« Ich hörte, wie sie ihr Handy vom Ohr zu nehmen schien. »Um zwei Uhr habe ich eine etwas längere Pause«, erklärte sie.
»Dein zwei Uhr oder mein zwei Uhr?« Ich grinste, denn anfangs hatten wir uns ständig verpasst, weil wir nie diese eine blöde Stunde Zeitverschiebung bedacht hatten.
Sue lachte. »Mein zwei Uhr.«
Ich stieg in ihr Lachen ein. »Okay, ich rufe dich wieder aus der Parfümerie an und hoffe auf keine Kundschaft. Und jetzt sei weiter fleißig.«
»Dito.« Sue warf mir noch einen Kuss durchs Handy und legte schließlich auf.
Ich: Für danach habe ich mir soeben Zeit freigeschaufelt
Sam: Du wirst es nicht bereuen
Ich: Erfahre ich auch, was du vorhast?
Ich: Sam?
Ich: Hallo?
Ich: Das ist echt nicht cool von dir
Sam: Ich hole dich halb fünf ab, pack für eine Nacht!
Ich: Du bist unglaublich
Sam: Danke
Ich: So war das nicht gemeint
Sam: Doch, war es
Ich: …
Gab es etwas Besseres, als wenn Pläne aufgingen? Mit einem fetten Grinsen im Gesicht warf ich meine Klamotten in den Rucksack, wobei mein Blick immer wieder an Leenas Bucket-List hängen blieb. Was war ich froh, mir all ihre Punkte abgeschrieben zu haben, sonst hätte ich mich auf meine Erinnerungen verlassen müssen. Hätte ja niemand ahnen können, dass sie die Liste wieder an sich nahm. Heute würden wir gleich zwei ihrer Punkte abhaken können, und auf den letzteren freute ich mich besonders. Es war einfach schön, mit Leena Zeit zu verbringen, und anders als gedacht, wurde es mir nicht zu viel, wie es sonst oft der Fall war, wenn ich eine Frau datete. Wenn ich an Leena dachte, war da pure Vorfreude, die begleitet wurde von einem Wirbelsturm an Schmetterlingsflügeln in meinem Bauch.
Nachdem ich meine Zahnbürste aus dem Badezimmer geholt und ebenfalls in den Rucksack geschmissen hatte, blickte ich mich noch einmal in meinem Zimmer um und seufzte. Während ich heute früh joggen gewesen war, musste die Hausangestellte durch das Zimmer gefegt sein, denn nirgends lag ein Staubkörnchen, die Kleidung, die ich mir zuvor auf mein Bett gepackt hatte, lag zusammengefaltet im Schrank, und vom perfekt gemachten Bett fing ich besser gar nicht erst an. Es missfiel mir noch immer. Schon damals hatte ich es gehasst, wenn jemand in meine Privatsphäre eindrang. Schnaubend schulterte ich den Rucksack, denn als ich nach Saint Mellows zurückgekommen war, hätte mir klar sein müssen, dass es wieder jemanden gab, der mir hinterherräumte, als wäre ich ein verdammter Snob. Ich legte meine Hand auf die kühle Türklinke und verließ unachtsam meine Räume, was ich eine Sekunde später bereute.
»Sam«, begrüßte mich Dad eiskalt nickend, der auf der obersten Treppenstufe innehielt.
»Dad«, erwiderte ich in gleicher Kühle, zog meine Tür hinter mir ins Schloss und bewegte mich langsam auf die Treppe zu. Meine Schritte versanken im Teppich, sodass die museumsartige Stille um uns herum in meine Ohren drang.
»Deine Mutter möchte wissen, ob du heute mit uns zu Abend isst.« Zu meiner Erleichterung setzte er sich in Bewegung und stolzierte auf seine Bürotür zu, die sich auf der anderen Seite der Treppe befand, sodass wir uns nicht Auge in Auge gegenüberstehen würden.
»Nein, ich werde voraussichtlich erst morgen wieder in der Stadt sein«, informierte ich ihn und fragte mich im nächsten Augenblick, wieso überhaupt.
Dad räusperte sich und hielt in der Bewegung inne. »Wo willst du hin?«
Verwundert zog ich eine Augenbraue hoch und setzte den ersten Fuß auf die Treppenstufen. »Das geht dich nichts an.«
»Du hast recht.« Dad schnaubte verächtlich. »Du bist ja erwachsen.« Er betonte das letzte Wort so sarkastisch, dass es mir die Sprache verschlug, und ehe ich eine passende Erwiderung finden konnte, verschwand er in seinem Büro.
