Joschi und Waltraut staunten, dass den Country Club mehr Männer der feinen Gesellschaft besuchten als das Scandia. Im Laufe der Jahre lernten sie Werftbesitzer, Senatoren, Finanz- und Versicherungsdirektoren genauso kennen wie Rentner und Arbeiter, die ihr mal mehr, mal weniger mühsam Erspartes für ein paar vergnügliche Stunden auf den Kopf hauten. Im Country Club waren alle gleich und aßen Ochsenschwanzsuppe aus der Dose. Waltraut und Zopf-Inge nahmen mit den Männern Drinks zu sich. Die Gäste ahnten nicht, dass in Waltrauts Getränken kein Alkohol war. Joschi hatte nicht mal mehr das Bedürfnis, an ausgeschenkten Bieren, Weinen oder Weinbränden zu schnuppern. Auch nicht an dem Sherry und dem Whiskey, die in Glaskaraffen auf der Wohnzimmerkommode in der neuen Eigentumswohnung standen und Rosl und Charlie zu Ostern und Weihnachten eingeschenkt wurden.
Gabi verließ ihren Holger, weil er sie mit ihrer besten Freundin betrogen hatte – der Kerl hatte sich von Waltraut ganz schön was anhören müssen –, und beendete den Umgang mit ihren zweifelhaften Freunden. Reumütig zog sie wieder zu den Eltern und machte ihre Lehre bei Schulze-Kleidung, die mit dem Slogan «Meine Meinung, Schulze-Kleidung» sogar im Kino warben. Der dicklich gewordene David verbrachte die meisten Nachmittage mit Joschi im Country Club. Er kegelte dort, wenn eine der Bahnen frei war, oder saß einfach nur am Fenster und träumte beim Anblick der vorbeifahrenden Autos vor sich hin. David war jetzt elf Jahre alt, und es war an der Zeit für Joschi, mit Waltraut über seinen Wunsch zu sprechen: «Er soll Jude werden.»
«Spinnst du?», fragte Waltraut. Die zwei saßen, beide im Bademantel, in der Küche der neuen Wohnung und tranken um ein Uhr mittags ihren ersten Kaffee.
«Hör mir bitte erst mal zu», bat Joschi.
Waltraut schnaubte und schaute von ihm weg zu den orangenen Einbauschränken, auf die David gleich am Einzugstag Pril-Blumen geklebt hatte. So was erlaubte Waltraut ihrem Sohn, es waren ja nur Schränke, und Joschi fand es lustig.
«Gerade gehört er gar keiner Religion an.» Eine christliche Taufe hatte David nicht gehabt, Jude war er aber auch nicht, weil man nur von Geburt als einer galt, wenn die Mutter Jüdin war.
«Ist vielleicht auch besser so», meinte Waltraut und steckte sich eine Zigarette an, immer noch, ohne ihn anzublicken.
«Ich möchte aber gerne, dass er in die Jüdische Gemeinde kommt», ließ Joschi nicht locker.
Erst jetzt sah Waltraut wieder zu ihm und sagte: «Du glaubst doch auch nicht an Gott.»
«Manchmal schon, vor allem in letzter Zeit.»
«Wirklich?» Waltraut, die schon seit Jahrzehnten keine Kirche mehr besucht hatte, staunte.
Joschi fragte sich, ob er ihr jetzt von dem Pakt erzählen sollte, den er mit Gott auf der Intensivstation geschlossen hatte, entschloss sich aber zu antworten: «Ich bin dankbar für all das, was wir gemeinsam haben.»
Waltraut sah ihn müde an. Sie hatte lange nicht mehr ‹Leben heißt leiden› in seiner Anwesenheit gesagt, aber ihr Blick drückte es immer mal wieder aus. Wenigstens war ihr Zorn auf ihn wegen des Scandias in den letzten Monaten verblasst. Nur ab und an erzählte sie noch vor Gästen, wie sie die Familie ohne seine Hilfe gerettet hatte, während er im Krankenhaus lag. Das musste er ertragen, es war seine Form der Buße.
«Wir haben», sagte sie, «doch gesagt, dass wir die Kinder von allem Übel fernhalten wollen.»
«Ja», bestätigte Joschi und steckte sich ebenfalls eine Zigarette an. Die beiden hatten Gabi und David nichts vom Schicksal seiner Eltern erzählt und auch nicht, warum es keinen Kontakt zu Waltrauts Familie gab. Sie hatten David noch nicht einmal gesagt, dass seine Schwester nur eine Halbschwester war.
«Und jetzt willst du David zum Juden machen?»
«Er wäre dann in einer Gemeinschaft.»
«Die alle anderen töten wollen.»
«Wollen sie doch nicht mehr», hielt Joschi dagegen. Die NPD schaffte es nicht ins Parlament, für die Judenhasser der RAF gab es keine Mehrheit in der Bevölkerung, so gut wie jeder Deutsche war Demokrat oder tat wenigstens so, und es war schon Jahre her, dass er sich einen vermeintlich lustigen Spruch über Juden und Geld hatte gefallen lassen müssen.
«Das kann sich doch jederzeit wieder drehen», widersprach Waltraut.
«Natürlich kann es das», Joschi war nicht naiv.
«Und du sagst doch selbst immer, 99 Prozent der Menschen sind von Natur aus schlecht.»
Joschi glaubte, dass es eher 80 bis 90 Prozent waren, die 99 Prozent waren eine Übertreibung, zu der er neigte, wenn er mal wieder etwas Fürchterliches in den Nachrichten gehört, gesehen oder gelesen hatte.
«Und dem willst du David aussetzen?»
«Wenn es wieder so weit kommen sollte, ist es den Nazis egal, ob der Junge auf dem Papier ein Jude ist oder nicht. Sie würden ihn allein dafür ermorden, dass er der Sohn eines Juden ist.»
Waltraut schluckte bei dieser Wahrheit und murmelte: «99 Prozent schlecht.»
«Wenn er aber ein Jude wird, hat er einen Vorteil, den Rosl und ich damals nicht hatten.»
«Und welchen?»
«Er kann jederzeit legal in ein anderes Land einwandern und dort Staatsbürger werden.»
«Israel?»
«Israel.»
Waltraut drückte ihre zu etwas mehr als die Hälfte aufgerauchte Zigarette aus, zündete sich eine neue an, sah zu den Pril-Blumen und sagte nach einer Weile: «In Ordnung.»
Am Abend betrachtete sich Joschi seinen Sohn, wie er in seinem Bett mal wieder beim Lesen eingeschlafen war, und nahm sich vor, für den Vorsitz der Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit Bremen zu kandidieren. Er saß zwar schon im Vorstand der Jüdischen Gemeinde, aber er sah es als seine Pflicht, seinen Teil dazu beizutragen, dass David niemals aus Deutschland würde fliehen müssen. Und dafür müssten noch mehr Christen verstehen, dass Juden Menschen waren wie sie.
Joschi saß in seinem beigen Wohnzimmersessel, der einige Aschebrandflecken aufwies, und rauchte zur Tagesschau mit Karl-Heinz Köpcke eine Zigarette, als sein Sohn in das Zimmer stürmte und verkündete: «Ich glaube nicht mehr an Gott.»
Joschi sah David, der erst vor zwei Monaten im Alter von zwölf Jahren jüdisch getauft worden war, erstaunt an und fragte: «Warum?»
«Ich habe eben im Bar-Mizwa-Vorbereitungsunterricht den Rabbi nach dem Holocaust gefragt.»
