1939–1945

In dem Sommer vor Kriegsbeginn, als die Safiers in Wien nur für das Nötigste die Wohnung verließen, ging die drei Jahre alte Waltraut in Bremen jedes Wochenende mit der Familie zum Waller See. So auch an diesem heißen Augusttag. Papa Hinrich lag in der prallen Sonne, seine Haut bereits gefährlich gerötet. So erholte er sich am liebsten von den harten Schichten auf der Deschimag-Werft, die für ihn und seine Tischlerkumpanen nur ‹Use Akschen› hieß und auf der sie Holz für die vielen neuen U-Boote zurechtsägten. Ab und zu richtete Hinrich sich auf, um eine Flasche Bier mit den Zähnen zu öffnen, was die kleine Waltraut und ihren fünf Jahre älteren Bruder Klaus immer wieder zum Lachen brachte.

Diesmal lachte auch Friedrich mit. Er war so alt wie Waltraut, wirkte aber zarter als sie. Er war mit Tante Brigitte zu Besuch in Bremen, die eigentlich keine echte Tante war, sondern die Base von Waltrauts Mama Henriette.

Während Tante Brigitte im blauen Badeanzug dasaß und sogar eine neumodische Sonnenbrille aufgesetzt hatte, trug die blasse Mama einen Schlapphut und ein langärmeliges Kleid. Sie mochte die gleißende Sonne nicht und wollte eigentlich immer, dass die Familie ihr Lager im Schatten aufschlug. Doch sie konnte sich nie gegen ihren Hinrich durchsetzen, der sie wegen ihrer Sonnenallergie einmal vor den Kindern Nosferatu genannt hatte. Als Waltraut daraufhin fragte: «Was ist Nosssferratuuu?», verbat Henriette ihrem Mann, den Kindern zu erklären, was ein Vampir ist. Die Kleinen sollten keine Albträume bekommen.

Tante Brigitte hörte bei mitgebrachtem Filterkaffee nicht auf, Henriette davon zu erzählen, wie das Leben in deren beider Heimatstadt Essen jährlich besser wurde, seitdem die Nationalsozialisten das Ruder übernommen hatten und ihr Schorsch bei der Stern-Brauerei Arbeit gefunden hatte. Schorsch erhielt die Kästen sogar zum Vorzugspreis.

«Dann soll er mal», lachte Hinrich, «ein paar mitbringen!» Er richtete sich auf und sagte zu seinen Kindern: «Wir gehen jetzt baden.»

«Au ja!», rief Klaus, der sich über jede gemeinsame Aktion mit seinem Papa freute, waren sie doch so selten.

Die kleine Waltraut war weniger begeistert. Sie mochte es nicht, dass Papa die Kinder gerne in die Höhe warf und oft sogar auch ins Wasser. Klaus konnte schwimmen, aber sie musste vom Vater dann immer herausgezogen werden, damit sie nicht ertrank.

«Friedrich bleibt bei den Handtüchern», sagte Tante Brigitte, «mein Kleiner ist noch zu schwach nach der Lungenentzündung.»

«Der Knabe fängt sich aber auch ständig etwas ein», antwortete Papa ohne Mitgefühl.

«Hinrich!», schimpfte die Mama, aber Papa ging nicht darauf ein und rief seinen Kindern zu: «Der Letzte im Wasser ist ein Friedrich!»

Papa rannte los. Klaus folgte. Die kleine Waltraut aber blieb bei den Handtüchern und sah Friedrich an. Er verstand anscheinend nicht, dass ihr Papa ihn gerade gemein behandelt hatte, und dennoch hätte sie am liebsten seine Hand genommen, um ihn zu trösten. Stattdessen setzte sie sich hin und nuckelte. An ihrem Zeigefinger. Sie war das einzige Kleinkind in Bremen-Walle, das dafür nie den Daumen benutzte.

Nach einer halben Stunde rief Mama Henriette mit ihrem zarten Stimmchen: «Zeit für die Stullen.» Aber Hinrich und Klaus hörten sie nicht, der Vater warf den Sohn gerade besonders weit ins Wasser. Daher stellte sich Tante Brigitte auf und brüllte, so laut sie konnte: «Hinrich! Klaus! Stullleeen!»

Der kleine Friedrich hielt sich neben ihr die Ohren zu. Mama Henriette reichte ihm ein Brot mit Leberwurst; Waltraut, die auf einem kleinen Handtuch neben ihm saß, fand, das Brot roch eklig. Kein Wunder, der Essenskorb lag doch schon seit einer Weile in der Sonne, nur bedeckt mit einem weißen Handtuch.

«Wer als Letzter bei den Handtüchern ist», rief Hinrich, «ist ein Friedrich!»

Waltraut fand ihren Vater so gemein.

Sie sah zu Friedrich, der an der Wurststulle mehr lutschte als aß. Sie schmeckte ihm nicht, aber er traute sich nicht, etwas zu sagen.

Waltraut nuckelte wieder am Zeigefinger.

Hinrich und Klaus liefen aus dem Wasser. Dabei wartete der Papa nicht auf seinen vom Schwimmen erschöpften Sohn. Der sollte sich ruhig anstrengen, um mitzuhalten. Wie sollte sonst ein Mann aus ihm werden?

Klaus bemühte sich nach Leibeskräften, aber schon nach den ersten Schritten war der Rückstand zu groß. Das ärgerte ihn. Er wollte so sein wie Papa! Dem Kleinen schossen die Tränen in die Augen. Er hörte auf zu laufen und schlurfte nur noch durch den Sand. Hinrich rief ihm zu: «Mach nicht schlapp, kleiner Mann!»

Klaus rannte wieder los, vielleicht könnte er doch noch aufholen, aber Hinrich lief sogar noch schneller und warf sich lachend auf das Handtuch. Klaus trottete daraufhin beschämt und mit den Tränen ringend zu den anderen. Als er ankam, fragte Friedrich ihn mit vollem Mund: «Wollen wir nachher Ball spielen?»

Tante Brigitte wandte sich zu ihrem Sohn: «Du solltest dich nicht so anstrengen, du solltest lieber …»

Bevor sie weitersprechen konnte, trat Klaus voller Wut gegen Friedrichs Ball. Der flog weit weg. Vor Schreck fing Friedrich an zu weinen.

Waltraut hörte auf zu nuckeln, sie erhob sich, nahm sich eine Stulle aus dem Korb und warf sie ihrem großen Bruder an den Kopf.

Hinrich lachte, als die Unterseite mit der Leberwurst an Klaus’ Stirn klebte, während die andere Hälfte über seine Nase rutschte und zu Boden fiel. Brigitte musste sich ebenfalls ein Grinsen verkneifen, nur Mama Henriette schimpfte: «Waltraut!» Im Gegensatz zu Hinrich hatte sie ihrer Tochter nie den Spitznamen Traudel gegeben, sondern sie immer nur Waltraut genannt. Mal lieb, mal streng wie jetzt. Sie hatte den Namen damals ausgesucht, weil sie dachte, dass er für eine starke und mutige Frau stand: die, die sich in den Wald traut! Dass der Name sich aus den Worten ‹waltan› und ‹trud› herleitete – stark und Herrscherin – und deswegen für eine starke, mutige Frau stand, wusste Henriette nicht. Wie auch? Sie war nur sechs Jahre in der Schule gewesen, bevor sie in der Bäckerei der Eltern mit hatte anpacken müssen. Aber stark sollte Waltraut sein. Musste sie sein! Nicht so wie Karla, die 1933 im Alter von nur fünf Monaten an dem, was die Ärzte ‹Epidemische Genickstarre› nannten, gestorben war.

Klaus’ Kopf wurde knallrot. Er wischte sich das Brot von der Stirn und pfefferte Waltraut eine Ohrfeige.

Waltraut war noch nie geschlagen worden.

Ihr kamen die Tränen, aber sie wollte auf gar keinen Fall heulen. Nicht vor allen anderen. Nicht vor Klaus. Schon gar nicht vor Friedrich, der vor lauter Schreck über die Ereignisse aufgehört hatte zu weinen. Waltraut machte die Augen zu, um die Tränen zurückzuhalten. Sie spürte, wie sie hinter den Lidern brannten.

«Deine Kleine», sagte Tante Brigitte zu ihrer Mama, «ist keine Heulsuse.»

«Die ist eine Löwin», lachte Papa Hinrich.

Löwin – das gefiel Waltraut.

Und besonders, dass ihr Papa stolz auf sie war.

***

Kein Safier ging nach Panama. Alle Anträge auf Ausreise waren abgeschmettert worden. Aber Rosl bekam überraschend die Möglichkeit, nach Palästina zu gehen. Weil sie in der Betar war und Dr. Perl, Rechtsanwalt und langjähriges Mitglied der zionistischen Organisation, es wie durch ein Wunder geschafft hatte, für 386 junge Juden Visa für Griechenland zu erhalten. Von einer Insel bei Athen sollte es weiter ins Gelobte Land gehen mit einem Schiff namens ‹Artemissia›. Die letzten Kilometer müssten die jungen Menschen schwimmen, um illegal einzuwandern – keine Reise für Alte.

Rosl hatte gejubelt, als sie davon erfahren hatte. Dass sie ihren Ehemann verließ, betrübte sie kaum. Auch schämte sie sich nicht, die Eltern allein zu lassen, wie Joschi es getan hätte. Mama und Papa freuten sich über Rosls Fluchtmöglichkeit. Als sie sich von ihnen in der Rotensterngasse 23 verabschiedete, umarmten sich alle und es flossen Tränen. Dann ließ Rosl sich von ihrem Paul zum Wiener Bahnhof kutschieren, mit Joschi auf der Rückbank.

Von überallher strömten junge Juden zum Bahnhof. Jeder nur mit einem Rucksack, mehr durften sie nicht mitbringen. Die Rucksäcke hatten die Eltern mit allem Sinnigen und Unsinnigen bis zum Bersten gefüllt. Mama Scheindel hatte für ihre Tochter einen mäßig genießbaren Kuchen gebacken, den sie an die Mitreisenden verteilen würde.

Rosl stieg aus dem Wagen, gab Paul noch einen Kuss, und die beiden versprachen sich gegenseitig, dass sie sich wiedersehen würden. Sie drückte Joschi an sich und versprach ihm ebenfalls, ihn wiederzusehen. Er vermochte nicht daran zu glauben.

Rosl ging, wie Hunderte Betar-Mitglieder auch, beschwingt in das Bahnhofsgebäude. Joschi beschloss, ihr zu folgen, um die Abreise zu beobachten. Es war ihm zwar verboten, den Bahnhof zu betreten – die Nazis hatten zur Bedingung gemacht, dass die Operation unter dem Radar lief –, aber wenn einer geschickt darin war, sich ohne Befugnis irgendwo Zutritt zu verschaffen, dann war das ja wohl er.

Joschi sah, wie ein Pressefotograf abgefangen wurde. Die Polizisten nahmen dem Mann die Kamera ab, und Joschi nutzte das Durcheinander, um unbemerkt vorbeizuhuschen.

Im Bahnhof stand der Zug für die Betar zur Abfahrt bereit. Die aufgekratzten jungen Menschen stiegen ein und suchten sich Plätze. Joschi versteckte sich auf einem anderen Bahnsteig hinter einer Werbewand, auf der eine gemalte blonde Frau einen weißen Pelz in der Hand hielt und ‹Global› anpries, das Motten und Mottenbrut tötete. Von hier aus konnte er die ganze Szenerie gut überblicken.

SS -Leute betraten das Gleis und stiegen auf ein extra für diesen Anlass erbautes Podest. Joschis Atem stockte, als er ihren Anführer erkannte. Es war Adolf Eichmann. Der Mann, in dessen Händen das Schicksal eines jeden Juden in Wien lag.

Mit einem Mal rief eine Stimme auf Hebräisch: «Amdu Dom!» – Achtung. Und gleich darauf «Tzeh hachutza!» – Tretet heraus.

Die Juden kamen aus den Wagen.

«Amdu be’arba Schurot!»

Die jungen Menschen bildeten Viererreihen. Wie Soldaten. Das hatten sie trainiert. Für den Kampf um Israel.

Die Deutschen schienen von dem Vorgang verblüfft zu sein. Juden, die militärische Disziplin an den Tag legten, passten nicht in ihr Weltbild.

Joschi suchte in der Menge nach seiner Schwester und fand sie schließlich. Sie stand ganz hinten in einer der Reihen. Irgendwann, so schoss es ihm in den Sinn, würde sie vielleicht ganze Einheiten führen.

Dr. Perl, der sein Werk ‹Operation Aktion› getauft hatte, wagte es, eine kurze Ansprache zu halten, obwohl doch Eichmann und seine Männer hinter ihm auf dem Podest standen: «Ihr geht, aber ihr werdet gleichzeitig zu Hause ankommen. Ihr verlasst das Land, in dem ihr eine Minderheit seid, mal besser behandelt, mal schlechter, aber immer eine Minderheit. Ihr geht heim in das Land, das Gott uns versprochen hat. Ihr werdet stolze Menschen sein in einem stolzen Land. Und eines Tages werdet ihr einen Jüdischen Staat errichten. Wenn ihr die Station hier verlasst, werdet ihr ein Land und eine Bevölkerung zurücklassen, die euch nicht wollen, auf dem Weg zu Brüdern und Schwestern, die sich nach euch sehnen. Ein glückliches Nachhausekommen! Eine glückliche Alija!»

Alija – Joschi wusste, dass es Rückkehr bedeutete, aber auch Aufstieg. In diesem Fall in eine andere Welt.

Es war das erste Mal, dass Joschi sich nach Palästina sehnte.

Einen Moment lang war alles still. Gewiss war es noch nie in einem Bahnhof so still gewesen.

Und dann begann ein Mädchen glockenhell die ‹Hatikvah› zu singen – die Hoffnung. In Sekunden stimmten alle mit ein. Laut. Schmetternd. Vom Dach des Bahnhofs zurückschallend. Und die Nazis erschütternd. Selbst Eichmann. Joschi sang leise mit.