»Was sollte das denn?« Flüsternd krallte ich meine Finger um das hundert Jahre alte Holzgeländer und zwang mich dazu weiterzugehen. Ich durfte Dad nicht in meine Gedanken vordringen lassen, wollte diesen Nachmittag und die kommende Nacht einfach nur mit Leena genießen. Ich verließ das Haus, das meine Dämonen immer wieder aufs Neue weckte, und war froh, ihm für eine weitere Nacht den Rücken kehren zu können.
* * *
»Das ist übrigens ein Punkt auf meiner Liste, den wir gern öfter wiederholen können«, grinste Leena mich an und wedelte unvorsichtig mit ihrer Eiswaffel vor meiner Nase herum. »Es gibt keine bessere Kombination als Himbeere und weiße Schokolade.«
Lächelnd legte ich ihr meinen Arm um die Schultern, zog sie an mich und deutete mit einem Kopfnicken auf ihre Eistüte. »Darf ich probieren?«
Schulterzuckend hielt sie mir das Eis hin. »Klar. Komm, wir tauschen.« Auffordernd reichte sie mir ihre zweite Hand, damit ich ihr meinen Becher in die Hand drückte. »An deiner Auswahl müssen wir aber noch arbeiten«, murmelte sie und erntete dafür einen Klaps von mir auf den Hintern.
»Was soll das denn heißen?«
»Dunkle Schokolade und Haselnuss? Komm schon, so was essen alte Männer«, neckte sie mich und schaufelte einen Löffel voll dunklem Schokoladeneis in sich hinein.
»Scheint dir ja trotzdem zu schmecken«, kommentierte ich ihren vollen Mund mit hochgezogener Augenbraue.
»Stimmt«, gab sie zu und verlangte mit ausgestreckten Fingern nach ihrer Eiswaffel. »Meins ist trotzdem besser. Schon allein, weil ich eine Waffel habe. Ich habe nie verstanden, was mit den Leuten nicht stimmt, die freiwillig einen Becher nehmen.«
»Eiswaffeln schmecken nach Pappe.«
»Deine Pappe schmeckt nach Pappe«, empört tippte sie gegen meinen Becher.
Lachend zog ich sie an mich. »Da kann ich wohl nichts dagegen sagen.«
»Außerdem gibt es Kekswaffel-Pappwaffel-Unterschiede«, erklärte sie neunmalklug.
»Du hast einen an der Waffel.« Ich blieb stehen und drehte Leena zu mir herum, tippte ihr gegen die Stirn. »Auch wenn ich es genieße, mit dir über Banalitäten zu diskutieren: Darf ich dich bitte küssen, damit du aufhörst, von Waffelbecherkeksen zu reden?«
Ich konnte mein Spiegelbild in Leenas meeresblauen Augen ausmachen, deren Pupillen bei meiner Frage schlagartig größer wurden. »Hier?« Sie schluckte und blickte sich suchend um.
Ich beugte mich ein Stück zu ihr herunter und legte meine Lippen an ihr Ohr, wobei ich ihre weiche Haut zart spürte. »Was spricht dagegen?«
»Ich weiß es nicht«, hauchte sie, und ein verlegenes Lächeln entstand auf ihrem Gesicht. »Wir sind hier in Saint Mellows«, erklärte sie und blickte sich um.
Ich hob meine freie Hand an ihr Kinn, damit sie mich wieder ansah. »Na und?«
»Du hast recht«, nuschelte sie lächelnd. »Eigentlich ist es völlig egal.«
»Na, siehst du.« Ich senkte die Augenlider und hob ihren Kopf sanft an, damit wir den quälenden Abstand zwischen unseren Mündern überbrückten. Vorsichtig drückte ich meinen Mund auf ihren, wobei ich meine Eissorten auf ihren Lippen schmeckte. »Nichts geht über Schokolade und Haselnuss«, neckte ich sie und spürte sie vor Lachen beben.
»Und für mich geht nichts über weiße Schokolade und Himbeere«, japste sie in einer Atempause. Gerade, als ich meine Lippen stärker auf ihre drückte, spürte ich einen kühlen, feuchten Tropfen, der meine Wange hinabrann, und öffnete neugierig die Augen.
»Oh, oh.« Ein belustigtes Stöhnen drang aus meiner Kehle. Dunkle Wolken hatten sich vor die Frühlingssonne geschoben und würden sich innerhalb der nächsten Minuten über uns ergießen. »Wir sollten besser schnell zum Auto rennen.«
Leena folgte meinem Blick und nickte grinsend. »Wir scheinen Wetterumbrüche magisch anzuziehen.«
»Komm, schnell!« Ich hielt ihr meine freie Hand hin, und gemeinsam rannten wir wie Kinder durch die Straßen unserer Heimatstadt, auf der Flucht vor dem Regen.