Seit der Fernsehserie ‹Holocaust› kannte der Junge den Begriff. Und die Deutschen auch. Da mussten erst amerikanische Juden eine Fernsehserie drehen, damit große Teile der deutschen Bevölkerung sich mit dem Morden der NS -Zeit auseinandersetzten. David hatte alle vier Teile der Serie mitansehen dürfen. Ein Jude musste nun mal wissen, was geschehen war. Und Joschi hatte nie den Mut aufgebracht, seinem Sohn davon zu erzählen.
«Was genau wolltest du von dem Rabbi wissen?», fragte Joschi und drückte den Fernseher auf der neuen Fernbedienung leise.
«Ich habe nach dem Unterricht an der Tür auf ihn gewartet und ihn gefragt: Wenn es einen Gott gibt, warum hat er damals nichts gegen den Holocaust getan?»
Kein Jude, dachte sich Joschi, würde diese Frage jemals zufriedenstellend beantworten können. Er war neugierig, welche Antwort der selbstbewusste junge Rabbi, der den Holocaust selbst nicht erlebt hatte, seinem Sohn gegeben hatte. Und er hoffte, dass David eine halbwegs gescheite Antwort von ihm erhalten hatte.
«Er hat mich streng angesehen.»
«Aha …»
«Und dann hat er gesagt: ‹Woher willst du denn wissen, dass er nichts getan hat?›»
«Mehr nicht?»
«Mehr nicht.»
Man hätte die Antwort des Rabbis so deuten können, dass Gott wenigstens über einige Juden, wie Joschi und Rosl, seine schützende Hand gehalten hatte. Jedoch nur, wenn man sehr wohlwollend gestimmt war. Wohlwollend sowohl dem Rabbi gegenüber, der David mit seiner berechtigten Frage abgespeist hatte, als auch Gott gegenüber: Denn hätte Gott tatsächlich nur einige wenige Juden geschützt, so musste man sich fragen, warum er nicht allen geholfen hatte und er stattdessen so vielen Nazis bis heute ein gutes Leben gestattete. Hatte Gott nicht den Willen gehabt, mehr zu tun? Oder nicht die Macht? Es war ein Dilemma: Entweder war Gott gütig, dann war er nicht allmächtig. Oder er war allmächtig, aber nicht gütig.
«Ich glaube nicht mehr an Gott», wiederholte David, setzte sich auf den Wohnzimmerperserteppich und begann, seine Riesenstapel Superhelden-Comics und MAD -Hefte zu sortieren.
Joschi hätte seinem Sohn am liebsten geantwortet, dass er erst mal nur nicht an den Rabbi glauben sollte. Aber darauf war David sicherlich schon selbst gekommen, und so eine Haltung gegenüber einem Gottesmann durfte man nicht auch noch elterlich verstärken. So schwieg er und hoffte, dass sein Sohn niemals im Leben in eine Situation kommen würde, in dem er einen Rabbiner verprügeln wollte.
Bei der Bar Mizwa war Joschi gerührt. Mit 64 Jahren durfte er so etwas noch erleben! Und als David anschließend im Gottesdienst ungefragt seine Hand nahm, wie Joschi es bei seinem Vater im Leopoldstädter Tempel getan hatte, kamen ihm Tränen. Erst jetzt begriff er, warum es ihm so wichtig gewesen war, dass der Junge zum Juden wurde. Nicht wegen des Paktes, den er mit Gott im Krankenhaus geschlossen hatte, sondern weil die ermordete Familie ansonsten verleugnet worden wäre. So aber wurde sie geehrt. Und lebte in David fort.
Geschlossene Gesellschaft im Country Club: Zopf-Inge, die so gerne blonde Perücken trug, und ein Wirtschaftsprüfer, den sie sich unter den Gästen geangelt hatte, feierten Polterabend. Auf der Tanzfläche wurde wild zu ‹Status Quo›, ‹Sweet› und den ‹Rolling Stones› getanzt. Als mehrere Wirtschaftsprüfer «I can’t get no satisfaction» brüllten, musste Joschi lachen. Und Waltraut grinsen, nachdem er den Text für sie übersetzte. Ansonsten war sie jedoch betrübt: Ihre Freundin würde mal wieder ihr Leben verlassen, während sie hier Nacht für Nacht weiterarbeiten würde. Statt mit Zopf-Inge von nun an mit der Jugoslawin Ravija, die Waltraut vorhin in der Küche erklärt hatte, dass Jugoslawien kein Land sei und sie daher nicht aus dem Jugoslawien stammte, sondern aus einem Land namens Serbien, das es nicht mehr gab.
Ravija würde gut fürs Geschäft sein. Denn zum einen würde sie sehr viel weniger verdienen als Zopf-Inge, zum anderen war sie erst knapp über 30 und sehr hübsch. Eine rassige Schönheit, wie schon mehr als nur ein Gast festgestellt hatte. Aber wegen Ravija war Waltraut nicht mehr der Blickfang. Das war ungewohnt und tat weh.
«Warum so trist?», fragte ein gut aussehender Enddreißiger mit neumodischer Männer-Dauerwelle, der sie aufgrund seiner Größe entfernt an ihren Unternehmer-Verehrer Gerhard erinnerte. Was der wohl machte? Hatten er und seine Frau Kinder? Wo hatten sie noch überall Häuser, um Urlaub zu machen – die Safiers machten keinen Urlaub, noch nicht einmal Ausflüge gönnten sie sich. Sylt? Malle? Da war doch noch eins in Italien?
«Antwortest du mir nicht?», hakte der frisch Gelockte nach.
«Ich bin nicht traurig», setzte Waltraut ihr trainiertes Lächeln auf.
«Sah für mich aber so aus», lächelte der Mann, der, wie Waltraut feststellte, niedliche Grübchen hatte.
«Ist aber nicht so», Waltraut verstärkte nun ihr Lächeln.
«Darf ich mich zu dir gesellen?»
«Warum nicht?»
Der Gelockte setzte sich zu Waltraut an den Tisch und stellte fest: «Ich habe dich noch gar nicht tanzen sehen.»
«Heute ist mir nicht danach.» Waltraut hätte auch sagen können, dass sie es diese Nacht nicht tun musste, es war eine Privatfeier, kein normaler Arbeitstag.
«Bist du ganz allein hier?»
«Nein. Das dahinten ist mein Mann», sie deutete zu Joschi, der angeregt mit dem obersten Chef der Prüfer redete.
«Der alte Knacker?», fragte der Gelockte. Waltraut hatte diese Beleidigung schon häufiger von Gästen gehört, und es würde auch nicht das letzte Mal sein. Routiniert antwortete sie: «Er ist rüstig. In jeder Hinsicht.»
«Aha», wusste der Mann nichts Schlaues zu antworten.
Waltraut nahm einen Schluck von ihrem nichtalkoholischen Cocktail. Sie musste aufhören, das süße Zeug zu trinken. Auch wenn sie selten mehr als ein paar Bissen am Tag herunterbekam, legte sie an den Hüften zu, dabei fühlte sie sich gegenüber Ravija ohnehin schon zu dick.
«Ich habe gehört, dein alter Mann ist Jude.»
Der Satz kam für Waltraut aus dem Nichts. Und war wie ein Schlag in die Magengrube.
«Ja, das stimmt.» Sie würde das nie verleugnen. Aber ihre Stimme zitterte dabei noch mehr als ihre Hand am Glas.
«Weißt du, zu was dich das macht?» Der Gelockte hätte kaum abschätziger dreinblicken können.
Waltraut war wie paralysiert. Wie ein Tier im Scheinwerferlicht, das das Auto kommen sieht, aber nichts dagegen tun kann.
«Zu einer Judenschlampe.»
Sie begann am ganzen Leib zu beben.
«Du solltest dich schämen.»
Er spuckte in ihren Drink.
