»Was hast du vor, Sam?« Dads Stimme wurde vom Wind zu mir getragen, und ich zuckte vor Schreck zusammen.
Nervös wischte ich meine dreckigen Finger an der Jeans ab und versuchte mich an einem Lächeln, das Dad zu meiner Überraschung erwiderte. »Hi, Dad.« Mir fiel auf, dass er sich seines Anzugs entledigt hatte. Er sah wieder aus wie damals, als wir zu viert Ausflüge unternommen hatten. Seine Beine steckten in einer klassischen Bluejeans, er trug beigefarbene Sneakers und einen alten Wollpullover mit hohem Kragen, als hätte er geahnt, was ich mit ihm vorhatte.
»Wird es das, wonach es aussieht?« Er überbrückte die Distanz zu mir und legte eine Hand auf die Balustrade des Heißluftballons, mit der anderen schirmte er seinen Blick vor der Sonne ab.
»Ja.« Ich schluckte und fühlte mich plötzlich klein. Noch viel kleiner als klein: winzig. War es eine gute Idee, mit Dad hochzusteigen? Das letzte Mal, dass wir beide mit dem Heißluftballon gefahren waren, lag Jahre zurück und war kein Vergnügen gewesen, für niemanden von uns, denn es hatte den Zweck gehabt, es mich zu lehren.
»Okay, Samuel.« Seine Stimme war nach wie vor fest, aber ich sah ihn schlucken. Er checkte die Seile, die ich befestigt hatte. »Perfekt«, kommentierte er meine Vorarbeit. »Wir sind startklar, oder?«
Ich nickte aufgeregt. Nervosität breitete sich in mir aus, was ich für den Start nicht gebrauchen konnte. »Sind wir.« Dad öffnete die Tür und schlüpfte ins Innere, deutete mit dem Kopf neben sich, um mir zu suggerieren einzusteigen. Ich tat es ihm gleich, und er legte hinter mir den Riegel um. Wir griffen zeitgleich zu dem Ventil, um es zu öffnen, wobei sich unsere Hände streiften. Ruckartig zuckten wir zurück, was der Situation eine unangenehme Komik verlieh. Er war mein Dad, und ich war sein Sohn. Wir sollten nicht voreinander zurückschrecken, weil wir uns versehentlich berührten. »Ich das Ventil, du die Sandsäcke?«, schlug ich blitzschnell vor und deutete auf die Gewichte, die heruntergelassen werden müssen, sobald ich das Ventil weiter öffnete.
Dad nickte, und täuschte ich mich, oder erkannte ich einen winzigen Anflug von Stolz in seinem Blick? »So machen wir es.« Ich wandte mich schnell ab, bevor sein undurchschaubarer Blick mich mehr verunsicherte. Dad war anders, als ich dachte. Er sprach ruhig mit mir und überließ mir das Steuer. Konnte es sein, dass ich derjenige war, der all die Jahre ein Monster gesehen hatte, wo vielleicht keins gewesen war? Das ohrenbetäubende Rauschen des Gases umhüllte uns und nahm mir den Druck, sprechen zu müssen. Die nächsten Minuten war es zu laut, um sich miteinander zu unterhalten, was mir half, meine Gedanken zu sortieren. Ich spürte, wie der Korb sich unter uns vom Boden löste, und das geliebte Gefühl der Schwerelosigkeit setzte sich in meinem Magen fest. Viele Jahre hatte ich mir eingeredet, es zu hassen. All das hier zu hassen. Doch das stimmte nicht. Ich hatte meinen Hass mit Angst verwechselt, das erkannte ich nun. Wir stiegen höher, und ich genoss die milde Frühlingsbrise, die mir um die Nase wehte. All die Bäume um uns herum blühten, und es dauerte nicht lang, bis wir ausreichend Höhe erreicht hatten, um die entfernten Blumenfelder zu erkennen, die in den schillerndsten Farben leuchteten. Ich entschied, dass wir hoch genug gestiegen waren, und drosselte die Gaszufuhr, wodurch es ruhiger wurde. Obwohl einem hier oben immer der Wind und das Gas in den Ohren rauschten, konnte man sich nun unterhalten. Dad hatte seine Unterarme locker auf der Brüstung abgelegt, stützte sich ab und ließ den Blick über die Felder gleiten. Man sah ihm an, wie er es liebte, hier zu sein.
