Kapitel 4
Kaum hatte Ulrich mit einer großen Papiertüte voller Frühstücksleckereien die Halle betreten, prasselten wüste Beschimpfungen seitens Dr. Müller auf ihn ein.
»Da ist ja unser großer Chef. Du verdammter Bastard! Sieh mal, was du angerichtet hast. Diesen armen Kerl da hast du auf dem Gewissen! Soll das unser aller Schicksal sein, du Dreckskerl?«
Helgas Schluchzen, das Ulrich aus ihrem Zimmer vernahm, untermalte den Anblick, der sich ihm bot. Wie paralysiert ließ er die Tüte zu Boden fallen, als er den alten Krause erblickte, der reglos auf seiner Werkbank lag, sein verbliebenes Auge nach oben gedreht. Sein bewegungsloser Brustkorb verriet unmissverständlich, dass sein Atem versiegt war.
Ulrich löste sich aus seiner Starre, rannte auf den Fabrikanten zu, fühlte seinen Puls, seinen Herzschlag. Inaktiv. Sein Körper war noch warm, was darauf schließen ließ, dass der Tod erst vor Kurzem eingetreten sein musste.
Das konnte nicht sein. Das durfte nicht sein! Es war das Schlimmste, was überhaupt hätte passieren können. Ohne ein Wort zu verlieren, hämmerte Ulrich wie besessen mit beiden Händen auf die Brust des Mannes ein, um ihn ins Leben zurückzuholen. Er versuchte die obligatorische Mund-zu-Mund-Beatmung, obwohl er von solchen Maßnahmen so gut wie gar keine Ahnung hatte. Doch all seine Bemühungen blieben erfolglos. Krause war tot.
Und sofort wurde ihm klar, was das letztendlich zu bedeuten hatte: Er hatte seinen Schuldner unterschätzt. Dieser wehrte sich mit allen Mitteln, selbst mit moralisch sehr verwerflichen, um sich seiner Lieferpflicht zu entziehen. Dabei waren ihm sogar ganz augenscheinlich Menschenleben völlig gleichgültig.
Vor Entsetzen weiteten sich Ulrichs Augen. Er wandte sich von dem Anblick ab und schlug die Hände vor dem Mund zusammen.
»Spielt der doch tatsächlich den Überraschten!«, rief Dr. Müller ihm zu. »Was du mit ihm gemacht hast, ließ doch gar kein anderes Ergebnis zu. Du hast einen alten Mann zu Tode gefoltert, du Schwein!«
»Halten Sie Ihren Mund, Doktor!«, herrschte Ulrich ihn an. »Ich muss nachdenken.«
»Über was?«, setzte der Mediziner hinzu. »Wie du den Rest deines Lebens im Gefängnis sinnvoll ausfüllst? Glaubst du wirklich, dass du ungeschoren davonkommst?«
Ulrich schwieg. Seine Gedanken überschlugen sich. Wie konnte die Situation jetzt noch gerettet werden? Dass er nun einen Mitarbeiter weniger hatte, war ja keineswegs das Kardinalproblem. Das Schlimmste war, dass man ihm das ankreiden würde, wenn es sich nicht wieder rückgängig machen ließ. Und das stellte eine schier unüberwindliche Hürde dar. Natürlich konnte er die Wiederbelebung von Ernst Krause, zu welchem Zeitpunkt auch immer, gewissermaßen als Folgeforderung mit auf die Bestellung setzen. Aber wenn schon bei den einfachsten Sachen ein solcher Widerstand geleistet wurde, dann würde sich der anscheinend bewusst säumige Lieferant in dieser Hinsicht erst recht mit aller Kraft wehren. Also musste Ulrich einen anderen Weg finden, um die entgleiste Sache wieder in die richtigen Bahnen zu leiten. Er konnte zum Beispiel die Forderung stellen, straffrei aus der Sache hervorzugehen. Vermutlich war das zwar kein einfacher Weg, doch es erschien ihm irgendwie bodenständiger, als zu verlangen, dass Tote wiedererweckt wurden.
Ulrich weigerte sich, Schwäche zu zeigen. Entschlossen näherte er sich einer der Wände, richtete seinen Blick auf das Oberlicht und begann eine feurige Tirade: »Weißt du eigentlich, was du angerichtet hast? Doch das wird dir nichts nützen. Im Gegenteil erweitere ich meine Forderung auf strafrechtliche Immunität. Du wirst auf keinen Fall einfach so davonkommen. Du wirst liefern müssen. Und je eher du das tust, desto einfacher wird es für alle Beteiligten. Ich fordere dich daher nunmehr auf, meine Bestellungen unverzüglich umzusetzen. Andernfalls stehen mir weitere Mittel zur Verfügung, um die Ausführung ein für alle Mal zu erzwingen.«
»Ulrich«, wimmerte Helga durch das Gitter. »Du bist krank. Bitte hör auf damit!«
Ulrich wandte ihr den Blick zu. Sein Gesicht nahm einen sanften Ausdruck an. Er hob die Tüte vom Boden auf und näherte sich dem Zimmer.