Als der Gesang endete, bestiegen die jungen Menschen wieder die Wagen. Eichmann tupfte sich die Stirn ab und verließ mit seinen Männern das Gleis, noch bevor der Zug sich in Bewegung setzte. Fast so, als würden sie fliehen. Dr. Perl ging erst weg, nachdem der Zug den Bahnhof verlassen hatte. Nur Joschi, nun ganz allein in dem Gebäude, blickte seiner Schwester noch lange nach, selbst als nichts mehr von dem Zug zu sehen war.

Hatikvah. Joschi hatte wieder Hoffnung.

***

Waltraut kritzelte bei leichtem Herbstwind und wolkenverhangenem Himmel mit Kreide auf dem Gehweg herum, zusammen mit Hilde aus der Nachbarstraße, die im Gegensatz zu ihr schon schöne Sonnen malen konnte.

Ein Lastwagen brauste an den kleinen Arbeiterhäuschen vorbei. Auf seiner offenen Laderampe standen Männer, die für Waltraut alle wie Zwillinge aussahen: Sie trugen die gleichen Stiefel, Hosen, Hemden und Mützen. Die rot-weißen Armbinden waren das einzig Bunte an ihnen. Der Wagen hielt etwa zwanzig Meter weiter auf der anderen Straßenseite. Waltraut und Hilde hörten auf zu malen. Die Männer sprangen von der Ladefläche und der Fahrer mit seinen beiden Sitznachbarn aus dem Führerhaus. Sie liefen auf das Haus von Herrn und Frau Lange zu.

Die kleine Frau Lange war eine liebe Frau, sie schenkte Waltraut, Hilde, Klaus und den anderen Kindern immer mal wieder Süßigkeiten, anstatt sie anzumeckern wie der alte Herr Schuster. Einmal hatte sie Waltraut sogar eine Babbelerstange gegeben, an der Waltraut so lange lutschen konnte, dass sie darüber für mehr als eine Stunde ihren Zeigefinger vergaß. Papa Hinrich störte sich zunehmend daran, dass sie mit fast vier Jahren noch immer nuckelte, und verlangte von seiner Frau, dem Kind die schlechte Angewohnheit endlich abzugewöhnen, sonst würde er es tun.

Die Männer bildeten vor dem Haus einen Pulk, und zwei von ihnen hämmerten gegen die Tür. Niemand öffnete. Sie hämmerten lauter und riefen «Aufmachen!». Niemand öffnete. Einer trat gegen die Tür. Einmal. Zweimal. Dreimal. Da wurde sie von innen aufgemacht, und Frau Lange wirkte im Windfang noch viel kleiner als sonst. Sie schien Angst zu haben. Genau wie Herr Lange, der neben sie trat und ganz bleich im Gesicht war.

Waltraut begann an ihrem Zeigefinger zu nuckeln.

«Wo ist er?», brüllten gleich einige der Männer die Langes an.

Die zitterten.

Einer der Männer schlug Frau Lange ins Gesicht. Sie taumelte, konnte aber von ihrem Mann gestützt werden.

Hilde stand auf und lief nach Hause. Waltraut aber blieb auf dem Gehweg sitzen und beobachtete, was vor sich ging. Sie war halt eine Löwin.

Herr Lange deutete stumm ins Haus und sagte dabei etwas, das Waltraut nicht verstehen konnte. Die Männer stürmten ins Haus, nur ein paar zerrten die Langes zum Laster und befahlen ihnen, auf die Ladefläche zu klettern.

Waltraut bemerkte, dass in den Nachbarhäusern Menschen an ihren Fenstern standen, um zuzuschauen. Da hörte sie aus dem Haus der Langes Schreie. Und hinter ihr, wie sich die Tür öffnete und die Mama herauslief.

Die Männer zerrten einen blutenden Mann auf die Straße. Seine Kleidung und sein Gesicht waren fast ganz schwarz. War das der Schornsteinfeger, der immer Glück brachte, wenn man ihn anfasste, und Waltraut auch mal mit seinem Finger einen schwarzen Fleck auf die Nase gepinselt hatte?

«Der Scheißjude hat sich im Kamin versteckt!», brüllte einer der Männer. Andere versetzten dem Mann Schläge mit dem Knüppel.

Mamas Hand legte sich von hinten über Waltrauts Augen. Die Mama hob sie hoch und trug sie ins Haus. Dabei hörte Waltraut die Schreie des Mannes, bis auch die verklangen und nur noch die Knüppelschläge zu hören waren. Mama schloss hinter ihnen die Tür und trug sie die schmale Treppe hoch in das kleine Zimmerchen mit den Schrägen, in dem sie und Klaus ihre Betten hatten. Auf der Kommode stand ein kleines gerahmtes Bild von Waltrauts im Säuglingsalter verstorbener Schwester Karla.

«Kommen die Männer», Waltraut hatte so große Angst, dass sie kaum weitersprechen konnte, «auch zu … uns …?»

«Nein, nein, nein. Das verspreche ich dir», sagte Mama, setzte Waltraut auf ihr Bettchen und gab ihr den kleinen grauen Teddy, an dessen Ohren Waltraut immer herumknabberte, wenn Papa ihr verbot, am Zeigefinger zu nuckeln.

«Was wollten die von dem Mann?», nuschelte Waltraut mit dem Teddy-Ohr im Mund.

Mama antwortete nicht, schien zu überlegen. Waltraut schaute sie ängstlich an. Schließlich sagte die Mama: «Ich verrate dir ein Geheimnis.»

«Was die mit dem Mann machen?», Waltraut knabberte weiter an dem Teddy-Ohr.

«Nein, ein ganz anderes Geheimnis.»

«Was für eins?» Waltraut ließ vom Teddy ab.

«Du und ich sind Adelige.»

«Was sind Adelige?»

«Du kennst doch König, Königin, Prinz und Prinzessin.»

«Ja.»

«Und wir beide sind so was Ähnliches.»

«Ich bin eine Prinzessin?», staunte Waltraut.

«Fast. Eine Gräfin.»

Waltraut lächelte unsicher.

«Eine Gräfin lebt auch in einem Schloss.»

«Aber ich lebe doch gar nicht in einem Schloss.» Waltraut hatte Schlösser, Burgen und Prinzessinnen auf den Bildern in ihrem Märchenbuch gesehen, aus dem Mama ihr so gerne vorlas.

«Dass wir nicht in einem Schloss leben, liegt an mir.»

«Wieso?»

«Mein Papa ist ein Graf. Er lebt auf einem Schloss in der Nähe von Essen …»

«Da, wo Friedrich wohnt», unterbrach Waltraut ihre Mama.

«Genau.»

«Wohnt Friedrich in einem Schloss?»

«Nein, er nicht. Aber mein Papa.»

«Und warum du nicht?»

«Mein Papa hat mich verstoßen.»

«Er hat dich gestoßen?», staunte Waltraut.

«Verstoßen. Das bedeutet, er will mich nie wieder sehen und ich darf nie wieder auf das Schloss.»

«Warum?»

«Weil ich mich in einen Mann verliebt habe, der kein Adeliger ist.»

«Papa?»

«Papa», lächelte die Mama. «Ich musste mich entscheiden zwischen einem Leben im Schloss und der Liebe. Und ich habe mich für die Liebe entschieden.»

«Vermisst du das Schloss nicht?»

«Nein, ich habe doch euch.» Mama drückte Waltraut an sich.

«Können wir mal zu dem Schloss fahren?»

«Ich habe dir ja gesagt, ich bin verstoßen worden. Mein Vater lässt mich nie wieder rein.»

«Aber vielleicht mich», hoffte Waltraut.

«Nein, dich auch nicht.»

Waltraut war enttäuscht. Aber bevor sie wieder an dem Ohr des Teddys knabbern konnte, sagte Mama: «Aber du musst dennoch daran denken: Du bist etwas ganz Besonderes.»

«Eine Löwin …?», fragte Waltraut.

«Das auch», lachte Mama. «Aber vor allem eine Adelige. Du bist etwas Besseres als die anderen. Und du bist stark», ihr Blick wanderte zu dem Säuglingsfoto von Karla.

«Ich bin stark», fand auch Waltraut.

«Weil adeliges Blut in dir fließt.»

«Ich bin die Prinzessin unter den Löwen», sagte Waltraut, und Mama lachte erneut: «Die Gräfin.»

«Gräfin unter den Löwen», bestätigte Waltraut.

«Du musst mir aber eins versprechen.»

«Was denn?»

«Dass das unser Geheimnis bleibt. Papa darf nie erfahren, dass ich meinen Adelstitel und mein altes Leben für ihn aufgegeben habe. Und Klaus darf es auch nicht erfahren, sonst sagt er es sofort Papa.»

«Ich sage nichts.»

«Schwöre es.»

«Ich schwöre es!», versprach Waltraut mit dem heiligen Ernst eines knapp vierjährigen Mädchens.

***

Joschi sah vom Fenster aus, wie jüdische Männer von Polizisten mit Hakenkreuzbinden aus den Häusern der Rotensterngasse heraus- und in einen der Arrestwagen, im Volksmund grüner Heinrich genannt, hineingetrieben wurden. Er erkannte Stoppelmann, den Schuster. Grünwald, der beim ‹SC Hakoah Wien› Tore geschossen hatte, als man das noch durfte. Kurtzberg, der stolz darauf war, seit über dreißig Jahren keine Synagoge mehr von innen gesehen zu haben …

Selbstverständlich dachte Joschi darüber nach zu fliehen. Über den Hinterhof, von da über den Zaun, ins Haus gegenüber und von dort wieder heraus auf die Odeongasse. Und wohin dann? Außerdem: Sollten die Polizisten ihn bei dem Versuch erwischen, würden sie ihn gewiss einbuchten oder gar erschießen. Bliebe er aber, bestand immerhin die Möglichkeit, dass nur seine Personalien festgestellt wurden und sie ihn am gleichen Tag wieder auf freien Fuß setzen würden. Schließlich war er, im Gegensatz zu Rosl, nie Mitglied irgendeiner politischen Organisation gewesen.

Joschi trat vom Fenster weg in den Flur. Papa hatte bereits seinen besten Anzug angezogen. Wenn die Polizei ihn mitnahm, wollte er nicht wie ein armer Jude aussehen, sondern wie ein respektabler Bürger. Joschi brachte es nicht übers Herz, seinem Vater zu erklären, dass sie beide sich kleiden konnten, wie sie wollten: Respektable Bürger sahen nicht aus wie die Safiers, sondern wie Hedys Vater. Und selbst der wurde nicht von den Nazis respektiert.

Joschi ging in das kleine Zimmer, das er sich früher mit Rosl geteilt hatte, und zog sich seine Anzugjacke über. Da trat Mama Scheindel zu ihm und sagte: «Gib akhtik oif dayn tatte.»

Joschi antwortete nicht. Auf den Vater aufpassen – so eine Bitte hatte sie noch nie formuliert. Seine Welt hatte sich verkehrt: Nicht mehr der Vater war es, der auf den Sohn aufpassen sollte. Der Sohn sollte seinen Vater beschützen.

Joschi nickte. Ihr aber reichte das bloße Nicken nicht als Bestätigung. Sie nahm seine Hand fest in die ihre und sah ihm tief in die Augen.

«Ikh vel gebn akhtik oif im», versprach Joschi auf Jiddisch. Im Gegensatz zu seiner Schwester hatte er nie etwas dagegen gehabt, dass die Eltern mit den Kindern in der Heimatsprache redeten.

Vom Treppenhaus her hörte man Schritte.

Scheindel umklammerte seine Hand so fest, dass es Joschi schon wehtat. Ihm war klar, dass es ihr dabei nicht mehr um Papa ging, sondern sie ihn einfach nicht loslassen wollte, in der Hoffnung, dass die Polizisten ihren Sohn dann nicht mitnehmen würden.

«Zey kimen!», rief der Vater aus dem Flur. Joschi löste sanft ihren Griff und ging zu seinem Vater, dessen Gesicht ganz bleich war.

Die Polizisten hämmerten an die Wohnungstür. Joschis Vater war vor lauter Angst nicht in der Lage, sie zu öffnen. Scheindel machte einen Schritt Richtung Tür – wie immer, wenn der Vater nicht weiterwusste, nahm sie die Dinge in die Hand. Doch Joschi ließ nicht zu, dass seine Mutter sich in Gefahr brachte: «Bleyb!», sagte er streng und öffnete die Tür.

«Mitkommen!», befahl ein Gestapomann im Trenchcoat, hinter dem drei Polizisten standen.

Joschi wollte der Aufforderung ohne Zögern nachkommen. Je mehr er kooperierte, so dachte er, desto besser standen seine Chancen, heute Nachmittag wieder zu Hause zu sein. Er ging zu den Männern, doch sein Vater stand wie paralysiert da.

«Seid ihr taub? Mitkommen, habe ich gesagt!»

Joschi nahm seinen Vater an die Hand, und die beiden Safier-Männer verließen die Wohnung.

 

Beim grünen Heinrich angekommen, keimte in Joschi die Hoffnung auf, dass sie gar nicht mitfahren müssten: Der Wagen war schon voll.

«Rein da!», befahl einer der Polizisten.

«Aber …», begann Joschi mit einem zaghaften Protest, doch der Polizist hob seinen Knüppel. Joschi sagte nichts mehr und quetschte sich mit aller Macht in das Fahrzeug. Kaum hatte er sich den Platz erkämpft, half er seinem Vater. Die Tür wurde ihnen vor der Nase zugeschlagen und der grüne Heinrich brauste los.

Die zusammengepferchten Männer schwiegen. Vielen, insbesondere den älteren, stand der Schweiß auf der Stirn. Der von Joschis Papa roch beißend – Angstschweiß.

‹Gib akhtik oif dayn tatte.›

Joschi nahm seine Hand. Sie fühlte sich zerbrechlich an.

«Nicht in die Wälder, nicht in die Wälder», murmelte Kurtzberg, der etwas weiter hinter im Wagen stand, vor sich hin. Die Wälder. In ihnen wurden Juden mit Maschinenpistolen erschossen.