Ich räusperte mich, damit Dad zu mir sah, und um zu checken, ob meine Stimme mir den Dienst versagte. »Dad?« Er wandte sich zu mir um, und da war zwar kein Lächeln mehr auf seinem Gesicht, aber auch keine Verurteilung. Genau genommen blickte er mich neugierig an, was ich ihm nicht verübelte, denn ich hatte ihn heute überrumpelt. »Du fragst dich bestimmt, was wir beide hier tun.« Ich realisierte, dass es mir unheimlich schwerfiel, mit ihm zu sprechen, wenn sein Blick mich durchbohrte wie ein Dolch. Kurzerhand setzte ich einen Schritt auf ihn zu und stützte mich auf der Begrenzung ab. Dad verstand und tat es mir gleich, sodass wir uns direkt nebeneinander befanden, jedoch nicht zum Augenkontakt gezwungen waren.
Dad seufzte, und aus dem Augenwinkel sah ich, dass er die Augen schloss und die Sonnenstrahlen auf der Haut genoss. »Richtig.«
»Ich«, begann ich und stöhnte lachend auf. »Ich weiß es selbst nicht so genau.«
Meine Ehrlichkeit entlockte Dad ein Glucksen, aber er erwiderte nichts. Er war schon immer eher der wortkargere Typ gewesen, was einen um den Verstand bringen konnte.
»Dad«, versuchte ich es erneut, kniff die Augen zusammen und bemerkte, wie ich die Hände zu Fäusten ballte. Jeder Muskel, jede Faser in meinem Körper war zum Zerbersten angespannt. Es waren nur wenige Worte, die mir auf der Seele brannten, und doch fiel es mir schwer, sie auszusprechen. Dabei waren es nur Worte. Nichts weiter als Worte. »Es tut mir leid.« Als die Entschuldigung meinen Mund verließ, fühlte ich nichts. Es war, als fiele ich in einen niemals enden wollenden Tunnel ohne Licht, ohne Geräusche und ohne Seelen. Ich wagte es nicht, die Augen zu öffnen, presste die Lider fest aufeinander, auch weil ich bemerkte, wie sich Tränen in ihnen bildeten. Keine Ahnung, ob aus Wut, Trauer oder aus Scham. Meine Gefühle schlugen auf mich ein wie eine Bombe, zu viele, als dass ich sie hätte benennen können.
Ich konnte nicht sagen, wie viel Zeit vergangen war, da es sich wie eine Ewigkeit anfühlte. Plötzlich spürte ich Dads Hand auf meiner Schulter, mit der er mich zu sich herumdrehte. Zögerlich öffnete ich die Augen. Es lag Schmerz in seinem Blick, er wog den Kopf sachte hin und her, atmete schwer aus und zog mich in eine feste Umarmung. Die ersten Sekunden war ich nicht fähig, diese zu erwidern. Als würden meine Arme mir den Dienst versagen, hingen sie wie nasse Säcke an meinen Seiten herab. Als ich die Fassung wiedererlangte, schaffte ich es, sie anzuheben und um Dads Oberkörper zu schlingen. Er war größer, sodass ich die Stirn auf seine Schulter sinken ließ. Nie zuvor hatte ich mich so verletzlich und geborgen zugleich gefühlt. Es verging Minute um Minute, in der wir so dastanden, ohne die Blicke anderer, hoch oben am Himmel, um uns herum die Sonne, die uns erwärmte. Unser beider Puls beruhigte sich, und schließlich fasste mich Dad mit den Händen bei den Oberarmen und drückte mich ein Stück von sich weg, damit sich unsere Blicke wiederfanden.
»Sam«, seufzte er tieftraurig. »Dir muss nichts auf dieser Welt leidtun. Nichts.«
»Aber«, wollte ich protestieren, doch schnitt er mir das Wort ab, indem er den Kopf schüttelte.
