18. Kapitel

Sam

»Das ist Samantha«, grinste ich triumphierend. Leena brummte etwas Unverständliches, wies mit dem Zeigefinger auf einen Mann nicht weit von uns. Ich hob die Augenbraue an, hüstelte und legte den Kopf schief. »Ist das dein Ernst?«

»Ja?« Leena kniff ob der Dunkelheit die Augen zusammen.

»Natürlich kenne ich den.«

»Dann sag seinen Namen, du Schlauberger.« Sie verschränkte die Arme vor der Brust.

»Das ist Mr Collins. Der trottelige Geschichtslehrer von der Saint Mellows High, der dieses Jahr endlich in Rente geht?« Ich schüttelte lachend den Kopf und nahm zwei Stöcke aus einem Eimer, reichte Leena einen davon.

Sie raufte sich gespielt frustriert die Haare. »Das darf doch nicht wahr sein!«

»Ich habe dir doch gesagt, dass ich fast jeden hier kenne.« Ich legte den Arm um Leenas Schultern und deutete auf den Platz vor der Alten Halle, wo ein Lagerfeuer entfacht worden war. »Lass uns aufwärmen gehen.«

»Und Stockbrot rösten«, freute sich Leena und zog mich hinter sich her zur Schlange, an der wir den Teig bekamen.

»Hi!« Ein kleines Mädchen, das neben ihrem Dad stand, strahlte uns an und hielt den für sie viel zu schweren Behälter in die Höhe. »Wollt ihr davon was haben?«

Ihr Dad kam ihr lachend zur Hilfe und griff den Eimer am Henkel. »Elsie, Vorsicht«, ermahnte er sie. »Das ist zu schwer für dich.«

»Gar nicht«, murrte sie eingeschnappt und zog einen Schmollmund.

»Devon, hi!« Leena trat überrascht um den provisorischen Tresen herum und umarmte den Typen. Verdattert schüttelte ich den Kopf, da mir ausgerechnet jetzt nicht einfallen wollte, woher ich ihn kannte, egal, wie ich mich anstrengte.

»Leena«, strahlte er. »Schön, dich zu sehen!«

»Was machst du hier? Ist das etwa deine Tochter?« Leena kniete sich neben das Mädchen, damit sie auf gleicher Augenhöhe waren. »Willst du mir helfen, den Teig um meinen Stock zu schlingen?«

»Jaaaaa«, kreischte sie und klatschte überschwänglich in die Hände.

»Elsie, nicht so laut«, ermahnte ihr Dad sie liebevoll, strich ihr dabei den Pony aus dem Gesicht, der zu lang war, aber nicht in den pink glitzernden Haarspangen hielt und ihr vor die Augen fiel. »Sie hatte heute einen ausgiebigen Mittagsschlaf und wird mich noch die halbe Nacht wachhalten«, erklärte er augenzwinkernd und hielt mir die Hand hin. »Hey, ich bin Devon.«

»Sam«, stellte ich mich ebenfalls vor, obwohl ich tief in mir wusste, dass ich ihn irgendwoher kannte. »Sie ist süß«, lächelte ich und nickte zu Leena und Elsie.

»Und Leena konnte schon immer gut mit Kindern und Tieren.«

Ein Stechen in der Magengrube, das sich neu für mich anfühlte, ließ mich schlucken. Keine Ahnung, warum, aber es störte mich, dass dieser Kerl Leena gut zu kennen schien. War das Eifersucht? Ich atmete tief durch. Mir war bewusst, dass diese Gefühle absolut fehl am Platz waren, denn ich vertraute Leena.

»Was machst du hier?« Leena richtete sich auf und wandte sich Devon zu. »Seid ihr zu Besuch bei deinen Eltern?«

Devon wand sich, ehe er weitersprach. »Erst mal ja, aber ich habe vor, wieder herzuziehen.«

»Saint Mellows kann eben doch niemand entkommen. Wir sehen uns, Dev.« Sie zog ihn erneut in eine Umarmung, griff nach meiner Hand, was mich überrumpelte, da das bisher von mir ausgegangen war, und zog mich hinter sich her zum Lagerfeuer.

»Woher kennst du ihn?«

»Devon?« Leena sah zu mir auf und runzelte die Stirn.

»Nein, Rupert«, grinste ich und verdrehte die Augen.