‹Ich war nie in einer politischen Organisation›, versuchte sich Joschi in Gedanken zu beruhigen, ‹Ich war nie in einer politischen Organisation, sie werden mich nicht in die Wälder bringen und erschießen …› Und als sein Blick auf seinen Vater fiel, korrigierte er sich: ‹ … uns beide nicht in die Wälder bringen, wir waren beiden nie in einer politischen Organisation …›

Als sie nach kurzer Zeit an einer Polizeistation aus dem Wagen herausgetrieben wurden, war Joschi kurz erleichtert, keinen Wald zu sehen und nicht an einen Baum gestellt zu werden. Beim eiligen Gang in das Gebäude hielt er die Nähe zu seinem Vater. Für einige Schritte schaffte er es sogar, erneut die Hand des verstörten Israel zu ergreifen. Doch kaum waren sie die Treppe hinab in den Zellentrakt gegangen, wurde Papa von ihm getrennt und mit den meisten anderen Männern in eine Zelle gepresst. Joschi wollte ihm folgen, doch ein Polizist machte die Metalltür vor seiner Nase zu und schloss ab.

«Da ist mein Vater drin …», protestierte Joschi. Aber der Polizist schubste ihn voran. Gemeinsam mit dem Atheisten Kurtzberg und einem glatzköpfigen Mann, den Joschi nie zuvor gesehen hatte, ging es für ihn in die Zelle gegenüber. Auch diese war bis zum Bersten voll. Als die Tür verriegelt wurde, stand Joschi keine fünf Zentimeter von ihr entfernt. Er konnte das Metall riechen. Durch das kleine Gitterfenster versuchte er, die Zelle gegenüber zu erspähen, in der Hoffnung, sein Vater würde ebenfalls durch das Fenster blicken.

Er tat es nicht.

‹Gib akhtik oif dayn tatte.›

 

Es vergingen Stunden, ohne dass etwas geschah. Joschis Beine taten weh. Sich hinzusetzen, war unmöglich, da es so eng war. Etwas weiter hinter ihm nässte sich ein Mann ein und begann zu weinen. Auch Joschi musste dringend.

Kurz darauf fiel ein alter Herr in Ohnmacht. Es gab nicht genug Platz, um ihn auf den Boden zu legen, so hielten ihn zwei Männer aufrecht.

Hoffentlich hatte Papa noch Kraft, hoffentlich musste er nicht weinen.

Von draußen hörte Joschi, wie sich die Stiefelschritte eines Polizisten näherten. Würde er etwas zum Essen bringen? Oder wenigstens Wasser? Oder ihnen die Möglichkeit geben, sich zu erleichtern? Nein, natürlich würde der Polizist jemanden zum Verhör holen.

‹Ich war nie in einer politischen Organisation, ich war nie in einer politischen Organisation …›

Würden sie ihm das glauben?

Oder ihn schlagen, bis er nicht einmal mehr das sagen konnte?

Besser ihn als Papa.

Die Schritte kamen genau vor Joschis Zellentür zum Stehen. Der Mann war nur noch durch die Metalltür von Joschi getrennt. Der Schlüssel wurde ins Schloss gesteckt, gedreht und die Tür geöffnet. Ein Polizist mit müden Augen zeigte auf Joschi, Kurtzberg und den Glatzkopf: «Ihr drei! Raus!»

Sie taten, wie ihnen geheißen.

Der Polizist schloss die Tür wieder ab. Es war unheimlich still in dem Gefängnisgang, obwohl gewiss alle Zellen voll waren mit Männern.

«Es merkt keiner, wenn ihr drei fehlt», sagte der Polizist.

Worauf wollte der Mann hinaus?

Sollten sie etwa in den Wald gebracht werden?

Nur weil sie vorne in der Zelle gestanden hatten?

«Ich bring euch raus, und dann rennt ihr davon.»

Erst jetzt fiel Joschi auf: Der Polizist trug keine Hakenkreuzbinde. Er wollte sie retten.

Joschi wollte fragen, ob er nicht auch die Zelle gegenüber öffnen konnte. Das letzte Mal, als er seinen Vater gesehen hatte, stand er doch auch ziemlich weit vorne. Der Polizist schien zu erraten, was Joschi dachte, und zischte: «Mehr als drei fallen auf.» Er ging eiligen Schritts voran. Kurtzberg und der Glatzkopf hinterher. Joschi zögerte kurz, dann schloss er auf.

Auf dem ganzen Weg bis zur nächsten Straßenecke wurden die Männer und der Polizist nicht aufgehalten. Dort angekommen, verabschiedete sich der Retter hastig, und die drei Juden gingen getrennte Wege. Zum Abschied sagte Kurtzberg noch: «Gut, dass wir vorne standen.»

 

Joschi verbrachte die Nacht im Prater unter einer Bierbank. Er dachte an seinen Vater. Wie er sein Versprechen an die Mutter nicht hatte halten können. Er dachte auch an Hedy und ihren ersten gemeinsamen Abend, erst hier auf dem Pratergelände und anschließend in der Wohnung am Ring. An das nicht geborene Kind, das er in seinen Gedanken Henoch genannt hatte. Es gab so viel, wofür er sich schämte. Zum ersten Mal seit seiner Kindheit betete er außerhalb einer Synagoge. Dafür, dass auch sein Papa freigelassen würde.

 

Noch vor Tagesanbruch stahl Joschi sich nach Hause. An Mama Scheindels Blick erkannte er, dass Papa noch nicht nach Hause gekommen war. Sein Gebet war nicht erhört worden.

 

 

Den Winter über versteckte Joschi sich im Keller und wurde von Mama Scheindel mit Nahrung und Decken versorgt. Eine Woche, in der er hohes Fieber hatte, auch mit Medikamenten. Jedes Mal, wenn ein Nachbar nach unten kam, hielt er den Atem an. Es wohnten immer mehr Gojim im Haus.

Eines Vormittags kam Scheindel zu ihm herunter, keine Stunde nachdem sie ihm das Frühstück – eine Semmel mit frischer Marmelade – gebracht hatte. Dabei war doch auch für sie jeder Gang in den Keller ein Risiko. Ihr Gesicht war aschfahl, und sie trug eine Urne in der Hand. Zwei Beamte hatten die Überreste des Vaters gebracht. Er war im Konzentrationslager Buchenwald gestorben. Sie hatte auch ein Schriftstück erhalten, auf dem stand: ‹Der Jude Israel Safier, geboren zum 1.2.84 zu Dębica, eingeliefert am 2.10.39, ist heute um 2:10 Uhr an Herzschwäche bei Herzfehler gestorben.› Unterzeichnet war es vom 1. Schutzhaftlagerführer, einem SS -Obersturmbannführer, dessen Unterschrift man nicht entziffern konnte.

Herzschwäche.

Bei Herzfehler.

Im Alter von 55 Jahren.

Joschi mochte sich nicht ausmalen, was der wahre Grund war.

Die Beamten hatten auch einen Kostenbescheid dabei. Für die Einäscherung, Urne, Überführung und Verwaltungskosten. Mama hatte ihn nicht vollständig bezahlen können. Ab jetzt musste sie Schulden bei der Verwaltung abstottern.

‹Gib akhtik oif dayn tatte.›

Und er konnte nicht mal seine Mutter zum Begräbnis auf dem Wiener Zentralfriedhof begleiten.

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Waltraut wollte nicht mit nach Essen. Sie hatte keine Lust auf eine lange Bahnfahrt, obwohl sie gar nicht wusste, was genau eine lange Bahnfahrt war. Nur, dass Essen nicht zu Hause war. Aber Mama hatte gesagt, dass ihre Base Gesellschaft brauchte, jetzt wo ihr Mann an der Front und sie allein mit dem kleinen Friedrich war.

Auf der Fahrt wurde Waltraut prompt schlecht. Am liebsten hätte sie gespuckt, doch ihr Bruder Klaus zog sie so sehr damit auf, dass sie es sich bis hinter Dortmund verkniffen hatte. Irgendwann jedoch wird so ein Geruckel selbst einer Löwin zu viel.

Abends bei Brigitte angekommen, mussten die Kinder dann brav am Tisch sitzen und Schnitzel mit Bratkartoffeln essen, bis der Teller leer war und Waltraut am liebsten wieder gespuckt hätte. Da half es auch nichts, dass Mama ihr das Fleisch ganz klein geschnitten hatte. Zum Essen tranken die Frauen Bier aus der Brauerei, in der Friedrichs Vater vor dem Krieg gearbeitet hatte, und Brigitte plapperte, wie stolz sie auf ihren Mann war, der in Polen als Soldat das schöne Silberbesteck, mit dem sie aßen, Juden günstig abgekauft hatte. Henriette erzählte von ihrem Hinrich, wie er sich auf der Werft kaputtarbeitete. In der Tat kam Papa immer später nach Hause, aber Waltraut und Klaus hatte er erzählt, dass man nach harter Arbeit nun mal mit den anderen von der Schicht noch einen heben ging. Das hatte man sich verdient.

Nach dem Abendbrot durften die Kinder noch ein wenig aufbleiben. Waltraut sah zu, wie die beiden Jungs mit drei Spielzeugautos ‹Einmarsch› spielten. Zwei Autos fuhren nach Paris und hauten dem anderen Auto auf das Dach. Klaus hämmerte besonders doll. Friedrich hatte anfangs noch Spaß, doch als Klaus einem Polizeiauto das Rad abschlug, gab es zwischen den Jungs ein Gerangel, bei dem Klaus eins der Autos so wegschleuderte, dass eine große Bodenvase umfiel und auf dem Dielenboden zersprang. Klaus wurde bleicher als Waltraut im Zug. Brigitte schimpfte erst die Kinder aus und dann Henriette, sie solle gefälligst das teure Ding bezahlen. Gleich darauf wurden alle Kinder zum Schlafen geschickt.

Als Waltraut mit ihrer Mama im Bad war, um sich bettfertig zu machen, merkte sie, wie traurig die Mama war.

«Was hast du, Mama?»

«Papa wird wütend sein wegen der Vase.»

«Aber das war doch Klaus und nicht du …»

«Aber wir werden das bezahlen müssen.»

«Warum fragst du nicht deinen Papa, ob er eine neue kauft?»

«Ich habe dir doch erklärt, dass er mich verstoßen hat, weil ich deinen Papa geheiratet habe.»

«Aber dein Papa ist doch ein Graf …»

«Nichts aber.» Mama gab Waltraut einen Kuss auf die Stirn, der ihr bedeutete, sie solle aufhören zu reden. Im Flur wartete Brigitte: «Friedrich will nicht, dass Klaus mit in seinem Bettchen schläft.»

«Wir passen aber nicht alle zusammen in euer Ehebett: Waltraut, Klaus, du und ich.»

«Dann schläft eben die Traudel bei Friedrich.»

Und so lag Waltraut neben Friedrich. Gemeinsam unter einer großen Decke.

Brigitte machte das Licht aus. Die Mütter gingen in den Flur, und kaum hatten sie die Tür hinter sich zugemacht, fing Friedrich leise an zu weinen. Nach einer Weile fragte Waltraut: «Bist du noch traurig wegen dem Auto?»

Friedrich antwortete nicht.

«Klaus ist eben doof.»

Friedrich schluchzte.

«Morgen hauen wir ihm ein Auto auf den Kopf.»

«Es ist nicht Klaus …»

«Was denn?»

«Ich will meinen Papa wiederhaben.»

Waltraut wusste nicht, was sie darauf antworten sollte.

Friedrich schluchzte weiter.

«Weißt du, was ich spiele, wenn ich traurig bin?»

«Nein», brachte Friedrich hervor.

«Schloss.»

«Schloss?»

«Ich setze mich hin und ziehe mir die Decke über den Kopf.»

Genau das tat sie mit der großen Decke, sodass Friedrich ohne dalag.

«Komm mit drunter.»

Friedrich krabbelte zu ihr, und die Decke bedeckte sie wie ein Zelt.

«Und nun leben wir in einem Schloss.»

Friedrich hörte auf zu weinen. Und die beiden spielten leise Graf und Gräfin, bis sie einschliefen.

***

Endlich konnte Joschi den Keller verlassen. Rosl hatte mit ihren Verbindungen von Palästina aus dafür gesorgt, dass auch er mit der ‹Operation Aktion› aus Wien fliehen konnte. Seine Schwester war eine Wunderwerkerin, ein Teufelsweib!

Joschi stand vor Mama Scheindel im Flur und überprüfte zum wohl zwanzigsten Mal, ob er das Visum für Griechenland auch wirklich in der Innentasche seines Jacketts verstaut hatte.

«Ti akhtik oif dir», bat Scheindel ihn, auf sich aufzupassen. Nie hatte sie ihm vorgeworfen, dass er beim Vater versagt hatte. Er selbst hatte den Tag der Verhaftung tausendfach in Gedanken durchgespielt und sich gefragt, was er anders hätte machen können. Oft hatte er sich ausgemalt, wie er einen Aufstand der jüdischen Männer, die in den grünen Heinrich gepfercht wurden, angezettelt hätte. Sie waren doch so viel mehr als die Polizisten gewesen. Diese Fantasien endeten stets damit, dass sie alle im Wald erschossen wurden.

«Hast gehört, Joschi?», sprach sie nun bemüht auf Deutsch, um ihrem Wunsch Nachdruck zu verleihen.

«Ja, ich passe auf mich auf, Mama.»

Beim Abschied von Rosl hatte Mama Scheindel noch geweint. Jetzt stand sie nur da. Müde. Zerbrechlich.

«Mir veln zikh vider trefn», sagte Joschi und glaubte dabei selbst nicht an ein solches Wiedersehen. Er ließ seine Mutter zurück in der Stadt der Ungeheuer. Ungeheuer, die im Begriff waren, Europa zu erobern. Und wer wusste schon, wozu sie noch alles fähig waren? Sie hatten schon seinen Papa ins Lager gesteckt und dort vermutlich zu Tode geprügelt. Oder ihn verhungern lassen. Oder ihn erst so gut wie verhungern lassen und dann zu Tode geprügelt. Die Ungeheuer machten auch vor Frauen nicht halt.

Joschi wollte seine Mutter beschützen. Er konnte es nicht. Würde er sie nun umarmen, um ihr Halt zu geben, wäre dies nur ein weiteres falsches Versprechen.

Scheindel streichelte ihm über die Wange und sagte: «Leb a git leben.»