»Tut mir leid, Liebes«, sagte er mit sanfter Stimme. »Es lag mir fern, dir Angst einzujagen. Mach dir keine Sorgen, alles wird gut. Für uns beide. Hier, stärk dich erst einmal.«
Er griff in die Tüte und holte zwei belegte Brötchen sowie einen verschlossenen Becher Kaffee daraus hervor, reichte ihr beides durch das Gitter. Mit vorwurfsvoller Miene nahm sie die Sachen entgegen. Dann aß und trank sie schweigend.
»Du kannst mehr haben, wenn du größeren Hunger hast«, meinte Ulrich. »Ich habe für drei eingekauft. Die dritte Portion könnt ihr euch gern teilen.«
»Du kannst mich mal am Arsch lecken!«, rief Dr. Müller von hinten dazwischen. »Mir ist der Appetit vergangen.«
»Aber Doktor«, antwortete Ulrich und ging auf ihn zu. »Sie müssen doch was essen. Gerade Sie sollten doch wissen, dass …«
»Schnauze!«, fuhr er ihn an. »Mir ist noch schlecht von gestern. Der Fraß liegt mir wie ein Stein im Magen, vor allem durch diese Diagonalhaltung. Als ob du dich um meine Gesundheit scheren würdest. Das ist echt der Hammer!«
»Sie müssen es wissen«, gab Ulrich auf. »Du kannst also drei Portionen haben, Helga. Vielleicht reicht das ja sogar für Mittag.«
Das Mädchen schüttelte schweigend den Kopf. Ulrich zuckte mit den Achseln und legte die Tüte mit den restlichen zwei Mahlzeiten auf einem verdreckten Tisch ab. Mittag – das war das Stichwort. Er musste bis zum Mittag wieder zu Hause sein, sonst würde er Krach mit seiner Mutter bekommen. Und bis dahin hatte er etwas zu erledigen. Krauses Leichnam musste verschwinden! Und er konnte nicht einfach mit dem Toten rausspazieren und ihn irgendwo abladen. In einer Stadt wie Frankfurt gab es überall Augen; man würde ihm schnell auf die Schliche kommen. Nein, die Leiche musste in kleinere Stücke zerteilt werden. Die unkenntlich verpackten Einzelteile konnte er dann bei Nacht in der Gegend verstreuen. Er würde es vermutlich kaum hinbekommen, den Körper in klitzekleine Würfel zu zerschneiden, die draußen – selbst offen platziert – unauffällig wären. Aber es reichte womöglich, die Gliedmaßen zu dreiteilen und in fremden Privatmülleimern zu entsorgen. Lediglich den Torso würde er so lassen, wie er war. Das Auseinanderpflücken der Eingeweide würde sonst eine unsägliche Schweinerei machen. Ulrich wurde allein bei dem Gedanken daran übel. Fast fühlte er sich wie ein wahnsinniger Mörder. Dabei war doch das Gegenteil der Fall; er versuchte, die Dinge wieder ins Lot zu bringen.
»Verdammt, ich muss scheißen!«, kam es plötzlich von Dr. Müller.
Das war der ungeeignetste Moment dafür. Selbst auf Helgas morgendliche Waschaktion musste heute aus Zeitgründen verzichtet werden. Aber würde er dem Arzt die saubere Verrichtung seiner Notdurft verweigern … Ulrich bewegte sich seufzend zu einem Spind, in dem er einige Utensilien für seine Mitarbeiter aufbewahrte, und holte eine große Plastikflasche für den Urin, eine Rolle Toilettenpapier und ein Handtuch daraus hervor. Diese Handtücher hatte er in rauen Mengen besorgt. Er hatte hier keine Waschmaschine und Mutter hätte verfängliche Fragen gestellt, wenn er täglich mit braun verschmierten Lappen nach Hause gekommen wäre. Daher mussten sie nach jedem Stuhlgang entsorgt werden.
Zurück bei Dr. Müller, löste Ulrich zunächst die Sperre, welche die Schriftrolle im Anus des Arztes fixierte, und zog den Gegenstand mit einem Ruck hervor. Ein kurzer, heller Aufschrei wand sich aus Dr. Müllers Kehle.
»Erst pinkeln?«, fragte Ulrich.