Waltraut konnte nicht anders als aufzujaulen. Nur am Rande nahm sie wahr, dass mit einem Mal alle zu ihr blickten. Sie begann zu schluchzen.
«Was ist?», hörte sie Joschis Stimme. Er stand an ihrem Tisch. Dass er zu ihr gelaufen war, hatte sie gar nicht wahrgenommen.
«Die soll sich nicht so haben», sagte der Gelockte.
«Was hast du Schwein getan?» Joschis Gesicht war hochrot.
«Nichts, nichts, nur die Wahrheit gesagt.»
«Die Wahrheit?»
«Dass sie eine Judenschlampe ist.»
Joschi schlug zu.
Und noch mal.
Und noch mal.
Waltraut hörte auf zu schluchzen. So hatte sie ihren Mann noch nie erlebt.
«Meine Nase», schrie der Mann auf, «der Scheißjude hat mir die Nase gebrochen!» Er war darüber so erschrocken, dass er gar nicht auf den Gedanken kam, aufzustehen und sich zu wehren.
Joschi nahm eine Weinflasche in die Hand und schrie mit dunkelrotem Kopf: «Dich mach ich fertig!»
Bevor er zuschlagen konnte, packte Schulz ihn von hinten: «Beruhig dich, Joschi, beruhig dich.»
«Ich mach das Schwein fertig!»
«Du willst doch nicht wegen so einem ins Gefängnis kommen.» Schulz sprach betont ruhig, aber seinem Gesichtsausdruck konnte man ansehen, dass er dem Gelockten am liebsten selbst die Flasche über den Schädel gezogen hätte. Der Rest der Gäste betrachtete betreten das Spektakel, ohne Partei zu ergreifen. Dass niemand von ihnen zu Hilfe gekommen war, ließ Waltraut klamm ums Herz werden.
«Das Gefängnis ist mir scheißegal!», brüllte Joschi.
«Die Juden sind ja alle irre», sagte der Gelockte und stand auf. «Das ist eine Scheißfeier, ich gehe!»
«Bleib stehen!», brüllte Joschi noch lauter und versuchte vergeblich, sich aus Schulz’ starken Armen zu befreien. «Bleib stehen! Und entschuldige dich bei meiner Frau!»
Der Gelockte ging aber Richtung Hinterausgang in die Straße namens Philosophenweg, wo er weiter zu jenen Etablissements torkeln konnte, in denen die Damen noch ganz andere Dinge mit den Herren machten als trinken und tanzen. Dabei brüllte er noch: «Hitler hätte euch alle vergasen müssen!»
«Arrrhhhh!», schrie Joschi, aber Schulz hielt ihn fest wie in einem Schraubstock.
Der Polterabend kam danach nicht mehr in Schwung. Waltraut saß mit Joschi unten im Raum der Kegelbahn 1. Sie hatte ihn dorthin gebracht, damit er sich beruhigen konnte. Aber auch um weitab von all den Menschen zu sein, die ihnen nicht zu Hilfe gekommen waren. 99 Prozent.
Das Licht beleuchtete alle drei Bahnen, und Joschi kühlte schnaufend seine Hand mit Eis. Es war ein Glück, dass seine alten Finger bei den Schlägen nicht verletzt wurden. Er sagte nichts, starrte zu den aufgereihten Kegeln am Ende von Bahn 1, war in einer anderen Welt. Vermutlich bei den Toten. Vielleicht beim Krieg. Bei den Kriegen. Bis eben hatte Waltraut nicht geahnt, welchen Zorn Joschi, ihr und den Kindern zuliebe, tief in sich begraben hatte. Jetzt erst war er aus ihm wie ein Gewitter Gottes hervorgebrochen. Weil er sie verteidigt hatte. Es hatte sich bestätigt, was sie damals bei der Reise nach Amsterdam ahnte, nachdem er sie vor der alten Frau, die sie auf Holländisch als ekelhafte Deutsche beleidigt hatte, in Schutz nahm: Dieser Mann war für sie da. Kämpfte für sie. Selbst wenn er der weit Unterlegene war.
Welcher Mann würde das für seine Frau tun? Keiner der Kerle, die Zopf-Inge jemals hatte. Nicht Vater Hinrich für die Mutter. Wenn Joschi selbst in seinem hohen Alter noch so für sie kämpfte, dann würde sie auch die Kraft finden, den Country Club als alternde Frau durchzustehen!
Das Wasser der Adria umspülte Joschis Füße. Der Country Club lief so gut, dass er, Waltraut und die Kinder sich nach all der harten Arbeit und dem schrecklichen Polterabend eine Woche Urlaub in Italien gönnen konnten. Wie eine ganz normale deutsche Familie lagen die Safiers schon seit fünf Tagen stundenlang am Strand, verschmierten mit sandigen Fingern nach Kokos riechende Sonnenmilch, verbrannten sich dennoch die Haut und aßen in Restaurants auf deutsche Touristen abgestimmte Gerichte wie Pizza con wurstel.
Joschi sah zu Waltraut, die auf dem Handtuch schlief. Wie schön, dass sie sich endlich entspannen konnte und ihr Gesicht, auch im ungeschminkten Zustand, nicht mehr so blass war. Er betrachtete das Mittelmeer bis zum Horizont. Bei dem Anblick überkam ihn jedes Mal eine Sehnsucht, die von Urlaubstag zu Urlaubstag größer wurde. Wer wusste schon, wie viel Zeit er noch haben würde, um diese Sehnsucht zu stillen?
Er ging zurück zu ihren Badetüchern, steckte David ein bisschen Geld zu, damit er sich Bazooka-Kaugummis holen konnte, zog sich seine Schlappen an und ging über die Straße in ihr Betonburghotel. Kurz mussten sich seine Augen an die Dunkelheit im Foyer gewöhnen, dann fuhr er hoch aufs Zimmer, dessen Eingangsbereich voller Sand war, weil David und er jedes Mal vergaßen, ihre Füße vor Betreten des Hotels ordentlich abzuwaschen. Er ging zum Zimmertelefon und wählte die Nummer seiner Schwester.
«Morris», meldete sie sich.
«Ich bin’s, Joschi.»
«Ich denke, du bist in Italien.»
«Bin ich auch.»
«Ist was geschehen?»
«Ich brauche Geld.»
«Kannst du den Urlaub nicht bezahlen?»
«Doch, das kann ich», antwortete er halb gereizt, halb stolz darauf.
«Und wofür brauchst du dann Geld?»
«Für eine andere Reise.»
«Wohin?»
«Nach Israel.»
«Ich überweise es dir.»
Jerusalem: Polaroid-Fotos an der Klagemauer mit Waltraut und David. Polaroid-Fotos im Basar mit Waltraut und David. Polaroid-Fotos vor der Grabeskirche mit Waltraut und David.
In der Stadt erschien Joschi das Leben in den lauten Basaren und den engen Gassen genauso zu sein wie damals, als er dort gelebt hatte. Nur war sie jetzt voller Touristen, und die Schicksalsgenossen aus dem alten Europa, die man an ihrer durchgebräunten, ursprünglich jedoch hellen Haut erkannte, waren nicht mehr jung und ausgezehrt, aber zum Überleben entschlossen, sondern alt geworden wie Joschi selbst und zum Teil sehr gebrechlich.
Bereits am späten Nachmittag ging es wieder zurück ins kleine Touristen-Hotel. Einer von Waltrauts Backenzähnen war nach einer Wurzelbehandlung kurz vor Abflug entzündet, und sie hoffte, mit einer Spülung würde es besser gehen. David fand Israel zu heiß und wollte amerikanische Comics lesen, die er am Hotel-Kiosk gekauft hatte. Joschi aber trat noch einmal in die Jerusalemer Abendschwüle, um ein anderes Hotel aufzusuchen: das King David.