Leena stellte sich begriffsstutzig. »Also Rupert habe ich das erste Mal wahrgenommen, ich glaube, da war ich drei Wochen alt, und er schrie in den Kinderwagen, weil er schon immer taub war.«

»Mann, du Nuss«, lachte ich, hob die Hand an und wuschelte ihr über den Kopf. »Natürlich meine ich Devon.«

»Lass das«, funkelte sie mich an und sortierte ihre Haare. »Ich bin mit Devon in einer Klasse gewesen, seit der Vorschule. Er ist ein absolut korrekter Typ, weißt du?« Ich nickte und versuchte, die Frage, die mir vorschwebte, einfach zu ignorieren, da sie nichts bedeutete und nichts an Leena und mir ändern würde. »Spuck es aus, Sam.« Leena setzte sich neben einen Jungen auf eine der Bänke am Feuer und klopfte auf den Platz neben sich.

»Was meinst du?«

»Ich kann mittlerweile in deinem Gesicht lesen wie in einem offenen Buch. Sogar jetzt, wo die Schatten des Feuers in deinen Augen tanzen.«

Ich ließ mich nieder und stöhnte auf. »Ich weiß auch nicht, warum mir solche Gedanken im Kopf herumschwirren.«

»Das ist normal«, murmelte sie, drückte mir einen Kuss auf die Wange und lehnte ihren Kopf an meine Schulter. »Und irgendwie finde ich es schön, weißt du?«

»Okay«, lenkte ich ein. »War da mal mehr zwischen euch?«

Zu meiner Überraschung schüttelte Leena den Kopf. »Nein, du kannst beruhigt sein. Dev und ich waren einfach Schulkameraden, vielleicht so was wie Freunde. Aber niemals mehr. Außerdem waren seine Freundin und er das Traumpaar überhaupt. Ich war traurig gewesen, als er zum Studieren weggezogen war, aber es war klar, dass er den Abstand zu Saint Mellows gebraucht hatte.« Sie stockte nachdenklich. »Ich habe heute das erste Mal seine Tochter gesehen, kannst du dir das vorstellen?« Seufzend hielt sie ihren Stock in das Feuer.

Auf seltsame Art und Weise erleichtert, stieß ich in einem Schwall Luft aus. »Du wusstest, dass er eine hat?«

Sie nickte, und ich erkannte an ihrem starren Blick, dass sie drohte, in ihre eigenen Gedanken abzudriften, während sie ins Feuer schaute. »Jep«, murmelte sie, und täuschte ich mich, oder klang es, als hätte sie einen Kloß im Hals? »Das wussten wir alle«, hauchte sie und schluckte.

»Ist seine Highschool-Freundin die Mutter?«

Leena schüttelte den Kopf, wie um sich wieder ins Hier und Jetzt zu manövrieren. »Nein«, erwiderte sie kurz angebunden und blickte mich an. »Ey, wo ist dein Einsatz?« Sie tippte mit ihrem Zeigefinger gegen meinen Stock, den ich wie eine Fahne in der Hand hielt. »Ab ins Feuer damit.«

»Ups«, lächelte ich verlegen und entschied, erst einmal nichts weiter zu Devon zu fragen, auch wenn mich ein Gefühl beschlich, dass da mehr war, was sie bedrückte.

»Und zum Nachtisch gibt es Marshmallow-Burger.« Sie kuschelte sich enger an mich, und ich drehte sie ein Stück zum Feuer, damit sie nicht fror.

»Oh, bitte nicht«, stöhnte ich und verzog den Mund. »Ich hasse Marshmallows.«

»Psssst!« Empört riss sie den Kopf zu mir herum. »Das darfst du nicht laut sagen. All unser Souvenir hat mit Marshmallows zu tun, was, wenn das Touristen hören?«

»Leena?« Ich zog eine Augenbraue hoch und deutete mit meinem Stock auf all die Menschen am Feuer und die, die sich am Eierpunsch-Stand miteinander unterhielten.

»Ja?«

»Siehst du hier Touristen? Irgendein Gesicht, das dir nicht bekannt vorkommt?«

Sie kniff die Augen zusammen und ließ den Blick über die Menge schweifen. »Tatsächlich nicht«, murmelte sie.

»Ich glaube, nur der älteste Kern von Saint Mellows ist hier«, seufzte ich lächelnd. »Kannst du dir vorstellen, dass ich noch vor einem Monat auf gar keinen Fall zurückkommen wollte?« Eine Gänsehaut bedeckte meinen gesamten Körper bei dem Geständnis. Ich hatte es bisher nicht laut ausgesprochen, aber es stimmte. Ich hatte nie vorgehabt zurückzukommen, da es hier zu viel gab, das drohte, mich zurück in das schwarze Loch zu ziehen, aus dem ich allein nicht herauskam.