Ein gutes Leben. Joschi lächelte. Seine Mama dachte nie an sich. Lebte für die Kinder. Manchmal hatte sich Joschi gedacht – und Rosl hatte es sogar gelegentlich ausgesprochen –, dass seine Mama den Vater nur geheiratet hatte, weil sie Kinder haben wollte und der einfache Mann für sie, die sechs Jahre älter war als er, die letzte Gelegenheit war, noch welche zu bekommen.

Kinder.

Hedy.

Henoch.

Vielleicht würde er in Palästina Kinder haben.

Vielleicht würde das Land dann auch schon den Namen Israel tragen.

Und ein Sohn von ihm würde dann nicht wie sein Großvater Henoch heißen, sondern ebenfalls Israel, wie der neue Staat. Wie sein Vater. Vielleicht würde der Kleine gar am gleichen Tag Geburtstag haben wie Joschi und sein Papa. Er hätte diesen geliebten Sohn gemeinsam mit einer Frau, die das Kind liebte, so wie Mama Scheindel ihn und Rosl. Das wäre ein gutes Leben.

«Ikh hob dir lib, mame», sagte Joschi. Er hatte das nicht mehr zu ihr gesagt, seit er ein Bub war.

In Scheindels fahles Gesicht kam ein wenig Farbe und in ihre Augen etwas Leben. Sie lächelte sogar, als sie sagte: «Ikh hob dir oykh lib.»

Joschi trat aus der Tür und blickte sich nicht mehr um. Er wollte seine Mutter lächelnd in Erinnerung behalten.

 

Im Gegensatz zu Rosl verließ Joschi Wien nicht mit dem Zug, sondern mit der ‹Donaudampfschifffahrtsgesellschaft›. 1090 Juden verteilten sich auf zwei Schiffe, die mit Hakenkreuzfahnen beflaggt waren. Als Joschi auf dem Anleger zu der bereits überfüllten ‹Minerva› stand, protestierten die Juden, dass sie auf das zweite Schiff, die ‹Grein›, wollten. Als Antwort brüllte ein SS -Mann: «Entweder ihr fahrt über die Donau oder ihr landet in der Donau.» Joschi quetschte sich mit den anderen auf das Deck. Dort endeten, trotz der Beflaggung, die Regeln der Nazis und es galten die der ‹Operation Aktion›: Alle Flüchtlinge wurden in Gruppen von 50 Personen eingeteilt und mussten den Anweisungen des jeweiligen Zugführers folgen – in Joschis Gruppe war das eine lockige Schwarzhaarige mit riesengroßer, dicker Brille namens Sarah. Sollte jemand sich widersetzen oder Frauen belästigen oder andere Mitreisende attackieren oder gar eine Waffe an Bord schmuggeln, würde es harte Strafen setzen bis hin zum Aussetzen an Land. Aber wie alle an Bord fühlte Joschi sich mit dem Betreten des Schiffes frei, und das, obwohl sie sich noch in Österreich befanden. Das Schiff legte ab, und wie bei Rosls Abreise sangen viele der jungen Juden die ‹Hatikvah›. Joschi sang die ersten Zeilen mit, brach aber wieder ab. Er schämte sich dafür, seine Freude herauszuschmettern, obwohl er seine Mutter zurückließ.

 

Während der Donaufahrt sah Joschi idyllische Flusstäler, hohe Wälder und Schlösser. Immer wieder dachte er, dass die Welt offenbar auch jenseits von Wien schön war. Doch jedes Mal, wenn er davon tagträumte, in so einem idyllischen Tal, so einem Wald oder so einem Schloss zu leben, wurde der Ort von Männern gestürmt, die ihn und seinen Vater festnahmen und ihn zu Tode prügelten.

Joschi sah auch Städte, von denen er bisher nur gehört hatte: Pressburg, Budapest, Belgrad … und zahlreiche Städte, deren Namen er nie noch gehört hatte: Komárno, Paksch, Vukovar … An jeder der Anlegestellen jener Städte, die noch nicht von den Nazis unterjocht waren, standen Hunderte von Juden und jubelten den Reisenden auf ihrem Weg ins Gelobte Land zu.

«Arme Schweine», hörte Joschi an der Anlegestelle von Paksch eine Stimme hinter sich sagen. Er drehte sich um und erblickte den größten Juden, dem er je begegnet war. Der Kerl war zugleich auch der kräftigste. Und der rothaarigste. Er sah aus, als hätte sich in den Zweigen seines Stammbaums ein Wikinger befunden. Von der Erscheinung war Joschi so verblüfft, dass er nicht einmal eingeschüchtert sein konnte. Der Goliath sagte: «Besser die bleiben an Land als wir.»

Es klang hartherzig. Und dennoch war es genau das, was Joschi beim Anblick der jubelnden Juden empfand. Er war davon überzeugt, dass es nur eine Frage der Zeit sein konnte, bis auch sie gedemütigt, geschlagen, gar getötet wurden.

«Wie heißt du?», fragte der Goliath.

«Josef Safier.»

«Isaak Berg.»

«Es gibt unpassendere Namen.»

«Isaak?»

«Berg», lächelte Joschi und dachte, dass seine neue Bekanntschaft offenbar nicht die hellste Kerze im Chanukkaleuchter war.

«Ich weiß. Hab dich auf den Arm genommen. Bist wohl nicht die hellste Kerze im Chanukkaleuchter.»

Joschi musste laut lachen. Das hatte er seit Monaten nicht getan. Und es machte ihn so dankbar, dass er dem Rothaarigen anbot: «Willst du ein Stück Kuchen? Ich hab noch was übrig.»

«Essen ist immer gut.»

«Der Kuchen ist es allerdings nicht.»

«Wieso bietest du ihn mir dann an?»

«Meine Mutter hat ihn mir eingepackt.»

«Dann ist es mir eine Ehre, ihn zu essen», antwortete Isaak aufrichtig. In diesem Augenblick wusste Joschi, dass er einen Freund gefunden hatte.

 

Die Schiffsreise auf der Donau mit der ‹Donaudampfschifffahrtsgesellschaft› endete im rumänischen Galatz. Dort stiegen die Flüchtlinge in die extra für die Reise umgebauten Frachter ‹Draga II › und ‹Ely›. Im Bauch der Schiffe waren Drei-Stock-Betten aufgestellt, dabei wurden für jeden Mitreisenden 75 Zentimeter Breite einkalkuliert. Um den Platz perfekt auszunutzen, gab es nur wenige Gänge zwischen den Betten. Joschi und Isaak mussten in der ‹Draga II › über sechs andere, mit grauen Decken belegte Holzplatten klettern, wenn sie von den bereits nach einem Tag stinkenden Toiletten zurückkehrten. Die Mitreisenden waren davon nicht begeistert, insbesondere wenn sich Isaak über sie wälzte. Nur Sarah, die Anführerin von Joschis Zug, kicherte jedes Mal, wenn er bei ihr vorbeikam. Denn Joschi machte ihr immer charmante Komplimente: ob sie mit ihrer Schönheit schon mal über eine Karriere beim Film nachgedacht hatte. Dass ihr wunderbarer Duft den fürchterlichen Gestank im Schiff vergessen ließ. Wie sehr er sich wünschte, er wäre ein großer Sänger, dann würde er ein Lied über ihre schönen Beine singen.

Nichts davon meinte Joschi ernst, Sarah war höchstens als hübsch zu bezeichnen, wenn sie die dicke Brille absetzte, und im Vergleich zu Hedy nicht einmal dann. Isaak zog ihn sogar auf: «Hör auf, so zu lügen, sonst biegen sich noch die Balken und das Schiff geht unter.»

Doch Joschi hörte nicht damit auf. Es gefiel ihm, eine Frau zu becircen und damit ihr und sich selbst Freude zu bereiten.

Wie fast alle Juden im Schiffsbauch war auch Joschi noch nie auf Hoher See gewesen. Im Gegensatz zu den meisten wurde er jedoch nicht seekrank. Hätte Joschi nicht oben in dem Dreistockbett gelegen, wäre er von Isaaks Erbrochenem mehr als einmal getroffen worden. So bekam es vor allem Raffa ab, ein tausendprozentiger Zionist, der im Nachbarstockbett schräg unter ihnen lag.

Da Joschis neuer Freund bei Weitem nicht der Einzige war, der sich übergab – Sarah zum Beispiel stand ihm in nichts nach –, stank es im schwankenden Frachtraum bestialisch, was das Spucken wie eine Krankheit um sich greifen ließ.

Joschi, der selbst über sich erstaunt war, wie gut er alles wegsteckte, sah es als seine Aufgabe an, Isaak aufzumuntern und die Umliegenden gleich mit. Er erzählte ihnen von Palästina, von der Freiheit, die sie erwartete, und dass es nicht mehr lange dauern würde, bis sie diese genießen könnten. Doch Joschi munterte damit niemanden auf, weil er zwar eine vage Vorstellung vom Gelobten Land hatte, aber eigentlich keine Ahnung, was sie dort erwarten würde. Genauso schlecht hätte er von China fabulieren können. Als ihm nichts mehr einfiel, beschloss Joschi, Witze zu erzählen: «Moskowitz sitzt beim Kartenspiel im Café. Der Ober sagt: ‹Herr Moskowitz, Ihre Frau lässt Sie ans Telefon bitten.› Moskowitz antwortet: ‹Lässt bitten? Das kann nicht meine Frau sein.›»

Oder: «‹Ich mach jetzt eine Hormonkur›, erzählt Moskowitz. ‹Das ist doch für die Katz›, meint Gebirtig. Und Moskowitz antwortet: ‹Nein. Ich mach sie für meine Alte.›»

Oder: «Moskowitz erzählt: ‹Ich habe Goebbels gesehen. Er sieht aus wie Apol…› Gebirtig unterbricht und schimpft: ‹Bist du wahnsinnig? Wie Apollo? Der Krüppel?› Aber Moskowitz beschwichtigt: ‹Lass mich ausreden! Er sieht aus wie a pol nischer Jud.›»

Die Witze linderten das Leid mehr, als es die Schilderungen von Palästina je hätten tun können.

 

Joschis Zug war gegen Mittag an der Reihe mit dem Deckgang. Von den fünfzig Männern und Frauen der Einheit waren nur neun in der Lage aufzustehen, und davon nur drei, inklusive Joschi, frei von Übelkeit. Oben angekommen, sah er zum ersten Mal das Meer, dessen Farbe von Dunkel- bis Hellblau changierte, je nach Wetterlage. Die Weite, der Geruch, der Wellengang – all dies ließ Joschi ruhig werden. Er dachte an nichts mehr. Nicht an Wien. Nicht an Rosl. Nicht an Mama Scheindel. Nicht an den ermordeten Vater Israel. An rein gar nichts.

Es tat so gut.

Nach einer Weile vermischte sich ein weiterer wunderbarer Geruch mit dem des Meeres: der einer Zigarette. Als Joschi sich bewusst wurde, was er da roch, sah er zur Seite: Etwa zehn Meter entfernt qualmte ein Mann. Er hatte ein vernarbtes Auge und gehörte zu einer kleinen Gruppe, die in Dachau gewesen war und von den Nazis auf diesen Transport gesetzt wurde.

Jetzt musste Joschi doch wieder an seinen Vater denken. Er kramte sich eine Zigarettenpackung aus der Hosentasche. Es war nur noch eine Kippe drin, und Joschi hatte sich eigentlich vorgenommen, sie erst nach der Landung in Palästina zu rauchen. Er steckte sie an, nahm einen tiefen Zug, noch einen und noch einen, bis er von Rauch erfüllt war, und dankte Hedy, dass sie ihm dieses wundervolle Laster beigebracht hatte.

Hedy.

Wie es ihr wohl erging? Hatte sie von Paris aus mit ihren Eltern weiterfliehen können? Doch wohin? Amerika nahm niemanden mehr auf. Das Meer nach England wurde von den Nazis kontrolliert.

Joschi ertappte sich bei dem Gedanken, dass es gut gewesen war, dass Hedys Vater ihn nicht hatte mitnehmen wollen. Und wohl auch, dass sie das Kind hatte wegmachen lassen.

Joschi musste an jenen Augenblick zurückdenken, als ihm Hedy von dem Entschluss dazu erzählt hatte. Er versuchte sich daran zu erinnern, ob sie dabei Tränen in den Augen gehabt hatte. Egal wie sehr er seine Erinnerung bemühte, er konnte es nicht sagen. Das entsetzte ihn, denn er hatte diese Frau so sehr geliebt, und dennoch verblasste die Erinnerung an sie. Er wusste noch, wie wunderbar ihr Parfüm roch, und auch, wie er sich bei ihren Begegnungen gefühlt hatte – im Prater, bei der ersten gemeinsamen Nacht bei ihr zu Hause, im Wienerwald –, doch er konnte sich nicht mehr entsinnen, ob ihr linkes oder ihr rechtes Auge einen Grünstich besaß. Und wie spitz ihr Kinn gewesen war? Und ob das Kleid bei ihrer ersten Begegnung so hellblau war wie das Meer vor ihm, wenn die Sonne es traf, oder doch dunkler?

Joschi sah auf die Gischt der Wellen: Wenn Hedy wirklich die große Liebe gewesen war, müsste er dann ihr Gesicht nicht wie ein Foto vor Augen haben? Wann würde die Erinnerung an Hedy ganz verblasst sein? Und er nahm sich vor: Wenn er in Palästina eine Frau treffen würde, bei der er sich an alles erinnern könnte, selbst wenn er Tausende Kilometer von ihr getrennt sein sollte, würde er diese Frau heiraten!

 

In der Nacht hielten die Schiffe zwei Kilometer von der Küste entfernt, außerhalb des Seeterritoriums des britischen Mandatsgebiets Palästina. Ein Landungsschiff fuhr jeweils fünf Gruppen à fünfzig Personen über das von Mond und Sternen beschienene Meer an den Strand von Netanja, von dem es hieß, dass er nicht von englischen Soldaten bewacht wurde.

Der Zug mit Joschi, der von Sarah befehligt wurde, die sich immer noch kaum auf den Beinen halten konnte, gehörte zu den letzten sechs Gruppen, die sich noch an Bord der ‹Draga II › befanden – die ‹Ely› hatte schon die Rückreise angetreten. Die Kommandantur beschloss, die 340 verbliebenen Personen mit einer Fahrt herüberzubringen statt mit zweien. So quetschte sich Joschi mit Isaak und all den anderen auf das Landungsschiff, wobei sein massiger Freund ihm mehr als einmal auf den Fuß trat. Joschi kommentierte dies mit: «Für dich hätte es eine Einzelfahrt geben müssen.»