»Nein. Mir tut es leid. Einzig und allein mir. Das tat es all die Jahre, nur war ich nie so mutig gewesen wie du heute, und dafür danke ich dir, mein Sohn.«
Beim Wort Sohn drohten mir die Beine wegzuknicken. »Dad«, begann ich, denn ich wollte so vieles sagen und doch so wenig.
»Du warst ein Kind, Sam. Kinder sind niemals die Schuldigen, verstehst du? Niemals.« Dad presste angestrengt die Kiefer aufeinander und legte den Kopf in den Nacken, wie ich es tat, wenn mir die Gedanken zu schwer wurden.
»Okay«, flüsterte ich, was er unmöglich hatte hören können.
»Komm.« Dad wandte sich der Balustrade zu und klopfte auf den Platz neben sich. »Lass uns diesen Maitag genießen, bis die Sonne ihre Kraft verliert.«
Ich nickte und stellte mich neben ihn. Ohne ein weiteres Wort zu sagen, legte Dad seinen Arm um meine Schultern und zog mich ein Stückchen näher zu sich heran. Diese Geste heilte mehr zwischen uns, als Worte es jemals hätten tun können. Und doch hatte Leena recht gehabt, denn ganz ohne Worte wäre es niemals dazu gekommen.
»Wow!« Die Einfahrt zu Sams Elternhaus war innerhalb der letzten Wochen noch schöner geworden. Sämtliche Bäume waren ergrünt, und die Frühlingsblumen sprossen miteinander um die Wette aus der Erde. Der blumig frische Duft wehte mir in die Nase, der, gepaart mit dem Lavender Latte, den ich bei Anne geholt hatte, einfach himmlisch war. Für Sam hatte ich ebenfalls einen, und ich hoffte, dass die Thermo-To-go-Becher dicht hielten. Ungelenk versuchte ich, den Oberkörper zu drehen, um in mein hinteres Körbchen zu schielen, und atmete erleichtert auf. Nichts war ausgelaufen. Mit jedem Meter, dem ich dem Anwesen, denn als Haus konnte man es kaum bezeichnen, näher kam, rumorte es gefährlicher in meinem Magen. Wieso hatte ich ihm zugesagt, ihn abzuholen? Was, wenn ich seinen Eltern über den Weg lief? Die dachten womöglich, ich wäre verwirrt oder eine Einbrecherin. Oder eine verwirrte Einbrecherin, die Kaffee mitbrachte? Seit ich den Stadtkern Saint Mellows’ verlassen hatte, war mir ein Heißluftballon am Himmel aufgefallen, und langsam beschlich mich das Gefühl, dass Sam dort oben war, denn er verfolgte mich. Wirklich! Immer, wenn ich den Blick gen Himmel richtete, war es, als fliege er direkt über mir. Und jetzt erschien es, als verlor er an Höhe. Garantiert war Sam an Bord. Die Reifen meines Fahrrads knirschten auf dem Kies, ein Geräusch, das ich liebte. Knapp hundert Meter vor den Garagen betätigte ich die Bremse, die so laut quietschte, dass jeder im Umkreis von zehn Meilen es gehört haben musste. Ich wollte die letzten Meter zu Fuß gehen, was daran lag, dass sich meine Knie immer mehr in Wackelpudding verwandelten, je näher ich kam. Nicht auszumalen, wenn ich vom Sattel gekippt wäre und unsere Getränke über den Kies verteilt hätte.
Als ich fast auf Höhe der Garagen war, vernahm ich das Geräusch eines anrollenden Autos und wandte mich um. »Oh nein, ach, verdammt«, fluchte ich. Wenn ich mich recht erinnerte, war es das Auto, das vor Conors Haus gestanden hatte. Es war Sams Mom. Wusste sie überhaupt von mir? Wie begrüßte man die Mutter des Freundes, wenn man keine Ahnung hatte, ob sie von der eigenen Existenz wusste? »Beruhige dich, Leena«, schalt ich mich selbst und atmete tief durch.
Das Auto hielt nicht weit von mir an. Eine hochgewachsene, hübsche Frau stieg aus und schenkte mir ein breites Lächeln, als würden wir uns seit Jahren kennen. Sie hatte die gleiche blonde Haarfarbe wie Sam und war unverkennbar seine Mom. Seltsam, dass sie mir nie zuvor aufgefallen war, wo Saint Mellows doch so ein Kaff war.