»»Wolltest du nicht?« Leenas Stimme klang traurig. »Oder willst du nicht hierbleiben?«

Ich drückte ihr einen Kuss auf den Scheitel. »Du hast alles verändert«, flüsterte ich und umging ihre Frage dadurch, das war mir bewusst. Eigentlich war jetzt der beste Zeitpunkt, ihr von dem Telefonat zu erzählen, aber irgendetwas hielt mich davon ab, fast so, als wäre dies hier nicht der richtige Ort. »Ich bin nur zurückgekommen, weil ich keine andere Option hatte. Zurück in mein Elternhaus zu kommen war ein schwerer Schritt für mich.«

»Das kann ich verstehen«, nuschelte sie und drehte ihren Stock, stupste mit ihm gegen meinen, um mir zu suggerieren, dass ich ihn auch drehte, damit das Brot nicht verbrannte.

»Alles an Saint Mellows war schrecklich für mich gewesen, jede Ecke, jedes Geschäft, jedes Gesicht. Hinter alldem hatten sich Erinnerungen versteckt, die ich umgehen wollte.«

»Also ist ganz Saint Mellows für dich wie der Cherry Blossom Court für mich«, schloss Leena daraus und zog den Stock aus dem Feuer. »Du hast mir heute geholfen, Sam«, schniefte sie, und ich sah im schummrigen Licht, dass eine einsame Träne ihre Wange hinabrann. »Ich glaube, ich habe kein Problem mehr, diese Straße und den Kirschblütenpark zu betreten, und das dank dir.«

»Wir reparieren uns gegenseitig, oder?« Der Kloß in meinem Hals machte es mir schwer, deutlich zu sprechen, doch in Leenas Augen erkannte ich, dass sie jedes Wort verstand.

»Irgendwie schon, ja.« Sie legte den Kopf schief und entließ mich nicht aus ihrem Blick. Sie leckte sich über die Lippen, und aus dem Augenwinkel sah ich, dass sie bebten. Ich spürte sie zittern und dachte erst, dass sie fror, doch sie sprach weiter und sorgte dafür, dass die schwarzen Wolken, die über mir schwebten, aufbrachen. »Ich liebe dich«, hauchte sie und presste sofort die Kiefer aufeinander, als hätten die Worte ihre Zunge verbrannt.

Ihre Worte sorgten dafür, dass in mir ein Sturm tobte. Wie das Gewitter, das uns vor Wochen zusammengebracht hatte. Ich räusperte mich. »Ich liebe dich auch, Leena Pierson, und du machst mich zum glücklichsten Menschen der Welt.«

Leena senkte verlegen ihren Blick und sah zum Feuer. »Ups«, lächelte sie und wies auf mein Brot, das ich ohne zu drehen in die Flammen gehalten hatte. »Ich glaube, jetzt musst du Elsie lieb fragen, ob du neuen Teig bekommst.« Leena schmunzelte und biss genüsslich von ihrem eigenen Stockbrot ab, das nicht so kohlrabenschwarz war wie meins.

Lachend richtete ich den Blick zum Himmel und stand auf, um zu Devon und Elsie zu gehen. »Das muss ich wohl.«

Leena

»Du bleibst heute bei mir, oder?« Fest umschlungen, spazierten Sam und ich zu mir. Wir waren so lang geblieben, bis vom Feuer nicht mehr viel übrig und uns die Kälte der Mainacht in die Knochen gekrochen war. Annes Eierpunsch war bis zum letzten Tropfen geleert, auch wenn Phil dieses Mal nicht der Übeltäter gewesen war. Statt ihm hatte Rupert zu viel getrunken, und zu unserer Verblüffung war er leiser geworden. Eierpunsch half anscheinend gegen Schwerhörigkeit. Es war nochmal Action in den Abend geraten, als Rupert seinen Mops Panda verloren hatte, die seelenruhig in einem der Container geschlummert hatte, in denen wir die Blumenabfälle und überschüssige Erde gesammelt hatten. Niemand von uns konnte sich erklären, wie die Mopsdame dort hineingekommen war, aber wir alle waren froh, dass sie wohlauf war. Irgendwie waren wir einfach eine große, einmalige Familie, egal, ob wir zwei oder vier Beine hatten.

»Natürlich.«

»Alles okay?« Es kam mir seltsam vor, dass er wortkarg war. Der Ein-Wort-Sam war mir nicht geheuer.

Seufzend stieß er die Luft aus. »In meinem Kopf wirbeln viele Gedanken durcheinander.«

»Einen Penny für deinen Gedanken«, schlug ich ihm vor und sah zu ihm hoch.