»Nein, du Blödmann«, ranzte der Mediziner ihn an. »Ich habe vom Scheißen gesprochen!«
Kommentarlos legte Ulrich ihm das Handtuch unter den entzündeten Hintern und breitete es auf dem Gestell aus. Für einen Haufen war da Platz genug. Während Dr. Müller vor Schmerz das Gesicht verzog, als er seinen Schließmuskel bemühte, begutachtete Ulrich das eingebrannte Hermes-Symbol auf dessen Brust. Auch dieses war bedenklich gerötet. Aber das würde sich wieder legen; kein Grund für eine Bestellungserweiterung.
»O mein Gott, tut das weh«, jammerte Dr. Müller, als die Verstopfung sich löste und die wunden Stellen in seinem Spundloch passierte.
»Tut mir leid, Doktor«, meinte Ulrich verständnisvoll. »Aber das ist ja nur vorübergehend.«
Tränen schossen dem Arzt in die Augen, als die ersten Köttel auf das Handtuch fielen. Weinerliche Laute kamen aus seinem Mund, begleitet von einem bedrohlichen Blubbern aus seinem Bauchraum. Mit einem Stoß befreite sich der harte Stuhl endlich aus seinem Darm. Doch es folgte unweigerlich das, was das eklige Geräusch im Vorfeld angedeutet hatte. Hinter der Verstopfung wartete bereits ein zähflüssiger Durchfall. Und er war es auch, der die Sperre wie ein Rammbock einfach herauspresste. Explosionsartig verschaffte sich der Fäkalschleim sein Recht und besudelte in einer einzigen Sekunde das gesamte Handtuch. Und nicht nur das – nein, die dunkle Schlacke eroberte darüber hinaus das Gestell, auf dem sich der Arzt befand, beschmutzte dessen Beine und lief an den Kanten der darunter befindlichen Werkbank herunter. Durch die unkontrollierte Entleerung verlor der Mediziner die Kontrolle über seine Blase, die zeitgleich ihren Inhalt preisgab. Sein Penis bäumte sich auf und in hohem Bogen spritzte Urin wie aus einem losgelassenen Wasserschlauch durch die Gegend.
Ulrich konnte gerade noch rechtzeitig zur Seite springen. Fast wäre er von den angriffslustigen Fäkalien getroffen worden. Seine Mutter hätte ihn auseinandergenommen, hätte er sich so zum Mittagessen zu Hause blicken lassen, ganz zu schweigen von der Erklärungsnot, in die er geraten wäre. Aus sicherer Entfernung beobachtete er das abstoßende Szenario. Allmählich baute sich der Druck im Inneren des Arztes ab. Eine verwässerte braune Masse, ein widerlicher Mix aus Durchfall und Urin, lief in stinkenden Strömen von der Bank zu Boden.
Ulrich wandte sich ab, schlug wieder die Hände vor das Gesicht, schüttelte verzweifelt den Kopf.
»Verdammt, verdammt!«, stieß er hervor. »Das darf doch alles nicht wahr sein. Sie als Arzt hätten das doch kommen sehen müssen!«
Nun hatte er ein weiteres Problem, das beseitigt werden musste. Und es war schon neun Uhr durch. Allein die Reinigungsaktion würde mindestens bis Mittag dauern. Obendrein hörte er, wie Helga sich in ihrem Zimmer übergab. Auch das noch. Dabei hatte er ganz andere Dinge vorgehabt. Doch den Tag über würde er wohl genug zu tun haben. Die Bank mit dem X-Gestell reinigen, Helgas Zimmer säubern, die Leiche zerkleinern. Und Letzteres würde er als Erstes erledigen. Sollten die beiden ruhig ein wenig in ihrem Dreck schmoren; das Handtuch würde er in diesem Zustand ohnehin nicht anrühren. Konsequenzen für Fehlverhalten – so erzog man seine Mitarbeiter. Es stank zwar jetzt fürchterlich in der Halle, aber Ulrich dachte auch ein Stück weit wirtschaftlich. Beim Auseinandernehmen des Toten würde sicherlich sowieso einiges an Blut freigesetzt. Wenn er es schaffte, Krause bis zur Essenszeit fertig zu bearbeiten, konnte er den Nachmittag nach seiner Rückkehr in Ruhe damit zubringen, hier sauber zu machen. Ja, das war ein guter und vernünftiger Plan. Organisation war halt das halbe Leben.
Lediglich Helga warf er ein sauberes Handtuch durch das Gitter mit der Bitte, schon mal das Gröbste zu beseitigen. Sie nahm es schweigend entgegen.
Als Nächstes löste Ulrich die Fesseln seines verstorbenen Chefs, bewegte sich zu einem von ihm selbst eingerichteten Werkzeugschrank und holte eine Handaxt sowie einen Fuchsschwanz daraus hervor. Zuletzt zog er sich einen wasserdichten Kittel über. Sein schauriges Werk konnte starten.