»Hi, du musst Leena sein?« Statt auf mich zuzukommen, umrundete sie ihr Auto, öffnete den Kofferraum und wechselte ihre Sneakers gegen Pumps. Sicherheit gegen Stil.
Verdattert krampfte ich die Finger um den Fahrradlenker und musste mich daran erinnern, wie man sprach. »J-ja«, stotterte ich und atmete durch. »Hi, ich bin Leena«, stellte ich mich vor und winkte ihr unbeholfen zu, obwohl sie keine fünf Meter von mir entfernt stand.
»Möchtest du mit uns zu Abend essen, Leena?«
»Ich wollte eigentlich Sam abholen«, erklärte ich schulterzuckend und erinnerte mich daran, dass es unhöflich war, eine Essenseinladung auszuschlagen. »Ich weiß nicht, was Sam vorhat, aber ansonsten gern«, lächelte ich scheu und spürte, wie mir die Hitze zu Kopf stieg. Ich war ausgesprochen dankbar für den Fahrradlenker, an den ich mich klammern konnte.
»Prima, ich bin übrigens Lydia Forsters, aber nenn mich gern Liddy«, stellte sie sich ebenfalls vor. Sie schritt zur Beifahrerseite ihres Autos, und erst jetzt sah ich, dass dort jemand saß. Sie klopfte sachte gegen die Scheibe, ehe sie die Autotür öffnete. »Möchtest du nicht aussteigen, Schatz?« Sie lachte scheinbar verwundert darüber, dass die Person nicht von selbst ausgestiegen war. Sie entgegnete etwas, das ich nicht verstand, und in diesem Moment kapierte ich, dass es sich dabei um Conor handelte. Oh mein Gott, Sam ließ mich heute lachend in die Kreissäge rennen. Neue Leute kennenzulernen, war ein Graus für mich, und gerade bei seiner Familie hätte ich ihn schon gern an meiner Seite gehabt.
»Ich gehe schon mal rein und bereite das Essen vor«, trällerte Liddy, winkte mir zu und eilte unglaublich elegant zum Hauseingang. Hätte ich Pumps getragen, wäre ich auf dem steinigen Boden garantiert mit jedem Schritt umgeknickt.
»Okay«, rief ich ihr hinterher und schüttelte den Kopf über mich selbst. Wie standen die Chancen, dass sie mich nicht für komplett plemplem hielt? Und wo, verdammt, war Sam? Ich richtete den Blick erneut zum Himmel und erschrak, da der Heißluftballon tief flog. Für mich als Laien sah es aus, als würde er direkt auf das Anwesen krachen.
»Ach du Scheiße«, quiekte ich und riss den Blick vom Ballon los, da ich die Autotür zuschlagen hörte. Okay, das war Conor. Auch wenn ich bisher kein Foto von ihm gesehen hatte, war sofort klar, dass er es war. Er klappte einen Blindenstock aus, was mich dermaßen einschüchterte, dass ich die Luft anhielt. Was ich damit bezweckte, war mir unklar.
Mit überragend sicherem Gang machte er sich auf zur Haustür, und mir fiel ein Stein vom Herzen. Ich war nicht bereit dafür, ihn kennenzulernen. Hier und jetzt, so ganz allein. Ohne Sam. Ich beobachtete Conor und fühlte mich dabei wie ein Voyeur. War es falsch von mir? Garantiert. Doch anders, als ich gehofft hatte, schlüpfte er nicht durch die Haustür, sondern ließ sich auf den Stufen davor nieder. Er klappte den Stock zusammen, warf den Kopf in den Nacken, genauso wie Sam es oft tat und atmete tief durch.
»Willst du nicht herkommen?«, rief er in meine Richtung, und vor Schreck hätte ich fast das Fahrrad losgelassen. Meinte er mich? Schluckend und mucksmäuschenstill lehnte ich mein Rad gegen das Garagentor. »Leena?« Er klang amüsiert, was meine Scheu eindämmte. Ich schloss für einen Moment die Augen, straffte die Schultern und atmete tief ein, wobei ich mich um ein Haar an meiner eigenen Spucke verschluckt hätte.