Das Landungsschiff hatte keine Scheinwerfer an, man musste sich darauf verlassen, dass der Kapitän auch ohne Sicht nicht auf einem Felsen lief. Während der Fahrt schwiegen alle aus Angst, dass ein Wort von ihnen vielleicht ein englisches Patrouillenschiff auf sie aufmerksam machen würde.

Joschi war nervös, am liebsten hätte er eine Zigarette geschnorrt, aber auch er traute sich nicht, etwas zu sagen. Isaak wippte leise mit dem Oberkörper vor und zurück, als ob er betete. Joschis Freund war ihm bisher nicht als sonderlich religiös aufgefallen. Isaak hatte zwar einen Kantor als Vater gehabt, aber war nicht in dessen Fußstapfen getreten. Nach etwa zwanzig Minuten schweigender Fahrt erkannten sie in der Ferne einen Lichtkegel.

«Eine Patrouille», entfuhr es Isaak leise.

Der Lichtkegel schwebte über das Wasser hin und her, traf das Landungsschiff jedoch nicht. Noch nicht. Es war allerdings nur eine Frage der Zeit, bis die englische Marine sie entdecken würde. Der Kapitän entschied, die Weiterfahrt zu wagen, anstatt die Juden wieder zur ‹Draga II › zu bringen, die außerhalb des englischen Seeterritoriums auf die Bestätigung wartete, dass auch die letzten Flüchtlinge sicher an Land gegangen waren. Jeden Schweif des Lichtkegels verfolgten die Menschen an Bord atemlos. Joschis Herz klopfte bis zum Hals.

Etwa fünfhundert Meter von der Küste entfernt stellte der Kapitän die Maschinen ab und ließ das Boot treiben. Dann trat er an Deck und erklärte, dass alle, die es sich zutrauten, an Land schwimmen sollten. Einer nach dem anderen kletterte hastig über eine Strickleiter von Bord und sprang ins Wasser. Isaak zögerte und fluchte: «Ich bin ein mieser Schwimmer.»

«Noch mieser ist es, wieder zurückzukehren», sagte Joschi.

«Ich mag dich nicht, wenn du recht hast», seufzte Isaak und stieg ebenfalls die Strickleiter hinab. Joschi sah sich nach Sarah um. Sie war von der Seekrankheit, die sie seit Beginn der Reise plagte, zu schwach zum Schwimmen. Neben ihr kletterte der Über-Zionist Raffa vom Schiff. Joschi hätte es lieber gesehen, wenn er statt Sarah hätte zurückbleiben müssen. Oder jemand anderes. Alle außer Isaak. Und natürlich Joschi selbst. Wieder ließ er einen Menschen zurück.

Nun war Joschi an der Reihe, kletterte die wackelige Leiter hinab und sprang ins Wasser. Es brannte höllisch in den Augen, die er offen gelassen hatte, da er keine Erfahrung mit Meerwasser hatte. Als er wieder auftauchte, versuchte er sich zu orientieren: Vor ihm waren die anderen Schwimmer auszumachen. Ihnen folgte er ins Gelobte Land. Dabei konnte er an nichts anderes denken als daran, wie gut er daran getan hatte, im Sommer so viele Schulstunden zu schwänzen, um ins Freibad zu gehen. Beinahe hätte Joschi, trotz allem, laut losgelacht.

***

Friedrich war wieder zu Besuch in Bremen. Und wieder spielten er und Klaus mit den Autos. Diesmal Feldzug nach Russland. Ein Spiel, das Waltraut nicht verstand. Sie nahm aber sehr wohl wahr, dass Friedrich traurig war. Er sagte kaum etwas. Selbst Klaus erkannte, dass es dem anderen Jungen nicht gut ging, und versuchte ihn aufzumuntern, indem er anbot, er dürfe diesmal die Wehrmacht spielen. Tante Brigitte weinte leise vor sich hin. Warum genau, wussten Klaus und Waltraut nicht. Es musste etwas Schlimmes passiert sein.

Mama schenkte der Tante Korn ein. Der schien sie zu trösten, denn sie hörte auf zu schluchzen und nahm gleich noch einen. Bevor sie weitertrank, wollte Mama die Kinder ins Bett schicken. Doch da kam Papa nach Hause.

«Du bist spät», sagte Mama.

«Ich war noch mit den Männern einen heben.»

Mama sagte nichts. Papa wandte sich an die Base seiner Frau und sagte: «Mein Beileid.»

Brigitte nickte stumm.

«Scheißrussen», sagte Papa und schenkte sich auch einen Korn ein, «Scheißrussen!»

Die Großen schwiegen eine Weile. Klaus deutete auf seine Autos und sagte zu Friedrich: «Scheißrussen.»

Friedrich sagte nichts. Hatte er das gar nicht gehört?

«Ich kenne einen guten Witz», sagte Papa.

«Hinrich!», rief Mama tadelnd.

«Vielleicht muntert das Gitte ja ein wenig auf.»

«Hinrich …»

«Lass ihn», sagte Tante Brigitte.

«Also», hob Papa an, «drei Schweizer unterhalten sich über Urlaub in Deutschland. Der eine sagt, ich mache ihn in München. Der nächste sagt, ich mache ihn in Wien. Der dritte sagt: ‹Ich in Kairo.› Da sagt der erste: ‹Kairo liegt doch gar nicht in Deutschland.› Da antwortet der dritte: ‹Ich mach meinen Urlaub erst im Frühjahr.›»

Tante Brigitte verzog kein Gesicht. Mama sagte: «Brigitte mag sicher keine Witze über Feldzüge hören.»

«Na, dann vielleicht der hier: Ein Gauleiter besucht eine Schulklasse. Die Antworten auf seine Fragen sind vorbereitet. Er fragt den kleinen Walter: ‹Wer ist dein Vater?› ‹Adolf Hitler!› ‹Wer ist deine Mutter?› ‹Großdeutschland.› Dann kommt eine unvorbereitete Frage: ‹Und was willst du werden?› ‹Vollwaise.›»

«Für so einen Witz», sagte Brigitte scharf, «kannst du ins Gefängnis kommen.»

Mama und Papa erschraken. Genauso wie Waltraut und Klaus. Nur Friedrich spielte weiter mit den Autos.

«Aber nur, wenn es jemand weitererzählt», sagte Papa leise, und seine Stimme zitterte dabei. Waltraut hatte ihren Papa noch nie ängstlich gesehen. Fürchtete er sich etwa vor Tante Brigitte?

Die schwieg.

Auch Klaus sah nun zu den Großen.

Friedrich spielte weiter Feldzug.

Mama krallte Papas Hand fest.

Und Waltraut hatte Angst um ihre Eltern, obwohl sie nicht wusste, warum.

Schließlich sagte Tante Brigitte: «Sollen ja nicht noch mehr Kinder ihren Vater verlieren.»

Die Eltern sahen erleichtert aus. Und das beruhigte auch Waltraut.

«Noch einen Korn?», fragte Papa.

«Besser als noch ein Witz», antwortete Tante Brigitte.

«Viel besser», fand auch Mama und schenkte allen dreien ein. Sie tranken hastig, und dann rief Brigitte: «Noch einen!»

Von nun an Brigitte. Waltraut wollte diese fiese Kuh, die ihren Eltern so viel Angst eingejagt hatte, nie wieder Tante nennen!

 

Die Kinder wurden schlafen geschickt. Waltraut und Friedrich teilten sich auch in Bremen das Bettchen. Das war für beide schon normal. Nachdem Mama, wie immer beim Zubettgehen der Kinder, eine Weile das Foto des verstorbenen Schwesterchens angesehen hatte, knipste sie das Licht aus und verließ das Zimmer. Kaum war die Tür zu, fragte Klaus leise: «Kämpft dein Papa gegen die Russen?»

Friedrich antwortete nicht, und Klaus fragte nicht weiter. Waltraut machte die Augen zu, konnte aber nicht einschlafen. Sie war noch so wütend auf Brigitte.

Nach einer Weile ging die Tür wieder auf und Papa trat ein: «Klaus? Traudel? Seid ihr noch wach?»

«Ja, Papa», sagte Klaus.

«Ja», sagte Waltraut.

Er ließ das Licht aus und setzte sich zu Waltraut auf die Bettkante. Er stank ganz schrecklich nach Korn, aber zugleich auch nach dem Holz von seiner Arbeit. Papa nahm ihr Händchen, was er sonst nie tat, und sagte: «Ihr müsst keine Angst haben. Die schicken mich nie an die Front. Die brauchen mich auf der Werft.»

So recht begriff Traudel nicht, was er damit meinte. Nur, dass es ihm sehr wichtig war, es zu sagen. Papa gab ihr einen Kuss auf die Stirn, was er ebenfalls sonst nie tat. Er stand auf und gab sogar Klaus einen Kuss auf die Stirn. Beide Kinder wussten nicht, was sie sagen sollten.

Papa wandte sich an Friedrich: «Du bist jetzt der Mann im Haus. Du musst auf die Mama aufpassen.» Papa wirkte dabei traurig, das konnte Waltraut erkennen, da das Licht von der Straßenlaterne genau in seine Augen fiel. Jetzt erst verstand sie, warum Friedrich so schweigsam war.

Papa ging hinaus. Keins der Kinder sagte mehr ein Wort, aber es dauerte lange, bis sie einschlafen konnten.

 

In der Nacht wurde Waltraut von Tritten geweckt. Friedrich strampelte im Schlaf und winselte. Er träumte schlecht. Waltraut blickte zu Klaus. Der schlief tief und fest, und sie wollte ihn nicht wecken, um ihn um Hilfe zu bitten. Am liebsten hätte sie Friedrich zurückgetreten, damit er aufhörte. Aber das wäre gemein gewesen. Sein Papa war tot. Und ihrer lebte. So tat sie etwas, was ihre Mama immer machte, wenn sie von einem dieser fiesen Albträume aufgeschreckt wurde, in denen sie von bösen Männern träumte, die sie holen wollten: Sie nahm Friedrich fest in den Arm.

Er wachte davon nicht auf, strampelte aber nicht mehr so wild und winselte leiser. Und er hörte endgültig auf, als sie ihm ein liebes Küsschen auf die Wange gab.

***

Drei Monate dauerte es, bis Rosl ihren Bruder Joschi im Kibbuz Ma’abarot nördlich von Netanja besuchte, in dem er und Isaak gestrandet waren. Drei Monate, in denen seine Haut in der Sonne bei der Arbeit an den Orangenbäumen so lange verbrannte, bis sie langsam, aber sicher eine braune Farbe angenommen hatte. Drei Monate, in denen er beim Pflücken, Bewässern und Umgraben an Gewicht erst ab- und dann dank der Muskeln wieder zugenommen hatte. Drei Monate, in denen er anfangs von Durchfällen und später von nahezu unerträglichem Heimweh geplagt worden war: Wien war das wahre Gelobte Land. Diese Wüste hier hingegen, die sich heftig weigerte, urbar gemacht zu werden, war die Hölle, die Joschi jedem Nazi von Herzen wünschte.

Das neue Leben wäre in diesen ersten Wochen und Monaten unerträglich gewesen, wenn es Isaak nicht gegeben hätte. Der Rothaarige litt zwar noch mehr unter der unbarmherzigen Sonne, aber er sprang immer ein, wenn Joschis Kräfte schwanden und er sein Pensum nicht erfüllen konnte. Joschi half seinem Freund hingegen bei der Kommunikation mit den Kibbuz-Bewohnern, von denen die meisten aus Rumänien, Bulgarien und Bessarabien stammten. Mit einigen von ihnen konnte sich Joschi auf Hebräisch verständigen. So vermittelte er seinem Freund sogar eine heiße Nacht mit einer Rumänin.

Joschi charmierte zwar auch die ein oder andere Kibbuz-Frau, er ging allerdings nicht weiter. Selbst nicht, als sich eines Nachts eine Bulgarin unbekleidet zu ihm legte. Es war nun schon zweieinhalb Jahre her, dass er mit Hedy zusammen gewesen war, aber er wollte sich dieser fast völlig Fremden nicht hingeben. Nicht auszudenken, wenn er ausgerechnet hier, an diesem verfluchten Ort, einer Frau ein Kind machte.

Rosl stieg in einem roten Kleid mit schwarzen Arbeiterschuhen, die sie in Wien nie getragen hätte, aus einem schwarzen Ford. Sie war schöner als je zuvor, durch ihre gebräunte Haut entstand ein faszinierender Kontrast zu ihren rötlichen Haaren. Während Joschi noch benommen dastand, weil ihm seine Schwester in der flirrenden Hitze so unwirklich erschien, rannte Rosl auf ihn zu. Sie umarmte ihn so fest, dass er zwischenzeitlich keine Luft bekam und zu weinen begann.

Joschi hatte seine Schwester bisher nur weinen sehen, wenn sie als Kind oder Jugendliche etwas nicht bekam, was sie unbedingt haben wollte. Dass sie nun aus Rührung, sogar aus Liebe weinte, ließ sie fast noch unwirklicher erscheinen.

Rosl küsste ihn überall: Wange, Stirn und Mund. Immer wieder. Es dauerte eine Weile, bis sie sich etwas beruhigt hatte und von ihm abließ. Jetzt erst ergab sich Raum für Joschis Gefühle. Er betrachtete seine Schwester, deren Augen immer noch voller Freudentränen waren, und begann nun, nach all den schweren Jahren, selbst zu weinen.

Um seinen Vater.

Um seine Mutter.

Um sein eigenes, aus der Bahn geworfenes Leben.

Und vor lauter Glück, dass er noch Rosl hatte.