Lächelnd schüttelte er den Kopf. »Das hat seit Jahren niemand mehr zu mir gesagt.«

»Ich stehe auf Traditionen.«

»Das wundert mich überhaupt nicht.« Sam versteckte seine Hand in der Bauchtasche seines Pullovers, ehe er sprach. »Ich denke an Conor. An unseren Streit. Ich grüble jeden Tag darüber nach. Er hat mich so wütend gemacht«, brummte er.

Nickend hörte ich ihm zu. »Er hat dich verletzt. Ihr beide habt gegenseitig eure Grenzen überschritten.«

»Jep.«

»Einer von euch muss den ersten Schritt machen.« Es widersprach meiner Natur, so was zu sagen. Ich bevormundete nicht gern, doch hatte ich mittlerweile gelernt, dass man Sam manchmal mit der Nase direkt auf eine mögliche Lösung stoßen musste, da er sie nicht sah, auch wenn sie greifbar war.

Sam seufzte. »Ich weiß, Leena. Aber ich möchte nicht schon wieder der sein, der nachgibt.«

»Sam«, seufzte ich, doch er schnitt mir das Wort ab.

»Noch nicht, okay?«

Ich knabberte an meiner Unterlippe. »Okay.«

»Ich werde übrigens niemals wieder das Bild vergessen, wie der angetrunkene Rupert zu Panda in den Container geklettert war, ohne sich Gedanken darüber zu machen, dass er dort einsinkt und allein nicht wieder herauskommt.« Er lachte, was sich entfernt anhörte wie ein Grunzen, und ich stieg mit ein.

»Gott, ja. Ich hoffe, dass jemand ein Foto von ihm geschossen hat, er hätte es so was von verdient, wenn zur Abwechslung mal ein prekäres Foto von ihm in der Saint Mellows Times abgedruckt wird.«

Wir liefen den Rest des Weges stumm nebeneinanderher, und ich genoss das Gefühl von seinem Arm um meine Schultern. Er schenkte mir Sicherheit, von der ich nicht geglaubt hätte, sie zu finden. Oder sie gar zu brauchen. Sam gab meinem Leben ein Upgrade, obwohl ich nicht gewusst hatte, dass ich mehr wollte. Und jetzt wusste ich, dass niemals wieder weniger infrage kam.

Sam

Seit dem Frühlingsblumen-Festival waren einige Tage vergangen, in denen meine Zuneigung für Leena noch mehr gewachsen war. Wir verbrachten täglich Zeit miteinander, und ich knirschte mit den Zähnen, sobald Leena das Bett verließ, um sich für die Arbeit fertig zu machen. Wenn es nach mir gegangen wäre, hätte sie gern einfach wochenlang Urlaub nehmen können. Heute früh hatten Leena und ich im Anne’s gefrühstückt und waren von ihrer besten Freundin Sue unterbrochen worden, die angerufen hatte. Nachdem Leena mir den fünften entschuldigenden Blick zugeworfen hatte, war ich lächelnd aufgestanden und hatte ihr einen Kuss auf die Wange gedrückt. Verdattert hatte sie mich angestarrt und Sue kurz abgewürgt, damit ich ihr zuflüstern konnte, dass ich sie in zwei Stunden abholen würde und sie sich Zeit für ihre beste Freundin nehmen sollte. Ich war zu Anne herübergelaufen, die mir ein schelmisches Grinsen geschenkt hatte, und hatte sie gebeten, Leena einen weiteren Lavender Latte zu bringen. Anne hatte sich übertrieben gerührt ans Herz gefasst und mir gesagt, dass ich ein lieber Junge wäre. Was auch immer das bedeuten sollte. Doch ich wusste, dass alles, was Anne sagte, gut gemeint war. Durch die Fensterfront hatte ich Leena zugewunken und war zum Dodge gelaufen. Jetzt, zwei Stunden später, stand ich wie versprochen vor Leenas Haus und schaltete den Motor aus. In dem Moment, in dem ich die Autotür zuschlug, erschien Leena in ihrer Haustür und winkte mir zu. Sie trug wieder ihre hellblauen Schnürstiefel mit der breiten Sohle, eine schwarze Jeans und einen apricotfarbenen Wollpullover, unter dem eine weiße Bluse hervorlugte. Selbstredend hatte sie ihren Rucksack geschultert, ohne den sie nie das Haus verließ, erst recht nicht, wenn sie nicht wusste, was ich mit ihr vorhatte.

»Hey«, begrüßte sie mich, stellte sich auf die Zehenspitzen und spitzte ihre Lippen, damit ich ihr einen Kuss gab.

»Hach, was sind wir süß«, grinste ich sie an und gab ihr einen Klaps auf den Hintern.