Waltraut hatte er von seinem Vorhaben, Marjem zu treffen, nichts erzählt, sondern geflunkert, er wolle nur noch mal die Atmosphäre Jerusalems genießen. Bevor er der Cousine seine neue Familie vorstellte, musste er ihr erst mal gestehen, dass seine neue Ehefrau eine Nichtjüdin war und er mit ihr einen Sohn und eine nichtjüdische Adoptivtochter hatte. Tatsachen, die Joschi in den Postkarten, die er Marjem anfangs noch aus Deutschland geschrieben hatte, geflissentlich verschwiegen hatte, weil er befürchtete, dass sie ihm das nicht verzeihen würde.
Am Empfang erfuhr Joschi von der Rezeptionistin, dass seine Cousine mittlerweile zur Night-Managerin aufgestiegen war. Joschi war furchtbar stolz auf sie. Er ließ Marjem ausrichten, dass er in der Bar auf sie warten würde, und machte sich auf den Weg in den seit seinem letzten Besuch mit teurem Teakholz und goldumrandeten Spiegeln neu ausgestatteten Raum. Es war das erste Mal, dass Joschi sich zwischen all den Geschäftsleuten in feinen Anzügen und gut betuchten Touristinnen in schicken Kleidern in der Bar deplatziert fühlte.
Er bestellte sich beim Barkeeper eine Cola. Der flinke junge Mann schüttete sie schwungvoll ein und wandte sich einer älteren Amerikanerin zu, die er für ein Trinkgeld so charmant becircte, wie es Joschi in den Jahren vor dem Unabhängigkeitskrieg auch getan hatte, nur dass es bei ihm englische Offiziersfrauen waren und er zudem auch noch deren Gatten ausspionierte. Aber vielleicht arbeitete der Barkeeper ja auch für den israelischen Geheimdienst. Wer wusste das schon.
«Joschi», hörte er Marjems Stimme. Er drehte sich um und sah seine immer noch sehr schlanke Cousine, die deutlich jünger wirkte als Mitte 40. Sie war bekleidet mit einem schwarzen Rock, schwarzen Jackett und einer dezent grünen Bluse und trug einen langen, von einer Goldspange zusammengehaltenen Zopf. «Warum hast du dich nicht angekündigt?»
«Die Reise», schwindelte Joschi, «war eine spontane Entscheidung.»
«Eine gute», sagte Marjem. Sie freute sich aufrichtig, ihn zu sehen, und nahm es ihm anscheinend auch nicht übel, dass er vor so vielen Jahren das Land und damit auch sie verlassen hatte. Als Jüdin wusste sie, dass das Schicksal einen überallhin spülen konnte. Sogar ins Land der Täter.
«Du bist jetzt Night-Managerin!»
«Ja, das bin ich!», sie schien darauf so stolz zu sein wie er.
«Und du siehst großartig aus.»
«Du aber auch.»
«Ach was, ich bin alt.»
«Aber du wirkst wie ein glücklicher Alter», lächelte sie freundlich.
«Das bin ich auch.»
«In Deutschland kann man glücklich sein?»
«Ich habe einen Sohn.»
«Das ist ja fantastisch!», Marjem umarmte und drückte ihn herzlich. Sie nahm ihm offensichtlich auch nicht übel, dass er ihr von David nichts geschrieben hatte. Vielleicht waren seine Ängste unbegründet.
«Es gibt etwas …», sagte Joschi und löste die Umarmung, «… was du über meine Frau wissen musst.»
«Seid ihr geschieden?»
«Nein.»
«Du bist doch nicht etwa Witwer?»
«Nein. Nein!», allein der Gedanke an so etwas war für Joschi so unerträglich, dass er sofort mit der Wahrheit herausrückte: «Sie ist keine Jüdin.»
«Nicht?» Marjem rückte kaum merklich von ihm ab.
«Und ihre Tochter, die sie in die Ehe gebracht hat, auch nicht.»
«Dann ist dein Sohn auch keiner?» Die Cousine fragte es so nüchtern wie möglich, aber sie witterte offensichtlich kompletten Verrat.
«Doch, doch. Der Junge ist Jude, hat sogar seine Bar Mizwa gemacht.»
«Immerhin», rutschte es Marjem raus.
«Hast du Kinder?», fragte Joschi, um das Thema zu wechseln.
«Nein», sagte sie knapp. Joschi hakte nicht nach. Er hätte sich die Frage auch sparen können: Wer wollte schon neues Leben in die Welt setzen, wenn sie selbst als Waise im Konzentrationslager gewesen war?
«Wenigstens», sagte Marjem nach einer Weile des Schweigens, «setzt sich die Linie der Safiers fort.» Was sie nicht aussprach, aber in der Luft hing: Die Linie der Familie Klapholz, aus der sie stammte, würde mit ihr zu Ende gehen. Joschi, Marjem und Rosl hatten Dutzende von Cousins und Cousinen gehabt und die wiederum Dutzende von Kindern, die ihrerseits welche hätten haben können. Statt zusammen womöglich über hundert Safiers und Klapholzes gab es in der nächsten Generation nur noch David.
«Wie geht es Rosl?», fragte Marjem nach längerem Schweigen. Offensichtlich wollte sie nicht weiter über niemals geborene Kinder reden. Oder über Joschis Familie.
«Sie kann nur noch mit einer sehr dicken Brille sehen.»
«Die Arme.»
Beide schwiegen darauf wieder.
«Charlie», nahm Joschi das Gespräch wieder auf, «ist in Rente.»
«Dann kann er sich um Rosl kümmern.»
«Das tut er.»
Erneutes Schweigen.
«Eine Cola bitte», sagte Joschi dem Kellner.
«Du bist selbstverständlich eingeladen», sagte Marjem.
«Danke.»
Das Gespräch versiegte vollends. Joschi sah dem Kellner zu, wie er die Cola noch schwungvoller einschenkte als die erste. Er litt unter dem Schweigen. Es war fast eine Erlösung, als die Rezeptionistin kam und dezent zu Marjem sagte: «Wir benötigen Ihre Hilfe mit einem Gast in Zimmer 308.»
«Ich werde gebraucht, Joschi. Lass uns doch beide morgen Nachmittag einen Kaffee trinken. Wenn ich keinen Dienst habe, habe ich auch mehr Zeit für dich.»
«Ich bin mit meiner Frau und meinem Sohn da.»
«Vielleicht kannst du dich ja von ihnen lösen?»
Das Kind aus dem Konzentrationslager wollte keine Deutschen sehen. Egal welche. Joschi konnte es ihr trotz aller Liebe zu Frau und Kindern nicht verübeln.
«Ich versuche es», sagte er.
«Melde dich.»
Marjem umarmte ihn. Freundlich. Nicht mehr so herzlich wie zuvor. Für Joschi war klar, dass es ihre letzte gemeinsame Umarmung sein würde.
Betrübt von der Begegnung und aufgeputscht von der Cola, nahm Joschi einen Umweg zum Hotel. Die Gassen waren in der Tat die gleichen wie früher, aber er spürte, dass er nicht mehr hierhergehörte. Rosls Gedicht über Wien kam ihn in den Sinn:
Man lebt ferner – so-fern man lebt!
Wien. Es war Rosl bei ihrem Besuch so fremd gewesen wie ihm mit einem Mal Jerusalem. Würde er sich in Wien auch so fehl am Platz fühlen wie hier zwischen den alten Häusern? Gewiss nicht!