Bruder und Schwester saßen in der Abendsonne bei saurem Rotwein auf einer Holzbank, von der aus sie den Orangenhain überblicken konnten. Sie hatten schon über Joschis Flucht geredet, auch über die von Rosl, ihre Arbeit als Buchhalterin in einem Hotel in Jerusalem und dem Besitzer, der in sie verknallt war, den sie aber nicht an sich ranließ. Er war es auch, der ihr das Auto geliehen hatte. Die Geschwister unterhielten sich über Rosls Ehemann Paul, über dessen Verbleib beide nichts wussten. Rosl sagte eher pflichtschuldig als überzeugend, dass sie krank vor Sorge um ihn war. Über eins sprachen die beiden jedoch nicht: über den Tod des Vaters und das Schicksal der Mutter. Joschi nicht, weil er seiner Schwester nicht erzählen wollte, wie er seinen Vater im Gefängnis zurückgelassen hatte. Rosl schwieg, weil sie ganz offensichtlich Angst davor hatte, dass ihre schlimmste Vermutung bestätigt wurde. Erst nach dem dritten Glas Wein traute sie sich zu fragen: «Und Vater …?»

Joschi sagte nichts, ging stattdessen zu seinem Rucksack, holte das Schreiben des Konzentrationslagers Buchenwald hervor und legte es seiner Schwester zum Lesen hin: Todesdatum, angebliche Herzschwäche, unleserliche Unterschrift des Obersturmbannführers.

Rosl betrachtete es. Sie weinte nicht. Stattdessen stählte sie sich, drückte ihren Rücken durch und sagte: «Ich habe auch eine schlechte Nachricht.»

«Welche?»

«Die Deutschen deportieren alle Juden aus Wien.»

«Deportieren wohin?»

«In Ghettos nach Polen. Werden alle wie Vieh in Waggons gepfercht und hingefahren. Mit dem Zug sind die Eltern nach Wien gekommen. Mit dem Zug wird Mama wieder rausgekarrt.»

Joschi erschütterte die Nachricht. Seine alte Mutter in Polen. Ganz allein. In einem Ghetto. Wer würde ihr beistehen, während ihre Kinder in Palästina nichts anderes tun konnten, als sich bei einem Glas schlechten Rotweins Sorgen um sie zu machen?

«Unsere Verwandten aus Wien», sagte Rosl, als ob sie seine Gedanken lesen konnte, «werden auch dort sein.»

«Jedenfalls die, die nicht im KZ sind», erwiderte Joschi bitter.

«Vielleicht helfen sie Mama.»

«Wir hatten doch kaum Kontakt.»

«Vielleicht dennoch», widersprach Rosl, doch es klang, als ob sie selbst keine großen Hoffnungen hatte, dass Mutter Scheindel Unterstützung erfahren würde. Die Geschwister schwiegen eine Weile, dann sagte Rosl: «Aus Papas Heimatort haben sie auch ein Ghetto gemacht.»

«Da sind also auch ein Haufen unserer Verwandten.»

«Die wir nie kennengelernt haben», stellte Rosl fest, als ob dies ein Trost wäre. Joschi nahm einen weiteren Schluck Wein, um den Schmerz zu betäuben.

«Pack deine Sachen. Ich nehm dich mit nach Jerusalem.»

«Kann ich da überhaupt Arbeit finden?»

«Ich hab dir schon eine besorgt.»

«Und was für eine?»

«Du kannst in der Rezeption des Hotels als Nachtportier anfangen.»

Der Besitzer musste wirklich von Rosl verzaubert sein, wenn er bereit war, zwei Illegale einzustellen.

«Gibt es da auch Arbeit für meinen Freund?»

«Deinen Freund?»

Joschi zeigte auf Isaak, der sich mit seiner kleinen Rumänin gerade eine Orange teilte: «Ohne ihn wäre ich hier vor die Hunde gegangen.»

«Der sieht für mich nicht so aus, als ob er hier wegwollte.»

Joschi beobachtete, wie innig sich das ungleiche Paar ansah: Der rothaarige Goliath hatte beneidenswert schnell einen neuen Lebenssinn gefunden. «Du hast recht, für mich sieht es auch nicht danach aus.»

«Dann fahren wir ohne ihn», sagte Rosl.

Joschi seufzte. Da hatte er seit langer Zeit wieder einen Menschen ins Herz geschlossen und musste sich schon wieder von ihm verabschieden. Vielleicht war es besser, so eine Nähe in Zukunft nicht mehr zuzulassen.

***

Schule, Schule, endlich Schule!

Den ganzen Sommer schon hatte sich Waltraut auf den ersten Schultag gefreut, ach was, schon das ganze Jahr. Der große Bruder Klaus war Papas Liebling. Er konnte schneller laufen als Waltraut, war stärker als Waltraut, lauter als Waltraut, gemeiner als Waltraut. Ständig ließ Klaus sie spüren, dass er überlegen war. Er schubste sie, trat sie, ärgerte sie. Papa war es egal. Mama schimpfte Klaus zwar aus, aber das änderte nichts. Selbst als er Waltrauts Puppe die Haare abgeschnitten hatte, wurde er nur mit einem Tag Hausarrest von Mama bestraft. Nur bei einer Sache waren die Eltern mit dem Bruder unzufrieden: Er war schlecht in der Schule. Und wenn Waltraut dort gut sein würde, dann gäbe es endlich, endlich, endlich etwas, bei dem sie ihrem Bruder überlegen wäre. Dann würde er doof dastehen, und sie könnte ihn ärgern!

Zwanzig Kinder waren in der Klasse. Waltraut unter ihnen die Älteste. Die Eltern waren der Ansicht gewesen, sie solle erst mit sieben in die Schule kommen, weil Waltraut mit sechs noch genuckelt hatte. Sie war dennoch nicht die Größte. Im Vergleich zu den anderen Mädchen wirkte sie sogar schmächtig. Egal, sie wusste, dass sie eine gute Schülerin sein würde. Die Beste!

Frau Scharper betrat den Klassenraum. Eine große, bullige Frau mit Riesenpranken. So musste die Frau eines Riesen im Märchen aussehen, dachte Waltraut.

Frau Scharper erzählte, was alles auf die Mädchen zukommen würde: lernen, lernen, lernen! Und wer frech würde, bekäme auf die Finger. Dabei schlug Frau Scharper mit dem Holzlineal auf das Pult. Der laute Knall erschreckte Waltraut. Aber nicht so sehr wie ihre Tischnachbarin Inge mit den langen blonden Zöpfen. Oder alle anderen Mädchen. Sie war halt die Gräfin unter den Löwen.

«So», verzog Frau Scharper das Gesicht zu etwas, das vermutlich ein Lächeln sein sollte, «wer kann mir eine Geschichte aus den Sommerferien erzählen?»

Kein Mädchen traute sich etwas zu sagen.

Außer der Löwin.

Sie hatte eine spannende Geschichte. Nicht von diesem Sommer. Vom vorigen, als Friedrich das letzte Mal zu Besuch war. Jetzt kam er nicht mehr nach Bremen. Warum, wollte Mama ihr nicht sagen. Papa auch nicht. Es hatte wohl damit zu tun, dass die blöde Brigitte den Eltern Angst gemacht hatte. Papa hatte den Kindern gesagt: «Die ist ein Barsch ohne B». Waltraut konnte daher das Wort Barsch ohne B buchstabieren, bevor sie ihren eigenen Namen schreiben konnte. Der war ja auch viel länger.

«Ich kann!», schnipste die Löwin mit den Fingern. «Ich kann was erzählen!»,

«Nicht schnippen», hob die Riesin drohend das Holzlineal. Zopf-Inge zuckte zusammen. Die Löwin nicht.

«Also», trat die Riesin auf die Löwin zu, «was ist deine Geschichte?»

Die Löwin sprudelte los: «Ich war am See mit meinen Eltern, mit Klaus, Brigitte und Friedrich …»

«Und wer sind die alle?», unterbrach die Riesin.

«Klaus ist mein Bruder, Brigitte ist ein Barsch ohne B …», kaum hatte die Löwin das ausgesprochen, bekam sie es auch schon mit der Angst zu tun: Das hätte sie doch nicht sagen dürfen! Sie sah zum Lineal. Aber die Riesin hob es nicht. Sie lachte sogar. Jedenfalls dachte die Löwin, dass die Geräusche, die die Riesin machte, ein Lachen waren.

«Erzähl weiter …», befahl die Riesin, als das Geräusch verebbt war.

«Friedrich ist …», begann die Löwin, um sogleich wieder innezuhalten.

«Ja?»

Was war Friedrich? Kein Vetter. Aber ein Verwandter. Was genau war man nur, wenn man der Sohn der Base der Mama war? Das hatten ihr Mama und Papa nie gesagt. Und die Löwin hatte nie gefragt.

«Was ist er?», die Riesin wurde ungeduldig.

«Mein bester Freund», antwortete die Löwin und staunte selbst über ihre Worte. Sie lauschte deren Hall nach und fand, dass sie wahr waren. Friedrich war ihr bester Freund!

Die Löwin lächelte glücklich, da hörte sie in den hintersten Reihen einige Mädchen kichern. Eine flüsterte sogar: «Waltraut ist verliebt.»

Die Löwin wollte das Mädchen schütteln. Sie war nicht verliebt! Sie hatte Friedrich nur lieb!

«Ruhe!», befahl die Riesin. Die Mädchen wurden schlagartig still. Die Löwin hoffte, dass die Riesin jetzt das Lineal gegen das fiese Mädchen schwingen würde. Sie tat es aber nicht, sagte nur: «Erzähl weiter.»

«Also», die Worte sprudelten jetzt nur so aus der Löwin heraus, «wir waren am Waller See schwimmen, und da schrie Friedrich plötzlich, und ich rannte zu ihm und sah eine Biene. Die Biene hatte ihn ins Bein gestochen», die Löwin redete immer schneller und schneller, «und sie flog um ihn herum und setzte sich wieder auf ihn und wollte noch mal stechen, diesmal in den Arm. Und ich nahm ein Handtuch, und dann habe ich die Biene damit von seinem Arm geschlagen», wie stolz war die Löwin auf ihre Heldentat, «und die Biene fiel tot zu Boden und …»

«Du lügst», sagte die Riesin.

Die Löwin sah sie erschrocken an.

«Du lügst», sagte die Riesin noch mal und ging auf sie zu. Das Lineal fest in der Hand.

«Nein, nein, ich lüge nicht …»

«Oh doch!»

Wie kam die Riesin darauf? Wie nur? Wie? Die Löwin hatte doch die Biene weggeschlagen und den armen Friedrich vor einem zweiten Stich bewahrt.

«Eine Biene kann nicht zweimal stechen.»

«Das wollte sie aber!»

«Eine Biene stirbt nach dem ersten Stich.»

«Aber …»

«Du hast uns alle angelogen.»

Die Löwin war verzweifelt. Es war doch eine Biene gewesen, die Friedrich gestochen hat, ein gelb-schwarzes Tier.

«Ich dulde keine Lügen in meinem Unterricht.»

Die Riesin schaute finster drein.

Wespe? War es eine Wespe? Biene? Hummel? Wespe? Wespe? Biene? Wespe?

«Leg deine Hand auf den Tisch.»

«Es war keine Biene, es war …»

«Sei still.»

«Es war eine …»

«Wenn du nicht sofort still bist, bekommst du noch mehr Schläge mit dem Lineal.»

«Es war …»

«Hand auf den Tisch!», herrschte die Riesin die Löwin an. Dabei verzerrte sich ihr Gesicht zu einer Fratze. Zopf-Inge neben ihr zitterte, sie hatte so viel Angst, dass sie sich nicht einmal traute zu weinen. Andere Kinder wagten nicht zu atmen. Die Angst in der Klasse konnte die Löwin riechen. Sie stank.

Tapfer legte sie ihre Tatze auf den Tisch. Entschlossen, nicht zu weinen. Nicht mal ein bisschen. Die Löwin wusste da noch nicht, was Schläge sind. Die Eltern hatten sie nie gezüchtigt.

Die Riesin holte mit dem Lineal aus.

Nicht weinen.

Die Riesin ließ das Lineal sausen.

Nicht weinen!

Das Lineal traf die Hand. Nicht die Tatze. Waltraut war keine Löwin. Nur ein kleines Mädchen, das weinen musste.

***

Lauter als Wien. Dreckiger als Wien. Heißer als Wien. Und viel mehr religiöse Irre als in Wien. Joschi hatte sich auch nach Wochen noch nicht an Jerusalem gewöhnt. Und auch nicht daran, dass Rosl und er sich als Erwachsene im Hotel Yehuda wieder ein Zimmer teilen mussten. Diesmal eins, das noch spärlicher war als jenes aus Kindertagen. Stockbett, ein Schrank, kein einziges Bild an den Wänden. Wenigstens hatte er durch seine Arbeit als Nachtportier andere Schlafenszeiten als seine Schwester. Wobei an Schlaf kaum zu denken war in dieser lärmenden Stadt, in der alle Menschen – bis auf die Engländer – laut waren. Selbst die europäischen Juden hatten sich der allgemeinen Lautstärke angepasst, damit sie gehört wurden. Allen voran seine Schwester, die schon in Wien kein stilles Mäuschen gewesen war. Wie laut sie Joschi Vorwürfe machte, wenn er mal wieder schwermütig wurde, wie laut sie Männer zurechtwies, die es wagten, sie anzutatschen, wie laut sie den glatzköpfigen Hotelbesitzer Mosche anwies, Flüchtlinge zu verstecken. Letzteres tat sie in ihrer Eigenschaft als Verbindungsfrau der jüdischen Untergrundorganisation Hagana. Die Widerstandskämpfer der Betar-Irgun-Koalition fand sie zu militant. Sie töteten palästinensische Zivilisten als Vergeltung für Anschläge auf Juden. Juden sollten keine Mörder sein wie ihre Feinde.

Joschi war ein Staat Israel zwar nicht egal, er würde sich freuen, wenn es ihn wirklich einmal geben sollte. Er fand auch, dass ein eigener Staat einen Kampf wert war, und würde sich gewiss auch bald der Hagana anschließen – wie seine Schwester ihn drängte –, aber sein Herz sehnte sich so sehr zurück nach Wien: leiser als Jerusalem. Sauberer als Jerusalem. Kühler als Jerusalem. Und viel weniger religiöse Irre als in Jerusalem. Wenn nur die mordenden Irren dort nicht wären.