Er begann mit dem Kopf. Vorsichtig platzierte er die Säge über dem Adamsapfel und Sekunden später dachte er bei dem erklingenden Geräusch des Werkzeugs an Max und Moritz. Ritzeratze, voller Tücke … Nur dass der entstehende Laut durch das austretende Blut eine feuchte Note beinhaltete.
»O Gott, Ulrich«, rief Helga weinerlich, »was tust du?«
»Nur das, was gemacht werden muss, mein Schatz«, antwortete er. »Sieh es dir nicht an. Ich tu das alles wirklich nur sehr ungern.«
Das Schluchzen des Mädchens begleitete ihn den Rest des Vormittags. Der Arzt hingegen verhielt sich seit seiner rektalen Eruption verdächtig ruhig. Er blickte resigniert durch den Raum, hatte offenbar innerlich aufgegeben. Sobald Ulrich mit der Leiche fertig war, nahm er sich vor, ihm psychischen Beistand zu leisten, ihm etwas Mut zuzusprechen. Er würde das schaffen. Aber Strafe musste halt sein.
Ulrich hatte den Halswirbel durchtrennt, der Kopf hing nur noch an einem organischen Fetzen. Er griff zur Axt und trennte ihn damit endgültig vom Rest des Körpers. Gut, dass er den Kunststoffkittel angezogen hatte, denn die Unmengen von Blut, die bei der Zerlegung frei wurden, überraschten ihn doch etwas.
Er pulte den Diamanten aus der Augenhöhle des Schädels. Dieser war doch etwas zu kostspielig, um ihn einfach irgendwo zu entsorgen. Dann fiel sein Blick auf ein paar Folienrollen, die an einer Wand herumlagen. Die waren von Krause zurückgelassen worden. Es waren größere Folientüten, auf Rollen gewickelt, die für kleinere Werkzeuge bestimmt gewesen waren. Genau das kam ihm nun zugute. Die Einzelteile passten gut hinein. Die Tüten waren zudem recht stabil und wasserdicht. Es würde kein Blut austreten. Er riss einen der Beutel ab und verstaute den Kopf darin. Er passte wie angegossen in die Tüte, die sich dicht verschließen ließ und Ulrich hoffte, dass auch für den Torso später eine entsprechende Größe vorrätig war.
Die Zerkleinerung der Arme und Beine erwies sich als ungleich fieser. Nicht dass es schwieriger gewesen wäre, aber da die Säge sich genau durch die Gelenke fraß, entstanden dabei Geräusche, bei denen sich ihm der Magen umdrehte. Knorpel knirschten, dünnere Knochen knackten und er nahm das Zurückschnellen durchtrennter Sehnen wahr. Es trat mehr Blut aus, als er erwartet hatte, was die Arbeit zu einer glitschigen, klebrigen Angelegenheit machte. Erst als er sein Handwerk so gut wie beendet hatte, fiel ihm ein, dass das Ganze viel sauberer vonstattengegangen wäre, hätte er die Blutgerinnung im Inneren der Leiche abgewartet.
Ulrich hatte Glück: Nachdem er die kleineren Einzelteile wie Hände und Füße sowie die zweigeteilten Arme und Beine erfolgreich eingetütet hatte, fand sich eine Rolle mit Beuteln in entsprechender Größe für den Torso. Allerdings musste er aufpassen, dass durch das Loch im Bauch nicht die Eingeweide austraten. Er hatte zwar einen Direktzugang zu Krauses Magen geschaffen, doch während der Streckbankbehandlung hatten sich die Innereien entsprechend verschoben, sodass dadurch der Darmtrakt hinter der Öffnung zu sehen war. Dazu, die recht große Wunde zuzunähen, fehlten Ulrich im Moment sowohl die Gerätschaften als auch die Zeit. Es war nämlich inzwischen kurz nach elf und er wollte Mutters Wunsch entsprechen, pünktlich zum Essen zu erscheinen. Also stopfte er den Torso vorsichtig in den großen Beutel und verschloss diesen rasch. Was im Inneren damit passieren würde, konnte ihm egal sein.
Den über und über mit Blut beschmierten Kunststoffkittel faltete er säuberlich mit der Innenseite nach außen zusammen und legte ihn ebenfalls zur Entsorgung bereit. Nach dem Mittagessen würde er wiederkommen und die Bude säubern. Zum Abendessen wieder nach Hause. Anschließend aus dem Haus schleichen, zurückfahren und die Beutel ins Auto laden. Und dann würde eine heimliche Tour durch die Nacht folgen, möglichst ohne von fremden Augen beobachtet zu werden, um die Folgebestellungen nicht auf die Spitze treiben zu müssen.
Anstandsgemäß verabschiedete sich Ulrich von seinen verbliebenen zwei Mitarbeitern. Antworten blieben aus. Dann verließ er die Halle. Nur das stetige Prasseln des Regens sprach zu ihm.