Seine Schritte führten Joschi unbewusst – wie ein Wanderer, der glaubte, umherzuirren, und dabei doch einen direkten Weg nahm – zu jener Synagoge, in der er den jungen Rabbi verprügelt hatte. Der Mann musste mittlerweile schon über 70 Jahre alt sein. Hielt er in der Synagoge, die sich ebenfalls nicht verändert hatte, noch Gottesdienste ab? Sollte er sich bei ihm entschuldigen? Wofür? Eher würde er ihm noch eine scheuern. Dazu war er, wie er im Country Club bewiesen hatte, immer noch in der Lage.
Joschi ging weiter durch die zum Teil schwach beleuchteten Gassen, diesmal mit einem Ziel: Er wollte zum Café Royal, jenem Exilantentreff, das schon bei seinem letzten Besuch Anfang der 60er-Jahre einen neuen Namen hatte und nun Elvis American Diner hieß. Sein Freund Amos, der im Royal gespielt hatte und nach Amerika auswandern wollte, nur um am Ende in Hamburg Selbstmord zu begehen, hätte das neue Etablissement gewiss gemocht. Wie schön wäre es jetzt gewesen, mit ihm hier zu sitzen, etwas zu essen und zu trinken. Keinen Alkohol wie früher, natürlich.
Joschi stand eine Weile vor der Fensterscheibe, bis eine ältere, dralle Kellnerin, die die Kluft einer amerikanischen Diner-Angestellten trug, zu ihm blickte. Er drehte sich sofort um und ging weiter. Dabei wollte er sich von den Gedanken an seinen toten Freund losreißen, schaffte es jedoch nicht. Er meinte, Amos zwischen all den Radios, die aus den Bars heraus arabische, englische und hebräische Pop-Musik plärrten, singen zu hören: I get a kick out of you .
Erst als seine Wanderer-Beine Joschi zu jenem Zeitungsstand führten, an dem er vor fast zwanzig Jahren die Einladungskarte für Waltraut nach Amsterdam geschrieben hatte, hörte er den Gesang nicht mehr. Die Life-Magazine lagen an genau der gleichen Stelle wie damals. Nur dass diesmal nicht Brigitte Bardot auf dem Cover prangte, sondern Ajatollah Chomeini. Joschi sah sich den Kartenständer an und wunderte sich: Die schönste Erinnerung, die ihm in Jerusalem kam, war diejenige an die Tage mit Waltraut in Amsterdam.
Sie fuhren weiter nach Tel Aviv. Dabei hätte Joschi gerne noch einmal in seinem Leben Haifa gesehen. Aber es bestand die, wenn auch kleine, Gefahr, dass er mit Waltraut und David irgendwo auf der Straße, in einem Café oder Restaurant Dora begegnen würde. Zu sehen, dass er ein Kind hatte, würde seine Exfrau bestimmt schmerzen. Zudem müsste er David dann erklären, dass er schon einmal verheiratet gewesen und Gabi nur seine Halbschwester war.
Und man stelle sich vor, er würde auf Abraham treffen. Selmas Junge müsste nun 23 Jahre alt sein, und falls er wirklich sein unehelicher Sohn war, hätte er gewiss Ähnlichkeit mit jenem Joschi, der aus Wien hatte fliehen müssen. Doch was würde dieses Gewissheit bringen? Außer Schmerz für den jungen Mann und ihn? Und Selma und Jakov. Und Waltraut. Und Gabi und David.
Von Tel Aviv sahen Joschi und Waltraut lediglich aus dem Taxi heraus die Straßen sowie das Hotel und verschiedene Zahnarztpraxen von innen. Erst der dritte Zahnarzt, ein junger, aus dem Iran stammender Jude, kam mithilfe von Röntgenbildern der Ursache von Waltrauts mittlerweile übel eitriger Entzündung auf den Grund: Bei der Behandlung in Bremen war die Nadelspitze einer Betäubungsspritze tief im Fleisch abgebrochen und darin verblieben. Der junge Zahnarzt schaffte es in einer komplizierten Prozedur, sie zu entfernen. David nahmen die Eltern selbstverständlich nicht zu den Terminen mit, sondern gaben ihm Geld, um seiner neuen Leidenschaft, den Comics, nachzugehen. Er durfte sich so viele Hefte kaufen, wie er wollte. Eines hieß Avengers – übersetzt: die Rächer –, und Joschi erwischte sich bei dem Gedanken, dass er diese Superhelden gerne zu dem Bremer Zahnarzt schicken wollte.
In der Nacht nach der Zahn-OP ging es früh ins Bett, aber Waltraut konnte, da die Betäubung nachließ, nicht einschlafen und Joschi entsprechend auch nicht. Sie lagen im Dunkeln, damit David, der im Zustellbett schlief, nicht aufwachte, und unterhielten sich flüsternd. Waltraut sprach von ihrer Wut und ihrem Schmerz, dass Hinrich ihr in ihrer Not nichts von dem Lottogewinn abgegeben hatte. Und dass er die kranke Mama so im Stich gelassen hatte. Bei der Erinnerung an ihre Eltern sprach Waltraut auch über ihre eigene Kindheit und erzählte, wie sie als kleines Mädchen zusehen musste, als ein Nazi-Trupp einen versteckten Juden im Haus gegenüber gesucht hat …
«… dann haben sie den armen Mann aus dem Kamin gezerrt», Waltraut vermied es, laut zu schluchzen, damit David nicht aus dem Schlaf schreckte.
Joschi drückte seine Frau an sich und flüsterte: «Du kannst mir alles erzählen, was dich bekümmert, alles.»
Und Waltraut erzählte alles. Wirklich alles. Zuallererst von ihrer Kindheit im Waggon: «Ich war zehn. Ich lag im Eisenbahnwagen in meinem Bett. Ich musste husten. Immer husten. Und dann sprang etwas auf mich. Eine Ratte. Wir lebten unter Ratten, Joschi …»
Je mehr Waltraut sprach, desto mehr musste sie weinen. Joschi blickte immer mal wieder zu David, ob er auch wirklich schlief. Der Junge sollte das, wie auch sonst alles Schreckliche aus der Vergangenheit der Eltern, nicht mitbekommen.
«Bei der Demonstration auf dem Marktplatz habe ich gar nicht begriffen, um was es geht, und sie haben mich ins Gefängnis gesteckt. Und der Polizist hat meine Brüste begrapscht … Ich habe mich so geschämt …»
Joschi war wütend auf diesen Mann. Warum war er da noch nicht in Waltrauts Leben gewesen, um sie zu beschützen?
Aber jetzt war er da. Er hielt sie fest. Ließ sie weinen.
«Ich habe dir nie von Friedrich erzählt …», flüsterte Waltraut, als sie wieder etwas gefasster war.
«Erzähl mir von ihm», sagte Joschi. Er hatte nie etwas über den ersten Mann hören wollen, aber wenn es Waltraut guttat, dann sollte es so sein.
«Er hat mich verlassen, bevor Gabi kam.»
«Verlassen?»
«Ist zum Sterben gegangen, nach Essen. Und ich war in der Schwangerschaft allein … völlig allein …»
Es tat ihr nicht gut.
«… ich habe in die ungeschälte Banane gebissen, woher sollte ich denn wissen …»
Erinnerungen taten nie gut.
Außer die wenigen guten.
«Schlaf jetzt ein bisschen …», sagte Joschi.
«Ich will nach Hause …»
«Ich buche morgen die Flüge um. Sodass wir direkt nach deinem Zahnarzttermin zum Flughafen fahren.»
«Danke», sagte Waltraut und schloss die Augen. Sie hatte sich so müde geweint, dass selbst der Zahnschmerz sie nicht mehr wachhalten konnte.