»Samuel Forsters«, funkelte sie mich an, doch konnte sie ein Grinsen nicht unterdrücken. »Irgendwann hacke ich dir deine frechen Finger ab«, drohte sie mir, wobei ihre Nasenflügel bebten, was ihren Nasenring betonte.

»Ja, ja, ja, aber nicht heute«, trällerte ich, drehte sie um und führte sie zur Beifahrertür. »Wir fahren jetzt zu einem schönen Ort, an dem wir spazieren gehen.«

»Wohin?« Sie ließ sich auf den Sitz fallen und griff nach dem Gurt, um sich anzuschnallen.

Ich hob eine Augenbraue. »Du weißt doch, wie es läuft.«

»Wie jetzt?«, empört riss sie die Augen auf. »Ich dachte, diese Geheimnistuerei wäre beendet?«

»Niemals.« Ich schüttelte vehement den Kopf und lachte heimlich in mich hinein, während ich um den Wagen herumlief.

* * *

»Wo sind wir?« Leena drehte und wendete ihren Kopf, vermutlich auf der Suche nach etwas, das ihr bekannt vorkam.

»Sag ich nicht?« Ich spürte einen Triumph im Magen hüpfen.

»Es ist wunderschön hier«, hauchte Leena und drehte sich im Kreis. In meinem Inneren rumpelte es. Wenn ihr bereits der Parkplatz gefiel, der umringt war von einem Wildblumenfeld, würden ihr bei unserem Ausflugsziel erst recht die Augen aus dem Kopf fallen.

»Na komm, das ist nicht unser Ziel.« Schmunzelnd hielt ich ihr die Hand hin und schnallte, dass sie meinen Rucksack zweifelnd beäugte.

»Was schleppst du da mit dir rum? Ein Zelt?« Sie zog eine Augenbraue hoch, und das Zittern in ihrer Stimme verriet mir, dass sie Furcht überkam.

Lachend schüttelte ich den Kopf. »Keine Sorge, du wirst heute Abend sicher in deinem Bett liegen, außer …« Ich wackelte verführerisch mit den Augenbrauen.

»Außer was?« Sie setzte einen blitzschnellen Schritt auf mich zu, um zum Reißverschluss des Rucksacks zu greifen.

Ich wich ihr pfeilschnell aus. »Außer du willst woanders sein«, beendete ich meinen Satz. »Und beruhige dich, hier ist eine Decke drin, falls wir uns hinsetzen wollen.«

»Ich glaube dir das einfach mal«, murrte Leena und nahm schließlich lächelnd meine Hand. »Aber beantworte mir eine kleine Frage.« Fordernd hielt sie mich zurück.

»Alles.«

»Spielt ein Wald eine Rolle?«

Stöhnend ließ ich die Schultern ein Stück heruntersacken. »Ein winziger, ja.« Ich hob meine Hand in die Höhe, damit sie mich nicht unterbrach. »Wir leben in Wisconsin, Leena. Man muss immer durch einen Wald, um bei den schönen Plätzen anzukommen.«

Schmunzelnd biss sie sich auf die Unterlippe. Diese Geste machte mich nach wie vor verrückt. »Das habe ich mir gedacht.« Seufzend straffte sie ihre Schultern. »Dann los.«

»Hier entlang.« Ich deutete auf einen schmalen Trampelpfad, der direkt durch das Blumenfeld führte. Überall um uns herum wuchsen bunte Blumen. Violette und pinkfarbene, blaue Kornblumen, gelbe Margeriten. Der Frühling war wie eine Bombe in dieses Feld eingeschlagen.

»Es duftet himmlisch hier«, sinnierte Leena und sog mit geschlossenen Lidern gierig die Luft ein. »Ich kann mir kaum vorstellen, dass es gleich noch schöner wird.«

»Ich würde eher sagen, dass man die zwei Flecken Erde nicht miteinander vergleichen kann.«

»Jetzt bin ich noch neugieriger.«

»Wie gut kannst du in deinen Schuhen bergsteigen?«

»Das ist jetzt nicht dein Ernst?«

»Doch …«

»Sag mir so was vorher«, echauffierte sie sich, doch ich erkannte den Schalk in ihrer Stimme, der mir zeigte, dass sie mir nicht böse war.

»Nächstes Mal«, erklärte ich schulterzuckend, und wir beide wussten, dass das nicht geschehen würde. Niemals würde ich aufhören, Leena zu überraschen. Dafür liebte ich ihren empörten Gesichtsausdruck zu sehr, wenn er direkt abgelöst wurde von Erstaunen.