»Ähm, ich komme«, rief ich und schnappte mir meinen Rucksack sowie die beiden Thermobecher mit dem Lavender Latte. Meine Schritte knirschten verräterisch auf dem Kies, was ich begrüßte, denn so hörte er genau, wann ich vor ihm stand.
»Setz dich.« Er lächelte und blickte mir zielgenau ins Gesicht, als könnte er mich wirklich sehen, was mir nahezu die Luft raubte. Er verfehlte meine Augen nur um Millimeter. »Leena?« Conor klopfte direkt auf die Treppenstufe neben sich, und ich schüttelte den Kopf über mein unsicheres Verhalten.
»Sorry, klar, ja, ich setze mich hin«, erklärte ich ihm, was vermutlich nicht nötig gewesen wäre, da er meine Bewegungen hören und den Luftzug spüren musste.
»Ist das ein Lavender Latte von Anne?« Er sog gierig stöhnend die Luft ein und tippelte mit seinen Fingern auf seiner schwarzen Jeans herum. Er sah Sam ähnlich, war aber ein ganzes Stück größer als er.
»Jep«, grinste ich und entschied intuitiv, ihm den Kaffee zu geben, den ich ursprünglich für Sam mitgebracht hatte. »Hier«, ich hielt ihm den vollen Becher hin, unsicher, ob ich ihm das Getränk direkt in die Hand geben oder es diskret auf seinem Bein abstellen sollte, bis er danach griff. Warum lernte man nicht in der Schule, wie man sich gegenüber beeinträchtigten Menschen verhielt, ohne sie vor den Kopf zu stoßen? Denn das war das Letzte, das ich wollte. »Den habe ich für Sam mitgebracht, aber du kannst ihn gern haben.«
Er hob seine Hand an und formte mit dieser ein U, sodass ich ihm den Becher direkt hineingeben konnte, wobei ich darauf achtete, diesen mit der Trinköffnung an seinem Daumen zu positionieren. »Danke«, lächelte er in meine Richtung, hob den Kaffee zu seinem Mund und nahm einen Schluck. Stöhnend schüttelte er den Kopf. »Keine Ahnung, wie lang ich keinen Lavender Latte von Anne mehr getrunken habe«, sinnierte er und griff mit der zweiten Hand nach dem Becher, hielt ihn locker zwischen seinen Beinen.
Ein wenig schämte ich mich dafür, ihn anzustarren. »Ich liebe ihn«, grinste ich und riss meinen Blick schließlich von ihm los, damit es mir müheloser war, mit ihm zu reden.
»Wen?«, lachte Conor unvermittelt. »Den Lavender Latte oder Sam?«
Es war, als hätte jemand einen Eimer eiskalten Wassers über mir ausgekippt, und ich schnappte erschrocken nach Luft, verkrampfte die Finger um meinen Becher und schluckte. »Ich …«, nuschelte ich. »Beide?« Meine Stimme war kaum mehr als ein Hauchen.
Conor lachte und stupste mich federleicht mit seiner Schulter an. »Ich necke dich nur, das machen jüngere Brüder, weißt du?«
Irgendetwas an seiner Art sorgte dafür, dass ich sofort wieder auftaute. »Daran muss ich mich dann wohl gewöhnen.«
»Hör mal.« Conor räusperte sich. »Ich weiß zwar nicht, was genau du angestellt hast, aber ich danke dir.«
Perplex zog ich die Augenbrauen hoch und spürte, wie mein Gesicht knallrot anlief, da mir heiß wurde. »Wofür?«
»Das weiß ich nicht genau«, lachte er, und ich konnte nicht anders, als in sein Lachen einzusteigen.
»Na dann: gern geschehen«, blödelte ich und nahm ebenfalls einen großen Schluck von meinem Heißgetränk.
»Nein ehrlich, ich glaube, du bist das Beste, das Sam hätte passieren können.« Aus dem Augenwinkel sah ich, wie er mir das Gesicht zuwandte. Er lächelte aufrichtig, sodass mir das Herz schwer wurde.