Joschi aber starrte im Dunkeln an die Decke: Er war nach Israel gefahren, um sich noch einmal an die Vergangenheit zu erinnern. Und nun hatte er Dunkles aus Waltrauts Vergangenheit erfahren. Er musste sie vor weiterem Leid beschützen, solange er konnte.
«Wie war der Urlaub in Israel?», fragte Rosl in der orangenen Küche der Safiers. Waltraut holte aus dem Ofen den Weihnachtsbraten, von dem sie ahnte, dass die Schwägerin etwas an ihm auszusetzen haben würde, wie bei allem, was Waltraut servierte. Rosl machte keine Anstalten, beim Kochen zu helfen, und lehnte mit einem Glas Sherry in der Hand an der Fensterbank. Es würde ihr reichen, ein paar Teller reinzutragen, um den Männern im Wohnzimmer zu demonstrieren, wie tüchtig sie mithalf. Die anstrengende Schwägerin wurde mit dem Alter immer schmaler, kleiner und kiebiger. Joschi entschuldigte das damit, dass sie unter dem schwächer werdenden Augenlicht litt und ihre dicke Brille hasste, aber Waltraut wusste, dass es eine Charakterfrage war. Nie würde sie der Schwägerin gut genug für ihren Bruder sein, egal wie viel Mühe sie sich auch gab. Wie hatte Charlie noch die Beziehung der Geschwister genannt? Affenliebe!
«Schön war es in Israel», sagte Waltraut, während sie auf den Braten sah und sich ärgerte, dass er oben an einigen Stellen bereits schwarz war. Hoffentlich war das Fleisch innen wenigstens durch. Warum versuchte sie sich immer für den Besuch an den feinsten Mahlzeiten, obwohl sie doch gar nicht kochen konnte? Das nächste Mal würde sie, egal was Joschi sagte, einfach eine Dose Hummersuppe aufmachen.
«Habt ihr auch Marjem getroffen?»
«Joschi hat sie gesehen», er hatte Waltraut von der Begegnung erst erzählt, als sie wieder in Bremen waren.
«Und Abraham habt ihr auch nicht getroffen?»
«Wer ist Abraham?»
«Selmas Sohn.»
«Und wer ist Selma?»
Rosl lächelte süffisant und nahm einen Schluck Sherry. Waltraut begriff, dass sie mit der Nachfrage in eine Falle getappt war, sie wusste nur nicht, in was für eine.
«Er hat dir nichts von ihr erzählt?»
«Sollte er?», fragte Waltraut und begann, den Rotkohl auf die Teller zu verteilen.
«Finde ich schon.»
«Dann wird er das gewiss auch tun.»
Rosl schwieg, allerdings nur für einen Augenblick, dann setzte sie wieder an: «Du hast ein Recht, es zu erfahren, und wenn Joschi es dir nicht sagt …»
«Er wird es mir schon sagen.»
«Das wird er nicht», hielt Rosl dagegen. Man sollte ihr das Glas wegnehmen. Je mehr sie trank, desto spitzzüngiger wurde sie. «Abraham ist Joschis Sohn.»
Waltraut schaffte es gerade noch, die Kelle Rotkohl nicht neben den Teller zu platzieren.
«Von Selma. Sie war seine Nachbarin. Verheiratet mit Jakov. Beide Freunde von ihm und Dora in Haifa.»
Waltraut stellte den Topf ab, legte die Kelle hinein und sah ihre Schwägerin an. Die tat so, als ob sie Mitgefühl hätte: «Es tut mir leid, irgendwann musstest du das erfahren.»
Sie musste es überhaupt nicht erfahren. Rosl sagte es nur, um ihr wehzutun. Vielleicht log sie auch. Bei ihr konnte man sich nie sicher sein.
«Er hatte auch ein Kind in Wien. Mit einer Jüdin aus bester Gesellschaft. Er hat sie Hedy genannt.»
Waltrauts Beine gaben nach. Sie setzte sich auf einen Küchenstuhl.
«Es tut mir wirklich leid», Rosl legte eine Hand auf ihre Schulter.
«Nimm die Hand da weg», keuchte Waltraut.
«Waltraut.»
«Nimm … die … Hand … da … weg.»
«Wie du meinst», mit erhobenen Händen trat Rosl ein paar Schritte zur Seite. «Du hast ein Recht, es zu wissen.»
So gerne hätte Waltraut sie angeschrien: ‹Und du hast kein Recht, mich zu verletzen!› Aber sie sagte rein gar nichts. Nicht weil Joschi ihr immer wieder eingebläut hatte, lieb und freundlich zu seiner Schwester zu sein, sondern weil sie doch, trotz ihres Temperaments, ein angeblich feiner Mensch war. Nein, diese Frau sollte nicht über sie triumphieren. Waltraut wollte Contenance bewahren wie die englische Queen. Oder wenigstens wie eine Adelige aus Mama Henriettes Erzählungen.
Waltraut befahl ihren Beinen, sich zusammenzureißen, stand auf, ging zum Herd, goss die Kartoffeln ab und sagte, mit dem Rücken zur Schwägerin: «Wenn du einmal in deinem Leben wirklich für mich da sein willst, dann trag doch bitte den Braten ins Wohnzimmer.»
Waltraut hörte, wie Rosl Luft holte, um zu widersprechen. Sie drehte sich um und erwiderte den beleidigten Blick der Schwägerin mit einem hasserfüllten. Rosl beschloss zu schweigen, nahm die Platte mit dem Braten und verließ die Küche. Waltraut stellte den Topf mit den Kartoffeln neben die Spüle, zündete sich eine Zigarette an und nahm ein paar beruhigende Züge. Dann fasste sie einen Entschluss: Niemals würde sie Joschi nach den beiden unehelichen Kindern fragen. Rosl würde nicht die Genugtuung bekommen, einen solchen Keil in ihre Ehe zu treiben und damit auch noch ihre Kinder zu verletzen. Ihren eigenen Schmerz würde sie schon aushalten, um die Familie zu beschützen. Leben heißt leiden.
Und dann wiederum hieß das Leben doch nicht leiden. Es war fast wie ein Wunder: Eine Kette von Glücksspielautomatenläden wollte die Räumlichkeiten des Country Club übernehmen. Gut, die Safiers konnten sich von dem Geld nicht zur Ruhe setzen – Joschi bezog nun mal gar keine Rente, und Waltraut war dafür noch viel zu jung –, aber die Wohnung konnte weitestgehend abbezahlt werden und Waltraut über ein paar Monate hinweg jeden Tag ausschlafen. Während Joschi immer neue Geschäftsideen auf Notizzettel schrieb, fand sie, dass er sich seit der Israel-Reise verändert hatte. Zwar hatte er sich letztens aufgeregt, weil sein Sohn, wie all dessen Teenagerfreude, die für diese neuen Grünen waren, ein gefärbtes Palästinensertuch trug. Doch als Waltraut Joschi erläutert hatte, dass der Junge gar nicht umriss, worum es da ging, und er mal mit seinem Israel aufhören sollte, lenkte er schnell ein. Seit dem Besuch in Israel war es Joschi nicht mehr so wichtig. Fast wirkte es so, als habe er seine Vergangenheit gesehen und mit ihr abgeschlossen. Allerdings nicht mit der in Wien. Er redete immer häufiger davon, noch einmal im Leben in die Stadt seiner Geburt zu reisen. Vielleicht war es für sie auch an der Zeit, sich ihrer Vergangenheit zu stellen? Dem, was noch von ihr übrig war?
Klaus sah schmaler aus als früher. Die Haare waren licht. Fast so wie bei ihrem vor einer Weile verstorbenen Vater. Aber er hatte sich für sie einen Anzug angezogen und strahlte, als er auf sie im Café Knigge zuging. Das Strahlen erstaunte Waltraut, weil sie es gewesen war, die vor fast zwanzig Jahren den Kontakt abgebrochen hatte. Sie erhob sich vom Tisch. Der Bruder umarmte sie. Das hatte er noch nie so herzlich getan!