»Als ob«, prustete sie und verdrehte die Augen. Sie wies mit ihrer Hand auf einen Wald, der sich in die Höhe erstreckte. »Lass mich raten, wir werden gleich dieses Waldstück betreten und darin einen Berg hinaufkraxeln?«

Ich wich ihrem Blick aus. »Ja und nein.«

»Was soll das denn heißen?«

»Dass eine deiner Aussagen stimmt und die andere nicht.«

»Du bist heute besonders witzig.« Leena schnaubte lachend.

»Wir werden nicht bergsteigen, ich wollte dich nur ärgern«, gab ich zu und fuhr mir lachend durch die Haare.

Als wir das Waldstück betraten, bescherte der plötzliche Schatten mir eine Gänsehaut, und ich wusste nicht, ob es daran lag, dass es frischer hier war, oder weil wir gleich am Ziel waren. Ich hatte nicht gelogen, als ich ihr versichert hatte, dass wir uns nicht lange in einem Wald aufhalten würden. Genau genommen mussten wir nur einen winzigen Abschnitt hinter uns bringen. »Ich höre es«, flüsterte sie und drückte meine Hand. »Ich kann ihn hören.«

»Man kann dich wirklich kaum überraschen«, murrte ich und versuchte, mir die Enttäuschung nicht anmerken zu lassen.

Sie lachte auf. »Du überraschst mich jeden Tag.«

»Schau, dort!« Ich hob ihre Hand hoch und deutete auf ein paar Baumstämme, durch die das Glitzern der Wasseroberfläche zu sehen war.

»Das ist wunderschön und eindeutig eine der märchenhaft-magischen Seiten eines Waldes.«

»Mom und Dad sind manchmal mit Conor und mir hier gewesen.« Die Worte hatten meinen Mund verlassen, bevor ich darüber nachdenken konnte.

»Das klingt schön. Ich wette, hier ist es zu jeder Jahreszeit atemberaubend.« Sie strich mir mitfühlend mit dem Daumen über den Handrücken, und aus dem Augenwinkel sah ich, dass sie zu mir emporsah.

»Ist es. Weißt du, was mich dabei fertigmacht?« Ich atmete tief ein, hielt den Atem an und stieß ihn wieder aus.

»Sag es mir«, bat sie mich in dem Moment, als sie den Steg entdeckte, der mein Ziel gewesen war. »Schau«, rief sie aus. »Lass uns bis zum Ende rennen wie das letzte Mal.« Ich hörte ihr an, dass sie unsicher in ihrer Aussage war. Wusste sie denn immer noch nicht, dass es nichts gab, das sie sagen konnte, worüber ich mich je lächerlich machen würde?

Ich legte ihr meine Hände in die Taille und zog sie stürmisch zu mir, neigte den Kopf und drückte ihr einen festen Kuss auf den Mund, dass es beinahe schmerzhaft war. »Perfekte Idee«, hauchte ich an ihren Lippen und stellte mich neben sie, zog mit der Schuhspitze eine Linie in den Erdboden. »Bereit?«

Leena fuhr mit ihrer Zungenspitze ihre Lippen nach und klatschte sich auf die Oberschenkel. »Immer.«

»Drei, zwei, eins, los«, zählte ich herunter, setzte den ersten Fuß vor den anderen und spürte Leena direkt neben mir. Es waren geschätzt fünfhundert Meter bis zum Ziel, und wir rannten im Gleichschritt. Jedes Mal, wenn meine Sohlen die Erde berührten, war es, als stampfte ich einen Teil meiner Sorgen in diesen Wald. Als würde ich sie hier endlich hinter mir lassen. Jeder Meter, den wir überbrückten, ließ mich freier fühlen. Mein keuchender Atem schmerzte bald in meiner Kehle, doch hielt mich das nicht davon ab, weiterzurennen. Ich genoss den Wind, der mir ins Gesicht peitschte, und die Sonnenstrahlen, die sich in meine Wangen brannten. Mit jedem Schritt kamen wir dem Wasser näher, und schon bald wurde das dumpfe Geräusch der Schritte auf dem Erdboden vom Klopfen abgelöst, als sie auf die Holzbretter des Stegs trafen. Auf der Hälfte riss Leena die Arme zur Seite und lachte. Ich tat es ihr gleich, verlangsamte meinen Schritt und begann, mich zu drehen, den Blick in den wolkenlosen Himmel gerichtet. Ich sog gierig die frische Luft ein und war von der Situation so überwältigt, dass ich schlucken musste, damit mir keine Tränen kamen. Ich konnte nicht benennen, wie lang ich mit ausgestreckten Armen in den Himmel gestarrt hatte, konnte nicht mal sagen, wann ich aufgehört hatte zu laufen. Das befreiende Gefühl drang bis tief in mein Herz vor und bescherte mir eine Gänsehaut wie nie zuvor. Hätte ich vorher gewusst, dass man sich seine Sorgen von der Seele rennen konnte, hätte ich das eher gemacht. Vielleicht lag es an Leena? Ich fuhr mir mit den Handflächen über das Gesicht und realisierte, dass es nass war. Ich hatte geweint. Schnell rieb ich mir mit den Pulloverärmeln über die Augen und straffte die Schultern, ehe ich zu Leena lief, die sich ans Ende des Stegs gesetzt hatte. Als ich bei ihr ankam, hockte ich mich direkt hinter sie, um meine Arme um ihre Schultern zu legen und ihren Duft nach Apfelblüte tief einzusaugen.