Eines Mittags wachte Joschi auf, weil zwei Palästinenser der Ansicht waren, sie müssten ihren Streit genau vor seinem Fenster austragen. Da er ohnehin schlecht geträumt hatte – Hedy hatte ihn wegen irgendetwas angebrüllt und dann eine Zigarette auf seinem Arm ausgedrückt –, zog Joschi sich an und beschloss, nach einem anständigen Kaffee zu suchen. Zwei Straßen weiter hatte vor Kurzem ein Café aufgemacht, das einem Deutschen gehörte. Vielleicht würde er da, wenn schon nicht wienerisches, dann doch wenigstens deutsches Stimmengewirr hören.

Die Straßentische im Royal befanden sich alle in der Sonne, man hätte Spiegeleier auf ihnen braten können, innen erinnerte das Café vage an die Heimat, als wäre es einer verschwommenen Erinnerung entsprungen. An einem Klavier saß ein blonder Mann mit strahlend blauen Augen. Er spielte ein flottes Lied und sang dazu:

Some get a kick from cocaine

I’m sure that if I took even one sniff

That would bore me terrifically, too

Yet, I get a kick out of you

Joschi wippte mit den Füßen, und je länger der Mann sang – «I get no kick in a plane» –, desto leichter fühlte er sich.

Als die Melodie endete, applaudierte Joschi, und der Pianist lachte: «Das passiert mir in diesem Furzfleck an Erde zum ersten Mal.» Er sprach Hebräisch, aber Joschi hörte den deutschen Akzent und redete daher in seiner Muttersprache weiter: «Ich habe das noch nie gehört.»

«Ist von Cole Porter aus dem Film ‹Anything Goes›.»

«Nie gesehen.»

«Kein Wunder, kam nicht nach Deutschland.»

«Ich bin aus Wien.»

«Hört man», lachte der Pianist.

«Ich vermisse amerikanische Filme.»

«Fünfzehn Minuten von hier gibt es ein Kino, da zeigen sie diese Filme für die Engländer.»

Keine dreizehn Minuten später saß Joschi schon in der frühen Nachmittagsvorstellung. Chaplin, ‹The Circus›. Joschi lachte befreit auf. Wieder und immer wieder. Im Kino war die Welt ein besserer Ort. Und nach der Vorstellung war Jerusalem zwar immer noch stinkend, laut, heiß und voller religiöser Irrer, aber nicht mehr ganz so übel.

Auf der anderen Straßenseite ging eine Brünette im gelben Sommerkleid. Sie war nicht schön, aber was für ein Hintern! Joschi dachte daran, wie lange er nicht mehr bei einer Frau gelegen hatte. Es wurde Zeit. Er würde sich die schönste Frau im Café Royal suchen. Die allerschönste!

Als Joschi wieder ins Café kam, musste er feststellen, dass der Pianist die Schönste, eine edelblasse mit langen Beinen, charmierte. Dem netten Kerl, der Joschi mit seinem Spiel und dem Hinweis auf das Kino das Leben versüßt hatte, wollte er nicht in die Parade fahren. Er blickte sich um: War die Kellnerin die zweitschönste Frau hier? Oder eine der drei Frauen am Fenstertisch, die sich beim Tee miteinander unterhielten? Oder die in der Ecke mit der Narbe am Kinn? Sie war definitiv nicht die schönste im Café, aber die faszinierendste. Konzentriert zeichnete sie mit einem Bleistift in einen Block. Joschi ging auf sie zu und erkannte die angefangene Zeichnung einer Meerjungfrau. Halb nackt. Mit Flosse. Das Bild überraschte ihn, erregte ihn auch, aber am meisten beeindruckte es ihn. Es war das Zauberhafteste, das er je im Entstehen beobachten durfte. Am Gymnasium hatte es Mädchen gegeben, die malen konnten. Aber entweder bannten sie Äpfel, Stühle und Pferde auf die Leinwand, oder sie machten Kunst, die Joschi eindeutig zu abstrakt war und nicht mal den Humor von Dada besaß.

«Gaffen Sie immer ungefragt andere Menschen an?», fragte die Frau auf Hebräisch, ohne einen Hauch von Wut oder Ablehnung in der Stimme, dafür aber mit leisem Spott und tschechischer Sprachfärbung.

«Verzeihen Sie, aber Sie sind sehr begabt», Joschi meinte es aufrichtig.

«Danke», nickte sie wie jemand, der um sein Talent wusste, und zeichnete konzentriert weiter. An der Brust der Meerjungfrau. Wollte sie ihm damit etwas sagen? Nein, sie hatte schon daran gearbeitet, als er an ihren Tisch getreten war. Sie schien ihn schon wieder vergessen zu haben.

«Ich habe auch eine Begabung», sagte Joschi.

«Ach ja?», sie drehte sich wieder zu ihm, «und welche?»

«An jedem Ort, an dem ich bin, finde ich die anmutigste Frau», sagte er und setzte dabei sein charmantestes Lächeln auf.

Die Zeichnerin sah ihn ungläubig an.

«Sie sind eine anmutige Frau», diesmal lächelte Joschi nicht. Er meinte, was er sagte.

Die Zeichnerin schüttelte als Antwort nur abwehrend, aber auch ein wenig geschmeichelt den Kopf.

«Darf ich Sie auf einen Kaffee einladen?», fragte Joschi.

Nach kurzem Zögern antwortete sie: «Sie dürfen.»

Aus dem einen Kaffee wurden vier. Mit Schlagobers trank sie ihren. Joschi nahm ab dem zweiten einen kleinen Schuss Rum hinzu. Die Zeichnerin hieß Eliska, stammte aus Prag, hatte Malerei studiert und ihre Eltern und zwei jüngere Schwestern zurücklassen müssen. Sie lebte jetzt mit drei anderen Frauen in einem kleinen Zimmer, und alle vier verdienten sich ihr Geld mit Putzen in der englischen Kaserne. Woher die Narbe am Kinn stammte, erzählte Eliska nicht, und Joschi fragte auch nicht danach. Von seiner eigenen Vergangenheit mochte er auch nicht berichten, denn das würde ihn nur an Mama und Papa erinnern, und dann würde er traurig. Stattdessen erzählte Joschi Witze, seine Anekdoten vom Prater, und er machte der Zeichnerin charmante Komplimente, bis sie mit ihm, nachdem auch sie Rum in ihrem letzten Kaffee genommen hatte, in sein Zimmer ins Hotel ging, das er – sehr zu Rosls Ärger – von innen abschloss. Er lag seit langer Zeit wieder bei einer Frau. Er liebte sie nicht. Und sie ihn nicht. Wie auch? Sie kannten sich kaum. Aber die Nähe der Körper tat beiden gut.

Cole Porter, Chaplin, die Wärme eines anderen Menschen – das Leben in Palästina fühlte sich an diesem Tag gar nicht so schlecht an.

***

Bombenalarm.

«Raus!», rief Papa.

Sirenengeheul.

«Raus, raus, raus!»

Papa und Mama rannten mit Waltraut auf die Straße. Klaus war mit der Hitlerjugend in der Lüneburger Heide. Plötzlich hielt Mama inne und lief wieder zurück.

«Wo willst du hin?», rief Papa.

«Das Foto von Karla holen!»

«Scheiß auf das Foto! Wir müssen in den Bunker!»

«Wenn das Haus abbrennt, haben wir gar nichts mehr von ihr», rief Mama und verschwand im Eingang.

«Verfluchtes Foto», schimpfte Papa.

Waltraut bekam noch mehr Angst als ohnehin schon: Konnte ihr Haus wirklich abbrennen? Mit Mama darin?

Ein Knall war aus der Ferne zu hören.

«Scheißfoto!»

Mama kam mit dem Foto zurück, und alle drei rannten los.

«Schneller! Schneller!», trieb Papa sie an.

Ein weiterer Knall. Diesmal lauter. Und die Sirenen heulten, als ob sie nie mehr damit aufhören wollten.

«Schneller, Traudel!»

Waltraut konnte nicht schneller.

Mehr Knallen.

Papa packte sie und trug sie. Mama konnte kaum mithalten. Atemlos erreichten sie den Bunker. So viele Menschen wollten hinein. Waltraut, die sich fest an den Papa klammerte, konnte in dem Gedränge nur den Bäcker erkennen. Sie hatte Angst, dass auch Frau Scharper da sein würde.

Im Bunker waren noch mehr Menschen, kaum Platz für alle. Aber keine Frau Scharper. Gut! Viel dumpfes Knallen war zu hören. Die Menschen fürchteten sich. Auch Mama. Sogar Papa. Sie gingen vorbei an Stockbetten, jeweils ein Paar von dem nächsten durch Vorhänge getrennt. In der Ferne konnte Waltraut Kloräume sehen, die keine Türen hatten. Schließlich erreichte die Familie ein leeres Stockbett und setzte sich darauf.

Schweigen.

Nur atmen.

Bis ein Säugling hinter dem Vorhang brüllte. Und noch einer weiter weg. Und noch einer viel weiter weg. Als ob sie sich ansteckten. Ein Mann blaffte hinter dem Vorhang die Frau an: «Bring dein Gör zum Schweigen.» Ein zweiter schnauzte: «Red nicht so mit meiner Frau!» Ein dritter ging dazwischen: «Ruhe jetzt! Alle beide.» Papa rang mit seinen Händen. Die Knöchel wurden dabei weiß. Mama nahm Waltraut in den Arm.

Ein Knall.

Warten.

Noch ein Knall.

Warten.

Säuglingsgeschrei.

Es wurde stickig.

Ein enorm lauter Knall.

Der Bunker erzitterte.

Menschen schrien. Mama hielt Waltraut fest. Und Papa Mama. Putz bröselte von der Decke.

«Die Straße muss getroffen sein», rief einer.

Alle hielten inne. Lauschten. Ob noch ein Knall folgte.

Ja.

Aber ein leiserer. Von weiter weg.

Alle schwiegen.

Noch mehr Angstgeruch im Bunker als bei Frau Scharper in der Klasse, wenn sie das Lineal schwang. Viel mehr. Und von den eigenen Eltern. Waltraut hoffte, dass Frau Scharper da draußen irgendwo getroffen würde. Dann müsste sie keine Angst mehr haben, in die Schule zu gehen.

Mama drückte sie noch mehr an sich und sagte leise: «Wenn wir hier rausgehen, fahren wir zu meinem Vater.»

«Dem Graf?», fragte Waltraut leise zurück.

«In diesen schlimmen Zeiten wird er uns bestimmt zu sich lassen.»

Waltraut fand den Gedanken schön. Sie wusste, dass der Opa auf einer Burg lebte und es da auch einen Stall gab mit viel schöneren Pferden als die von der Beck’s-Brauerei, die die Fässer Bier zu den Kneipen brachten. Ihre Mama hatte ihr davon erzählt, als sie im letzten Monat mit den Masern das Bett hüten musste. Wie gerne wollte sie Reiten lernen. Auf einem weißen Pferd.

«Erzähl dem Kind nicht so einen Quatsch», zischte Papa, und Mama hörte auf zu reden. Während Papa auf seine Hände starrte, die er noch stärker als zuvor knetete, zwinkerte Mama Waltraut zu. Sie zwinkerte zurück. Waltraut wusste ja, dass Papa nichts von Mamas Geheimnis ahnte. Und auch nicht, dass der Graf Mama eigentlich verstoßen hatte, weil sie mit Papa einen gewöhnlichen Mann geheiratet hatte. Aber jetzt, wo es so schlimm war in Bremen, würden Mama und Opa sich bestimmt versöhnen. Eine Löwin war Waltraut vielleicht nicht, aber bald schon könnte sie eine Art Prinzessin sein. Auf einem weißen Pferd! Dieser Traum lenkte sie so gut ab von dem Knallen, der stickigen Luft und dem Geschrei, dass sie auf Mamas Schoß einschlafen konnte.

 

Als Waltraut von Papa wach gerüttelt wurde, fiel ihr Blick als Erstes auf das Foto der verstorbenen Schwester. Mama hatte es ebenfalls in den Schoß gelegt.

«Komm, Traudel», sagte Papa, «wir gehen heim.»

Es dauerte, bis die Familie an der Reihe war, den Bunker zu verlassen. Beißender Rauch wehte durch die Straße. Etwas weiter entfernt brannten Häuser, und Feuerwehrmänner versuchten verzweifelt, sie zu löschen.

Papa sah in die Ferne: «Unsere Straße ist wohl verschont.» Dann sah er in die andere Richtung: «Aber sie haben die Werft bombardiert.»

«Solange wir am Leben sind», legte Mama ihm eine Hand auf die Schulter, «und ein Dach über dem Kopf haben, ist alles gut.»

Papa nickte. Dann gab er ihr einen Kuss. Und Waltraut auch. Und dem Foto von Karla.

 

Neun Monate später wurde auch das kleine Haus der Familie zu Schutt und Asche gebombt. Und das Foto von Karla verbrannte in den Trümmern.

***

Papa und Klaus mussten zum Volkssturm. In einer halben Stunde sollten sie sich bei ihrer Einheit im Hafen melden. Mama rang mit den Tränen, als sie zum Abschied zusammen vor dem Eisenbahnwagen standen, in dem die Familie nun lebte und in diesem Winter jämmerlich fror, auch wenn Papa einen Kamin aus einem zerstörten Haus geholt und eingebaut hatte, den sie mit den Holzbänken der Zugwagen und anderen Brettern aus den Trümmern befeuerten. Kein Leben auf dem Schloss. Der Graf, so hatte Mama Waltraut erzählt, hatte nicht auf ihren Brief geantwortet. Waltraut begann den unbekannten Opa zu hassen.

Papa sah zu Klaus, der im Wintermantel zitterte, halb vor Kälte, halb vor Angst. Anders als seine Freunde Peter und Wolle, die es in den letzten Tagen kaum abwarten konnten, gegen den Feind zu kämpfen, hatte Klaus sich in der Hitlerjugend nie wohlgefühlt. In dem Lager in der Lüneburger Heide hatten die älteren Jungs die Jüngeren gequält, sie angepinkelt. Klaus hatte diese Scham, nach einem nächtlichen Albtraum, nur Waltraut anvertraut. Sie hatte ihn getröstet, als er weinte. Dabei bat er um Verzeihung, dass er ihrer geliebten Puppe vor Jahren die Haare abgeschnitten hatte. Waltraut nahm die Entschuldigung an – die Puppe war ohnehin mit dem Haus verbrannt. Als seine Tränen getrocknet waren, erzählte sie ihm, wie sehr Frau Scharper die Kinder in ihrer Klasse quälte und wie sehr sie sich vor ihr fürchtete. Klaus versprach seiner Schwester, dass er, wenn er erwachsen wäre, Frau Scharper dafür mit Prügel bestrafen würde. Da empfand Waltraut zum ersten Mal in ihrem Leben Liebe für ihren großen Bruder.