Waltraut hatte bis zuletzt gezweifelt, ob es richtig war, ihn anzurufen und ein kleines Treffen vorzuschlagen. Nun war sie froh, es getan zu haben. Klaus setzte sich, die beiden bestellten jeweils ein Stück Rhabarberkuchen und plapperten sogleich wie Wasserfälle über alles, was in ihrem Leben los war:
«Joschi überlegt, einen Tabakladen aufzumachen, mit teuren Pfeifen und Whiskey und so.»
«Dagmar und ich haben unser Haus abbezahlt. Bald müssen wir auch die Wohnung oben nicht mehr vermieten.»
«Joschi hat viele Ehrenämter.»
«Meine jüngste Tochter wird Krankenschwester.»
«Zu Zopf-Inge habe ich gar keinen Kontakt mehr.»
«Papa liegt in Walle auf dem Friedhof. Er hat das ganze Lotto-Geld durchgebracht. Das hätten wir beide gut gebrauchen können.»
«Gabi arbeitet jetzt in einem Autohaus und hat eine eigene kleine Bude.»
«Ich habe mich nie getraut, dich anzurufen.»
«Joschi und ich haben Frau Siegen im Pflegeheim besucht. Die lagen zu fünft im Zimmer und vegetierten vor sich hin. Eine Frau hatten sie ans Bett fixiert.»
«Du hast Mama dieses Schicksal erspart.»
Anerkennung.
Von ihrem Bruder.
Das kannte Waltraut nicht. Von keinem in ihrer Familie. Oder von ihren Kindern. Eigentlich nur von Joschi, der sie immer über den grünen Klee lobte. Selbst ihr Essen. Liebte sie ihren Mann deswegen noch?
«Ich würde mich freuen», sagte Klaus, «wenn wir uns in Zukunft häufiger sehen könnten als alle zwanzig Jahre.»
Waltraut lächelte ihn an – Klaus war nicht wie Vater Hinrich. Sie war zu hart zu ihm gewesen. Zu lange. Und damit auch zu sich. Sie nahm seine von den Jahrzehnten der harten Arbeit raue Hand und sagte: «Ich mich auch.»
Beim Landeanflug auf den Flughafen Wien-Schwechat musste Joschi erneut an Rosls Gedicht denken:
Ich kehrte nach Jahren nach Wien mal zurück
Und fand auch das Gässchen, doch ich hatte kein Glück …
Hoffentlich hatte er Glück. Im Gegensatz zu seiner Schwester hatte er Israel nie geliebt, doch an dem Wien seiner Jugend hing sein Herz. Das Kabarett. Der Prater. Die Mädchen. Selbst ‹Wien bei Nacht›. Wie hart war dagegen Israel, wie langweilig Bremen. Wer brauchte New York, Neu-Delhi oder die Elfenbeinküste, wenn er sich an Wien erinnern durfte?
Im Alter von 23 Jahren hatte Joschi die Leopoldstadt verlassen, nun war er knapp 70, als er mit der Familie – allerdings ohne Gabi, die lieber mit Freunden nach Dänemark fuhr – durch sie spazierte:
Die Schilder der Läden, die waren mir fremd …
Ich hatt’ so viel Fragen, doch ich war gehemmt
In der Rotensterngasse, die so viel sauberer aussah als in seiner Kindheit, betrachtete Joschi mit Waltraut und David, der einen Walkman um den Hals trug, das Haus, in dem er als Kind und junger Mann gelebt hatte und das kaum wiederzuerkennen war: Es war umgebaut und hellgrau gestrichen. Als Joschi sich traute, die Haustür zu öffnen, schlug ihm auch kein feuchter Muff gemischt mit Essensdüften entgegen, sondern der Geruch von Reinigungsmitteln:
Im Hause da wohnte kein einziger Kohn
Kein Rappaport, Ginsberg, kein Abrahamson
Joschi bekam von dem Anblick Beklemmungen und ließ von seinem Vorhaben ab, die Treppen hochzugehen und an die Tür der alten Wohnung zu klopfen, um die jetzigen Bewohner zu bitten, die Zimmer, die einst sein Heim waren, noch einmal ansehen zu dürfen. Stattdessen ging er mit Frau und Sohn zu jenem Ort, an dem einst die Zwi-Perez-Chajes-Schule stand:
Man lebt ferner – so-fern man lebt! – ferner,
ferner …
ferner …
Im Gegensatz zu seiner Schwester fühlte Joschi sich mit einem Mal nicht fern. Die Schule war zwar zu einem Wohnhaus umgebaut worden, und dennoch überkamen ihn lauter schöne Erinnerungen an eine unbeschwerte Zeit, in der der Lateinunterricht das größte Problem in seinem Leben darstellte, das man jedoch im Prater oder bei geschwänzten Schulstunden im Schwimmbad herrlich schnell vergessen konnte.
Joschi sah in seinen Gedanken das große dunkelbraune Eichen-Schultor vor sich, das es gar nicht mehr gab: Es ging auf, und alle strömten sie heraus. Die Mitschüler. Die Lehrer. Der Schulleiter. Sie traten zwischen all den modernen geparkten Autos – ein weißer Mercedes, ein blauer Chevrolet, ein klappriger popelgrüner VW -Käfer, und, und, und – auf die Straße und schnatterten und lachten. Einige von ihnen sangen sogar. Aber nicht etwa hebräische Lieder, das hätte den Zionisten unter den Lehrern gefallen, sondern: Veronika, der Lenz ist da.
Und als Joschi mit Waltraut und David, der sich seinen Walkman wieder aufgesetzt hatte, zwischen all den Schülern und Lehrern weiterging, sah er auch die anderen Menschen aus der Vergangenheit die Leopoldstadt von heute beleben: die Händler, die gelockten orthodoxen Juden, die Kohns, die Rappaports, die Ginsbergs, die Abrahamsons. Hedy! Er erinnerte sich an all die Gesichter, die zuvor in seinen Gedanken verblasst waren. Welch ein Glück es war, sie wiederzusehen.
Am nächsten Tag besuchte Joschi mit Waltraut und David im strahlenden Sonnenschein das Grab der Eltern auf dem Wiener Zentralfriedhof. Der Stein wirkte fast wie neu, Rosl bezahlte für die Pflege. Auch wenn nur die Asche des Vaters darin lag – die Überreste der Mutter waren irgendwo bei Lodz mit hundert anderen verscharrt –, tat es Joschi gut, vor einem Grab zu stehen. Waltraut und David standen schweigend neben ihm. Weder wollte Joschi sagen, was in ihm vor sich ging, noch seinem Sohn erzählen, wie dessen Großeltern umgekommen waren. Er wollte den Jungen vor der Vergangenheit beschützen. Und nicht vor ihm weinen müssen.
Das Café Central sah fast genauso aus wie früher, als Joschi dort mit seinem Vater an vielen gemeinsamen Geburtstagen Palatschinken gegessen hatte: hohe gewölbte Decken, wunderschöne alte Fenster – wenn das Café, in dem Literaten, Schauspieler und Kabarettisten schon immer ein und aus gingen, kein Café gewesen wäre, hach, es hätte auch eine schöne Kirche sein können, in der man nicht irgendeinem Gott huldigen würde, sondern den vielen Kuchen in der prächtigen Auslage und dem Kaffee mit Schlagobers.