»Hi«, hauchte sie mit geschlossenen Augen.

Ich rappelte mich auf, bloß, um mich wieder direkt neben sie fallen zu lassen, wobei ich ihr versehentlich das Knie in den Oberarm rammte, was sie nicht zu stören schien. »Öffne die Augen«, bat ich sie flüsternd, doch zu meinem Erstaunen schüttelte sie lächelnd den Kopf und tastete blind nach meiner Hand, die in meinem Schoß lag.

»Nein«, hauchte sie. »Schließ du deine Augen, Sam.« Ihre Stimme klang so stark und bestimmend, dass es mir schwerfiel, ihr zu widersprechen. Alles in mir sträubte sich dagegen, die Augen zu schließen und die Natur zu ignorieren.

»Leena.« Ich schluckte schwer.

»Vertrau mir«, bat sie mich mit gesenkten Lidern. »Bitte.« Seufzend ließ ich den Blick über den See gleiten, dessen stille Oberfläche in der Sonne glitzerte. In der Ferne sah ich ein Schwanenpaar. Die Bäume um uns herum tauchten alles in ein sattes Frühlingsgrün, und hier und da entdeckte ich Vögel, die sich am Himmel jagten. Warum sollte ich die Augen vor all dem verschließen? »Bitte, Sam«, flüsterte sie erneut, als spürte sie, dass ich es noch nicht über mich gebracht hatte. »Tu es für Conor.«

Die Worte trafen mich wie ein Dolch mitten ins Herz. »Für Conor?« Ungläubig schüttelte ich den Kopf. Genau wegen ihm brachte ich es nicht zustande. Wir mussten die Welt genießen, wie sie war, wenn wir die Möglichkeit dazu hatten. Ich durfte nicht die Augen schließen und all das hier nicht mehr sehen. Conor würde es hassen, wenn ich mir das entgehen ließ. Ich hasste mich selbst dafür, dass ich sehen konnte und er niemals wieder.

»Ich möchte dir etwas zeigen.« Leenas Stimme war unerwartet fest und duldete keine Widerrede, war aber zeitgleich so einfühlsam, wie ich es noch nie von ihr gehört hatte.

»Okay«, gab ich nach und schloss meine Augen. »Ich sehe nichts mehr.« Meine Stimme brach.

»Was spürst du, Sam?«

»Was?« Verwirrt kniff ich die Augen zusammen. Wollte sie mich foltern?

»Beantworte meine Frage, Sam.«

Ich versuchte, in mich hineinzuhören. »Ich spüre den Steg, auf dem wir sitzen«, zählte ich auf.

»Gut.« Ich glaubte, sie lächeln zu hören. »Was noch?«

»Wind«, nuschelte ich.

»Exakt. Weiter, Sam.«

»Deine Hand.«

Leena neben mir regte sich. »Du kannst es, Sam«, flüsterte sie an mein Ohr und jagte mir dadurch einen Schauer über den Rücken. Und in diesem Augenblick verstand ich.

»Oh Leena«, schluchzte ich und spürte, wie eine einzelne Träne auf der Hand in meinem Schoß landete – meine eigene?

»Gib nicht auf, mach weiter, Sam.«

»I-ich«, stotterte ich, überwältigt von den Emotionen, die auf mich einprasselten. »Ich kann das Wasser riechen. Und die Bäume.« Leena strich mir motivierend über den Oberarm. »Ich höre Vögel, die im Wald verschwinden.« Vorsichtig hob ich eine Hand und fuhr mit dieser sanft über den Holzsteg, auf dem wir saßen. »Ich kann die Maserung des Holzes unter meinen Fingerspitzen fühlen.« Ich atmete mit geöffnetem Mund ein. »Und ich schmecke irgendetwas. Was ist das, Leena?«

»Frühling, Sam. Was du hier schmeckst, ist der Frühling.«

Ich schloss den Mund. »Ich spüre die Wärme der Sonne auf meiner Haut«, erklärte ich weiter. »Danke, Leena«, japste ich, und es war mir egal, dass ich wie ein kleiner Junge wirkte. »Ich höre die sanften Wellen, die ans Ufer stoßen.«

»Erkennst du, was ich dir zeigen will?« Ihre leise Stimme drang direkt in mein Innerstes.