«Hab keine Angst», sagte Papa zu Klaus. Schneeflocken begannen auf sie zu rieseln. Klaus zitterte noch mehr.

«Hab keine Angst», sagte Papa noch mal, und es klang eher wie ein Befehl.

«Er ist noch ein Kind», begann Mama zu weinen. Und weil sie es tat, trieb es nun auch Klaus die Tränen ins Gesicht

«Warum kann Klaus nicht bleiben?», fragte Waltraut.

«Man wird ihn dann holen», schluchzte Mama.

Waltraut musste an die Männer denken, die bei der Familie Lange den Mann aus dem Kamin gezogen hatten. Und daran, dass diese Männer auch die Langes mitgenommen hatten und kurz darauf der Polizist Meyerdirks mit seiner Familie dort eingezogen war. Man hatte dem Polizisten, so hatte Mama es ihr erklärt, das Haus geschenkt. Waltraut fand es ungerecht, dass nicht dieses Haus von den Bomben zerstört worden war, sondern ihres.

«Und wenn wir», schlug sie vor, «Klaus richtig gut verstecken?»

«Wenn sie ihn finden, töten sie ihn», antwortete Mama, und der Gedanke erschrak sie so sehr, dass ihre Tränen aufhörten zu fließen.

«Das tun sonst die Briten», sagte Papa leise, fast unhörbar.

Klaus liefen die Tränen über das Gesicht. Für Papa war der Anblick kaum zu ertragen. Er wandte sich von seinem Sohn ab, dachte nach, dann drehte er sich wieder zu ihm, packte ihn an beiden Armen und sagte: «Du bleibst hier. Ich mach hinten im Wagen ein paar Holzbretter vor die Tür. Das wird aussehen, als ob wir damit Einbrecher abwehren wollen, es wird aber Platz genug sein, damit du dich dort verstecken kannst, falls jemand kommt. Ich hämmere auch noch welche vor das Fenster, damit dich von der anderen Seite niemand sieht.»

«Du musst doch jetzt zum Sammelpunkt», sagte Mama.

«Die werden mich schon nicht erschießen, wenn ich eine Stunde später komme. Und vorher kommen sie uns bestimmt auch nicht suchen.»

«Sie werden dich in die erste Linie stellen …», Mamas Stimme brach.

«Besser mich als ihn.»

Papa machte sich in Windeseile an die Arbeit. Klaus und Waltraut waren gleichermaßen erleichtert, dass der Junge zu Hause bleiben durfte – ja, der Wagen war schon ein Zuhause, auch wenn sich die Familie ihn mit Ratten teilen musste.

Als der Verschlag fertig war, wischte Papa sich den Schweiß von der Stirn und sagte: «Klaus, du verlässt nicht mehr den Wagen. Keiner darf wissen, dass du noch hier bist. Und ihr Frauen müsst Ausschau halten, ob Soldaten auf das Gelände kommen. Falls ja, muss Klaus sofort in den Verschlag. Verstanden?»

Mama nickte. Waltraut nickte. Mama umarmte Papa noch einmal, und damit sie nicht wieder weinte, hastete sie mit Klaus an der Hand in eine andere Ecke des Wagens zu dem Elternbett. Papa beugte sich zu Waltraut runter: «Du musst mir auf die beiden aufpassen.»

Waltraut war erstaunt, dass er mit ihr sprach, als ob sie die Erwachsene wäre.

«Mama hat zu viel Angst, um noch klar zu denken, und Klaus muss sich verstecken. Deshalb ist es deine Aufgabe, das ganze Gelände zu beobachten wie …»

«Eine Löwin?», fragte sie.

Papa musste, trotz allem, lachen. Als ob er nicht wusste, dass er sie vor vielen Jahren selbst einmal so bezeichnet hatte: «Ich wollte sagen: wie ein Luchs. Aber wie eine Löwin ist sogar noch besser.»

Er gab ihr einen Kuss und wandte sich zum Gehen.

«Kommst du wieder?», fragte Waltraut.

«Sicher!», antwortete er.

Papa ging zum vorderen Ausgang des Waggons. Waltraut folgte ihm. Er ging über die Schienen des zerstörten Abstellgleises davon. Waltraut schaute ihrem Papa nach, wie er im Schneetreiben verschwand. Sie hätte so, so gerne geglaubt, dass er wiederkam.

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Joschi und der Pianist namens Amos waren die dicksten Freunde weit und breit. Gemeinsam tranken sie, gemeinsam lachten sie, gemeinsam charmierten sie die Frauen. Amos spielte Klavier, Joschi erzählte Witze, und sie kamen sich bei dem weiblichen Geschlecht nie in die Quere, da sie beschlossen hatten, dass der lange Amos alle Frauen über 1,60 becircen durfte und Joschi die kleineren. Es gab so viele Frauen, die die wahre Liebe suchten, sich für die aber auch nicht aufsparen wollten – wer wusste schon, wie lange man am Leben blieb?

Die beiden Männer verstanden sich so gut, dass Amos Joschi bei seiner Arbeit als Nachtportier im Hotel Yehuda besuchte und mit ihm gemeinsam trank und über die Zukunft redete, bei der ein Staat Israel zwar intensiv in all seinen Facetten diskutiert wurde, für Amos persönlich aber keine große Rolle spielte: Joschis Freund wünschte sich nichts sehnlicher, als eigene Lieder zu komponieren und in Berlin – er war sich sicher, dass es Berlin auch nach dem Krieg geben würde und man als Jude dorthin zurückkehren könnte – ein Star zu werden. Davon träumte er schon, seitdem er 1929 im Alter von 12 Jahren von seinen Eltern mit ins Berliner Theater genommen wurde, um Hans Albers und Rosa Valetti in ‹Zwei Krawatten› singen zu hören. Und Marlene Dietrich. Oh, Marlene Dietrich! Sie hatte sich in Amos’ Hirn genauso eingebrannt wie der Wunsch, wunderbare Lieder zu schreiben. Am besten für die Dietrich. Noch war er dafür nicht zu alt, und falls die Alliierten so weitermachten, würde er es auch bei der Rückkehr in seine Heimatstadt nicht sein. Wenn Amos so redete, malte Joschi sich aus, wie es sein mochte, wieder nach Wien zurückzukehren. Und er hoffte dabei – und betete sogar innerlich –, dass er dort Mama Scheindel in die Arme würde schließen können.

Doch stets, wenn er ein wenig weiterdachte, fragte er sich, was er in Wien mit seinem Leben anfangen sollte. Nach all den Jahren mit Ende zwanzig noch mal Bauingenieur studieren? In der Uni, aus deren Fenster seine jüdischen Kommilitonen geworfen wurden?

Amos’ Begeisterung für Berlin und seine Zukunft dort konnte Joschi keinen anderen Ort entgegensetzen. Ihm fiel nur ein, wie viel Frieden er auf der ‹Draga II › verspürt hatte, als er auf Deck gestanden und auf die Weite des Meeres geblickt hatte. Vielleicht sollte er nach dem Krieg zur See fahren?

Als er Rosl am Ende seiner Schicht im gemeinsamen Zimmer von diesem Gedanken erzählte, blaffte sie ihn an: «Hör auf zu träumen. Es ist Zeit, erwachsen zu werden.»

«Erwachsen?», fragte Joschi, der sich, trotz all dem Erlebten, oder vielleicht auch gerade deswegen, wie ein Kind fühlte, das sich in der Welt nicht zurechtfinden konnte.

«Ich bin 31, du 29. Zeit für uns beide, dass wir jemand Festes finden.»

«Jemand Festes?», Joschi war verwirrt. Ihm bereitete es Freude, viele verschiedene Liebschaften zu haben. Und Rosl interessierte sich doch gar nicht für Männer, ließ alle abblitzen. Allein schien sie zufriedener zu sein als in der Ehe. Außerdem war sie noch verheiratet, und auch wenn man nichts über Pauls Schicksal wusste, konnte man doch nicht völlig ausschließen, dass er noch am Leben war. Hatte sie ihn abgehakt? Weil sie kalt wie ein Fisch war? Oder weil sie zu sehr darunter litt, um ihn zu bangen?

Amos hatte mal darüber sinniert, Rosl zu verführen, doch da hatte Joschi seinem Freund klargemacht, dass a) er die Freundschaft mit ihm vergessen könnte, wenn er die Schwester überhaupt nur anlächelte, b) seine Zähne gleich mit, c) Rosl niemals mit ihm ins Land der Nazis zurückkehren würde, selbst wenn es dort gar keine Nazis mehr geben sollte, und d) sie unter 1,60 groß war. Er hätte die Aufzählung bis z) fortführen können, aber Amos hatte gelacht: «Mann, du und deine Schwester liebt euch ja mehr, als andere euch jemals lieben könnten.»

Der Gedanke hatte Joschi erstaunt. Doch als er genauer darüber nachdachte, stellte er fest, dass Rosl tatsächlich der einzige Mensch auf Erden war, den er bedingungslos liebte – Mama Scheindel ausgenommen, wenn sie denn noch lebte.

«Du kannst nicht», machte Rosl mit ihrer Standpauke weiter, «ständig herumhuren.»

«Ich hure nicht herum!», protestierte Joschi.

«Du brauchst eine Ehefrau», ließ sie sich nicht von seinem Protest beirren, «damit du dich von den kommenden Aufgaben nicht ablenken lässt.»

«Welchen Aufgaben?»

«In der Hagana.»

Joschi hatte sich mittlerweile ebenfalls der Untergrundorganisation angeschlossen. Während seine Schwester in deren Hierarchie schnell aufgestiegen war, wurde er in der Wüste paramilitärisch ausgebildet.

«Wir haben eine echte Aufgabe für dich.»

«Wir?»

«Hans Blum …»

«Der Hans Blum aus dem Theater in der Leopoldstadt?»

«Er hat mich seinem Kommando unterstellt.»

«Weil er in dich verliebt ist?»

«Weil ich gut bin.»

Joschi sagte nichts.

«Und», grinste Rosl, «natürlich auch, weil er schon damals nicht die Augen von mir nehmen konnte. Was soll ich sagen: Der Mann hat halt Geschmack.»

«Dann willst du Blum heiraten?»

«Einen Künstler? Ich bin doch nicht verrückt! Wenn es ein Israel in Frieden gibt, brauche ich jemanden, der mich versorgen kann. Ich werde doch nicht ewig hier für Mosche arbeiten.»

«Die Männer werden Schlange stehen.» Joschi meinte dies aufrichtig.

«Davon gehe ich aus.»

Joschi grinste.

«Und für dich finden wir eine gute, anständige Frau. Und weil du kein Gespür für so was hast …»

«Moment mal!»

«Ich sage nur: Hedy.»

«Du hast sie doch noch nicht mal kennengelernt.»

«Von nun an werden sich alle deine Liebschaften bei mir vorstellen.»

«Du traust mir wirklich nicht zu, dass ich für mich selbst eine gute Wahl treffen kann?»

«Traust du es dir zu?», fragte Rosl provokant.

Joschi dachte nun auch an Hedy und sagte dann: «Na ja, vier Augen sind besser als zwei.»

«Und meine sehen besser als deine.»

«Aber nur, wenn du mir auch die Männer vorstellst, die als Ehemann für dich infrage kommen.»

«Selbstverständlich, du bist ja mein Bruder.»

Damit war der Pakt der Geschwister besiegelt.

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Es war ein regnerischer Tag. Es war der schönste Tag! Waltraut saß im vorderen Abteil am Fenster. So wie jeden Morgen, jeden Nachmittag, jeden Abend, bis sie von der Mama ins Bett befohlen wurde. Was hätte sie auch sonst tun sollen, als den Auftrag des Vaters auszuführen und auf Klaus und Mama aufzupassen? Die Schule hatte schon seit Wochen zu, und Mama hatte ihr streng verboten, sich weit vom Waggon zu entfernen.

Bisher war kein einziger Soldat gekommen. Auch kein Polizist. Oder sonst wer, vor dem Klaus sich hätte verstecken müssen. Doch jetzt ging eine Gestalt über das tote Gleis auf den Waggon zu, und obwohl der Regen prasselte, konnte Waltraut genau erkennen, um wen es sich handelte.

Sie rannte aus dem Abteil zum Ausgang, schlüpfte in ein kaputtes Paar Schuhe – alle anderen waren verbrannt –, drückte die schwere Tür auf, und obwohl sie sich bemühte, über die riesengroße Pfütze, die vor ihr lag, hinwegzuspringen, landete sie mit dem rechten Fuß doch darin. Der Schuh durchweichte sofort, die Füße wurden nass. Aber Waltraut merkte es nicht. Sie rannte auf ihren Papa zu.

Hinter ihr hörte sie, wie Mama und Klaus aus dem Wagen stiegen und ihr folgten. Aber so schnell wie Waltraut war an diesem Morgen keiner!

Papa packte sie an den Armen, hob sie hoch und wirbelte sie im Regen um sich herum – es war wie das Kettenkarussell auf dem Freimarkt. Waltraut lachte und lachte. Dann drückte Papa sie an sich. Und ebenso Mama und Klaus. Nie zuvor hatten sich alle vier Behrens’ in den Armen gelegen.

 

Abends saß die Familie in der Mitte des Ganges vor dem brennenden Kachelofen und spielte Mau-Mau. Papa schummelte so offensichtlich, dass die Kinder immer wieder in Gelächter ausbrachen. Von dem, was er erlebt hatte, erzählte er kein Wort. Auch nicht, als Klaus nach seinen beiden Freunden Peter und Wolle fragte. Stattdessen drückte Papa Klaus fest an sich, als ob er ihn nie wieder loslassen wollte. Tränen rannen über seine Wangen, und er sagte mit gebrochener Stimme: «Ich liebe dich so!»