Selbstverständlich bestellte Joschi für alle Palatschinken, auch wenn David lieber etwas mit Schokolade haben wollte und Waltraut nur einen Kaffee ohne Schlagobers. Joschi war auch der Einzige von ihnen, der den Palatschinken genoss. Aber nicht, weil er so außergewöhnlich schmeckte – in der Erinnerung war er über die Jahrzehnte immer leckerer geworden, dass der echte nicht mithalten konnte –, sondern weil in seinen Gedanken erneut das alte Wien auflebte: Dahinten saß doch der Hans Moser mit dem Farkas zusammen, Karl Kraus an einem anderen Tisch in lebhaftem Gespräch mit … War das der Friedrich Hollaender, der für Rosls Kabarett ‹An allem sind die Juden schuld› geschrieben hatte?
Sie lebten.
So wie auch sein Vater, der genüsslich neben Joschi den Palatschinken aß und sich dabei wie immer bekleckerte. In Joschis Gedanken saß Vater Israel mit Sohn, Schwiegertochter und Enkel zusammen. Joschi lud auch noch Mama Scheindel an den Tisch. Jetzt speisten sie alle gemeinsam, ganz so, wie es in anderen Familien normal war.
Sofern man lebt.
Solange Joschi sich an die Toten erinnern würde, lebten sie noch.
Zurück in Bremen, war es an der Zeit, über die Zukunft zu reden. Waltraut und Joschi gingen ins China-Restaurant ‹Nanking› und bestellten sich als Hauptgericht Schweinefleisch süß-sauer, das Joschi so gerne und Waltraut leidlich mochte. Begeistert erzählte er von dem Hillmann-Projekt, das zwischen Bahnhof und Innenstadt gebaut wurde. Oben sollte ein Luxushotel rein und unten eine Passage, in der lauter edle Läden aufmachen würden. Sogar das Delikatessenbistro Grashof, das alle reichen Bremer besuchten, würde aus der Sögestraße dorthin umziehen.
«Und alle Leute, die vom Bahnhof in die Stadt wollen oder zurück, gehen durch die Passage, da man so den Weg abkürzt. Bisher muss man ja beim Europa-Kino um die Ecke.» Joschi schien richtig verliebt in das Projekt zu sein.
«Und du willst da mit einem Tabak-und-Whiskey-Laden rein?»
«Nein, in der Stadt und in Bahnhofsnähe gibt es schon welche. Außerdem sind die Mieten in der Passage so teuer, dass es sich nicht lohnen würde.»
«Also gehen wir woandershin.»
«Nein, wir machen in der Passage etwas anderes», lächelte Joschi, und seine Augen wirkten jung.
«Und was?»
«Rate mal.»
«Wenn du jetzt was von einem Edel-Restaurant erzählst, hast du gleich Gesicht süß-sauer.»
Joschi lachte.
«Ich habe keine Lust zu raten.»
«Schmuck.»
«Schmuck?»
«Ja. Schmuck.»
«Du hast doch keine Ahnung davon.»
«Aber du den besten Geschmack der Welt.»
Waltraut glaubte zwar nicht, dass sie den besten auf der Welt hatte, bildete sich aber ein, Stilgefühl zu besitzen.
«Und woher nehmen wir den Schmuck?»
«Da gibt es Zwischenhändler, von dem wir ihn beziehen. Das ist kein Problem.»
«Aha …», so einfach waren die Dinge manchmal für Joschi.
«Du siehst nicht begeistert aus.»
Joschi hatte recht. Dabei hatte Waltraut gar nichts gegen den Verkauf von Schmuck. Im Gegenteil, es würde ihr Freude bereiten, Frauen dabei zu helfen, sich aufzuhübschen, wie früher bei Karstadt. Und dennoch nagte etwas an ihr: Wieder einmal fällte Joschi eine Entscheidung, ohne sie zu fragen. Dabei hatte sie es doch nach all dem, was sie getan hatte, um die Familie nach dem Scandia-Konkurs zu retten, und nach den Jahren der Schufterei im Country Club, verdient, stärker einbezogen zu werden.
«Hast du eine bessere Idee?»
Er fragte sie?
«Waltraut?»
Er wollte es wirklich wissen.
Jetzt müsste sie schnell eine Idee haben. Schmuck war gut. Aber gab es nicht etwas Besseres? Schminke? Parfüm? Nein, es müsste etwas Feines sein, mit dem man gutes Geld machen könnte.
«Dessous», sagte sie, noch bevor der Gedanke vollständig geformt war.
«Dessous?», staunte Joschi.
«Ja, ja», antwortete Waltraut und begann ihre Idee großartig zu finden. «So einen Laden mit edlen, teuren Dessous gibt es in Bremen noch nicht.»
«Ich mag Dessous», grinste Joschi. «Besonders an dir.»
«Blödmann!», antwortete sie grinsend.
«Du könntest sie bestimmt gut verkaufen», wurde er etwas ernster.
«Natürlich kann ich das.»
«Aber mit Schmuck kann man mehr Geld machen.»
Das sah Waltraut ein. Und dennoch störte es sie. Ihre Meinung war erstmals wirklich gefragt, und sie wollte, dass sie auch zählte: «Wir könnten doch beides verkaufen.»
«Beides?»
«Wenn eins nicht läuft, stehen wir noch auf einem anderen Bein und fallen nicht um.» Beinahe hätte sie hinzugefügt: ‹Wie schon mal.›
«Das klingt gescheit.»
«Du hast ja auch eine gescheite Frau.»
«Ja, die habe ich», sagte Joschi aufrichtig.
«Ich weiß auch schon, wie wir den Laden nennen», eine Idee folgte schlagartig der anderen.
«Und wie?»
«Dessous und Diamanten.»
Joschi platzte fast vor Stolz: Nur wenige Tage vor der Eröffnung von Dessous und Diamanten wurde ihm in der oberen Rathaushalle das Bundesverdienstkreuz verliehen. Vorgeschlagen hatte ihn der Bremer Bildungssenator, mit dem Joschi sich im Laufe der letzten Jahre angefreundet hatte. Der Politiker war von Joschis Arbeit als Vorsitzender der Gesellschaft für Christlich-Jüdische-Zusammenarbeit Bremen beeindruckt: Es gefiel ihm, wie Joschi sich zusammen mit evangelischen und katholischen Gläubigen dafür einsetzte, dass Christen den jüdischen Glauben besser verstanden und somit Vorurteile gegenüber den Juden abbauten, auch wenn es in Bremen kaum hundert Juden gab und Joschi dieses Ehrenamt nie angetreten hätte, wenn sein eigener Sohn nicht Teil der jüdischen Gemeinde wäre.
Aber Joschi wäre nicht Joschi gewesen, wenn er sich nicht auch ein wenig über den Pomp und vor allem über sich selbst lustig gemacht hätte. Als David ihn in der prachtvollen Rathaushalle kurz vor der Verleihung fragte: «Papa, wofür genau bekommst du eigentlich das Verdienstkreuz?», antwortete er: «Ich habe den Senator besoffen gemacht.»
Doch als ihm der Bildungssenator in Vertretung des Bürgermeisters, der wiederum den Bundespräsidenten vertreten hätte, das Kreuz an die linke Brust heftete, war es für Joschi eine große Ehre: Er, der kleine Wiener Jude, wurde von Deutschland ausgezeichnet.
Danach blickte er zu allen Menschen, die er liebte: Waltraut, die besser gekleidet und viel schöner war als alle anderen Damen im Saal. David, der sogar einen Anzug trug. Und Gabi, die mit schultergepolstertem Jackett, Rock und vor allem mit ihrer neuen Frisur an Prinzessin Diana erinnerte. Er war vor einem Monat 70 Jahre alt geworden. Wenn er heute sterben müsste, würde er es als glücklicher Mann tun.