Nickend bestätigte ich. »Du zeigst mir, dass Sehen nicht alles ist, oder?« Ich konnte meine eigenen Worte kaum hören, so leise drangen sie aus meiner zugeschnürten Kehle.

»Ja, Sam. Genau.« Ich spürte, wie sie sich hinter mich kniete, mir ihre Arme um die Schultern legte und mich fest an ihre Brust zog. Vorsichtig wog sie mich vor und zurück, und ich versuchte weiterhin, all die Empfindungen, die auf mich einprasselten, einzufangen. Meine Finger fühlten sich an wie Eisklötze.

Ich ballte die Hände zu Fäusten und wusste, was ich tun musste. »Ich öffne jetzt die Augen«, informierte ich Leena leise, und sie ließ zögerlich von mir ab.

»In Ordnung.«

»Bin gleich wieder da«, nuschelte ich ihr zu und erhob mich wackelig. Meine Beine fühlten sich an wie Pudding, und es kostete mich enorme Anstrengung, dass sie nicht unter mir zusammenklappten. Ich suchte ihren Blick.

»Okay.« Leena lächelte mich unsicher an, ließ sich in einen Schneidersitz nieder. »Ich warte hier auf dich.«

Ich wollte keine Sekunde verstreichen lassen, taumelte den Steg entlang zum Ufer und wählte Conors Handynummer an.

»Komm schon, geh ran«, motzte ich nervös, und mit jedem weiteren Tuten sank mein Mut, bis es in der Leitung knackte und ich Conors Stimme vernahm.

»Hi, Sam«, begrüßte er mich seufzend.

»Conor«, startete ich und entschied, dass die einfachste Art, sich zu entschuldigen, war, sich ganz einfach zu entschuldigen. »Es tut mir leid, kleiner Bruder.«

»Das weiß ich doch«, nuschelte er. »Mir tut es noch viel mehr leid, Sam«, erklärte er.

»Stopp«, unterbrach ich ihn, doch er ließ mich nicht.

»Nein, hör mir zu. Du hattest mich echt hart getroffen, aber weißt du auch, warum? Weil du recht hattest. Weißt du, was mir in den letzten Wochen klar geworden ist?«

Ich schluckte und räusperte mich. »Was?«

»Dass wir es nicht waren, die etwas dafür konnten. Lass uns nie wieder über Dinge streiten, für die wir nichts können. Es lag niemals an dir oder an mir, dass unsere Eltern und alle anderen uns behandelt haben, wie sie es eben getan haben.«

»Ich weiß«, nuschelte ich. »Es tut mir leid, Conor.«

Ich hörte ihn lachen. »Mir mindestens genauso, Bruder.«

»Wieder alles gut?« Ich lächelte und registrierte, dass ich die Augen geschlossen hatte, wie immer, wenn ich mit meinem Bruder telefonierte.

»Mehr als das.«

»Ich komme dich bald wieder besuchen.«

»Bring Leena mit.« Ich konnte hören, dass er breit grinste. »Diese Frau muss ich dringend kennenlernen.«

Ich biss mir grinsend auf die Unterlippe. »Warum?«

»Ich liebe sie einfach jetzt schon«, lachte er in den Hörer, und ich kannte ihn gut genug, um zu wissen, dass er mir den Sinn dahinter nicht verraten würde.

»Okay, ich bringe sie mit«, lenkte ich ein und verdrehte unter meinen gesenkten Lidern die Augen. »Versprochen.«

»Bis bald, Sammy.«

»Bis bald, Nervensäge«, nuschelte ich, nahm das Handy von meinem Ohr und beendete das Gespräch, das keine zwei Minuten gedauert hatte. Keine zwei Minuten, um die Beziehung zu meinem Bruder zu kitten. Ich nahm mir ein paar Augenblicke, ehe ich zu Leena zurückging, sog den herben und zugleich frischen Duft des Waldes in meine Lunge und genoss die zarte Brise, die mir um die Nase wehte.

Leena hatte mich gerettet, obwohl ich doch immer der Superheld sein wollte.