»Sam hat mich genauso gerettet«, flüsterte ich und realisierte meine Worte in dem Moment, in dem ich sie ausgesprochen hatte. Es entsprach der Wahrheit. Sam hatte mich aus einem Trott herausgeholt, von dem ich geglaubt hatte, ihn zu lieben.
»So soll es sein.« Conor lächelte mich an, und für den Bruchteil einer Sekunde war ich tieftraurig, dass er nicht sah, wie ich sein Lächeln erwiderte.
»So soll es sein«, wiederholte ich seine Worte mit einem Lächeln auf den Lippen und in der Stimme. »So soll es sein.«
Behutsam drückte ich meine Zimmertür hinter uns ins Schloss und ließ mich erschöpft seufzend dagegensinken.
»Es tut mir unendlich leid«, versicherte ich Leena mit einem Lächeln, die sich allerdings kaum für meine Entschuldigung interessierte und stattdessen den Raum in Augenschein nahm. Sie war noch nie hier gewesen, und ich entschloss mich, ihr morgen das ganze Haus zu zeigen.
»Schon okay«, lächelte sie mir kurz zu und zuckte mit den Schultern. »Sie haben sich alle Mühe gegeben, oder?« Sie fuhr mit ihren Fingerspitzen sanft über meine Bettdecke und ließ sich auf die Bettkante plumpsen, die leicht zurück federte. »Deine Mom ist wunderbar, Sam.«
Ich nickte, und mein Atem stockte. »Ist sie.«
»Was ist los?« Leena bedachte mich mit schief gelegtem Kopf und zog die Augenbrauen ein Stück zusammen.
»Ich hasse es, so viel Zeit mit ihnen verloren zu haben«, gab ich zu, löste mich von der Tür und schlenderte zu ihr herüber, um mich an ihre Seite fallen zu lassen. Ich griff nach ihrer Hand und umschloss sie mit meinen. Nachdem Dad und ich gelandet waren, hatte ich Leena neben Conor auf unseren Eingangsstufen sitzend vorgefunden. Die beiden hatten sich unbeschwert unterhalten, ja sogar gelacht. Ich hatte keine Ahnung, dass Conor vorgehabt hatte, nach Hause zu kommen. Wie viele Überraschungen passten in einen einzigen Tag? Wie viele Wendungen und Gefühle?
»Aber der heutige Abend war ein Schritt in die richtige Richtung, oder?« Leena wandte sich um, suchte meinen Blick.
»Wie meinst du das?« Perplex hob ich einen Mundwinkel.
»Wann saßt ihr denn zuletzt als Familie am Tisch, habt gegessen und euch unterhalten?« Sie stupste mich lächelnd in die Seite. »Ich fand es schön, euch alle so zu sehen, auch wenn ich vor Nervosität kaum etwas herunterbekommen habe.«
Lachend warf ich den Kopf in den Nacken. »Und da ist dir wirklich was entgangen, Moms Vier-Käse-Nudeln sind die besten der Welt.«
»Vielleicht darf ich sie irgendwann noch einmal probieren«, feixte Leena und streckte mir die Zunge heraus. Wie vom Blitz getroffen schoss mein Puls in die Höhe. Jetzt. Genau jetzt war der richtige Zeitpunkt, ihr von meinen Neuigkeiten zu erzählen, die ich seit Tagen für mich behielt, weil ich nicht wusste, wie ich sie ihr verkünden sollte. Ich wollte, dass sie die Erste war, die von meinen Plänen erfuhr, denn sie war es, die die Samen dafür in meinen Kopf gepflanzt hatte, ohne es zu ahnen. »Sam?« Leena runzelte die Stirn und zog einen Mundwinkel nach oben. »Alles okay? Du bist so blass, als hättest du einen Geist gesehen«, lachte sie verlegen, und mir fiel auf, dass sie ihre Hand nicht angehoben hatte, um ihre Zahnlücke zu verbergen. Diese kleinen Details liebte ich so sehr. Ich liebte es zu sehen, wie sie zu sich selbst wurde, sich akzeptierte. Wir hatten nie über unsere gemeinsame Zukunft gesprochen, obwohl es klar war, dass ich nicht bis in alle Ewigkeit in meinem Elternhaus bleiben und von meinem Ersparten leben konnte. Das wollte ich nicht.
Räuspernd senkte ich den Blick auf unsere ineinander verschlungenen Hände und drückte ihre fest, bevor ich sprach. »Ich war auf Jobsuche«, murmelte ich und spürte, wie sich Leena neben mir versteifte.
»Du gehst?«, hauchte sie, und ich hörte, dass sie den Tränen nahe war.
Lächelnd hob ich meine freie Hand an, um ihr Kinn anzuheben, damit sie mir in die Augen sah. Langsam schüttelte ich den Kopf und realisierte, dass meine Finger nicht nur eiskalt wurden, sondern auch zitterten. »Nein, Leena«, flüsterte ich. »Ich werde bleiben, in Saint Mellows.«
Verdattert starrte sie mich an, die Verwirrung stand ihr mitten ins Gesicht geschrieben. »Aber, wie? Wo willst du arbeiten? Ich habe oft darüber nachgedacht. Du wirst wohl kaum im Reifenladen jobben, oder als Aushilfe bei Anne. Und für das Käseblatt der Stadt bist du zu gut. Du darfst deine Karriere nicht wegen mir vernachlässigen, du hast so viel geschafft. Außerdem …« Ich legte ihr schmunzelnd einen Finger auf die Lippen, damit sie verstummte.
»Sch-Sch, Spitzenhöschen«, beruhigte ich sie und verschloss den Mund, um mein Lächeln zu unterdrücken. »Ich habe mir einen Redaktionsjob eines unabhängigen, landesweiten Online-Magazins verschafft, bei dem Kyle auch seit Kurzem arbeitet«, erklärte ich ihr und glaubte meinen eigenen Worten kaum, denn es war die beste Chance meines Lebens.
»Landesweit«, wiederholte Leena argwöhnisch, als würde sie die Lunte riechen. »Und das geht von Saint Mellows aus?«
»Ja. Und nein«, gab ich zu und fuhr mir genierlich mit der Hand durch die Haare.
»Um Himmels willen, Samuel Forsters, jetzt kläre mich endlich auf und lass dir nicht jede Information einzeln aus der Nase ziehen.« Erbost funkelte sie mich an, und ich konnte mir ein Lachen ob ihrer Ungeduld nicht verkneifen.
»Okay, okay.« Ich atmete tief ein und streckte den Rücken durch. »Ich werde auf Recherchereisen sein, aber nie lang. Die meiste Zeit werde ich hier sein. Bei dir. In Saint Mellows. Und ich habe den Wunsch, Dad im Familienunternehmen unter die Arme zu greifen.« Ich stockte kurz. »Vorausgesetzt, er nimmt meine Hilfe an.«
»Auf Reisen«, wiederholte Leena, als würde sich ihr der Sinn dieser Worte erst offenbaren, wenn sie sie aussprach. »Deinem Dad helfen.«
»Was sagst du dazu?« Die Nervosität saß mir in den Knochen, und es sprühte dieser kleine Funken Angst in mir, dass ihre Reaktion nicht ausfallen würde, wie ich es mir erhoffte.
»Oh Sam. Das ist viel mehr, als ich mir für uns hätte wünschen können.« Eine einzelne Träne suchte sich ihren Weg über Leenas Wange und mündete in ihrem Mundwinkel. Sie wischte sie weg und kicherte. »Ich glaube, die Chancen stehen gut, dass ich noch öfter in den Genuss der Vier-Käse-Nudeln deiner Mom komme, oder?«
Ich gab ihre Hand frei, um ihr meinen Arm um die Schultern zu legen, ließ mich rücklings auf das Bett fallen und zog sie mit mir. »Ich glaube, Mom, Dad und Conor lieben dich«, flüsterte ich an ihr Ohr und registrierte ihr leises Japsen mit Genugtuung.
Leena drehte sich auf die Seite, sodass ihr Mund an der empfindlichen Stelle unter meinem Ohr lag. »Und ich weiß mit Sicherheit, dass sie dich lieben, Sam. Das tun wir alle«, hauchte sie die Worte im Flüsterton, weil sie nur für mich bestimmt waren.