Kapitel 6
Alles hatte so funktioniert, wie Ulrich es sich vorgestellt und erhofft hatte. Nach dem Mittagessen war er in die Lagerhalle zurückgekehrt und hatte dort eine Großreinigung durchgeführt. Dabei ging es weniger darum, vom sprichwörtlichen Fußboden essen zu können, aber immerhin war es wieder möglich, denselben zu betreten, ohne dass einem irgendwelche Körperflüssigkeiten und Exkremente unter den Schuhen kleben blieben. Den Nachmittag über hatte er zur Durchlüftung alle Oberlichter geöffnet und zusätzlich mehrere Dosen Raumspray eingesetzt. Obendrein war er den verdreckten Werkbänken und Einrichtungsgegenständen mit Desinfektionsmitteln zu Leibe gerückt, damit seine zwei verbliebenen Mitarbeiter keine gesundheitlichen Schäden davontrugen. Immerhin hatte er als ihr Vorgesetzter eine Fürsorgepflicht; Arbeitssicherheitsbestimmungen nahm er sehr ernst. Die anstrengende Aktion hatte bis zum Abend gedauert, dennoch war er rechtzeitig wieder zu Hause gewesen, um mit seiner Mutter das Abendessen einzunehmen. Danach hatte er vorgegeben, müde zu sein und den Tag beschließen zu wollen. Tatsächlich hatte er aber einen günstigen Moment abgewartet, um unbemerkt das Haus zu verlassen. Dieser war gekommen, als er hörte, wie Mutter sich ein Bad einließ.
Nun musste er zusehen, dass er alles erledigte, bevor sie am folgenden Morgen aufstand. Das sollte kein Problem darstellen. Immerhin hatte er dazu fast zehn Stunden Zeit.
Ein Problem hingegen war sein völlig überforderter Penis. Mutter war es nicht gewohnt, dass er den ganzen Tag über unterwegs war. Sie ließ ihn zwar nach wie vor seiner Wege gehen, hatte aber neues Misstrauen entwickelt – meinte wohl, dass da eine Frau im Spiel sei, was ja in gewisser Weise sogar stimmte. Das hatte dazu geführt, dass ihre Vorsorgemaßnahmen an diesem Samstag erheblich verschärft worden waren. Nach jeder Mahlzeit war sie unter den Tisch gekrochen und hatte es Ulrich besorgt. Nun war er mehr als nur wirklich entleert und sexuell völlig desinteressiert; er hatte auch Schmerzen durch die Überbeanspruchung. Seine Vorhaut war gerötet und wund, seine Eichel juckte und seine Hoden fühlten sich an, als stünden sie kurz vorm Implodieren. Überhaupt hätte er sich
nie träumen lassen, dass man da unten so etwas wie einen Muskelkater bekommen konnte. Er hatte Mutters Behandlungen zwar immer genossen, aber das war eindeutig zu viel des Guten gewesen. Ob Helga das demnächst auch in diesem Umfang bei ihm praktizieren würde? Nun, er würde es erleben.
Doch trotz seiner Schmerzen im Schritt, die seine Bewegungsfreiheit etwas einschränkten, durfte er nicht halbherzig arbeiten. Immerhin hatte er es bereits, wenn auch unter erheblicher Mühe geschafft, die gut verpackten Einzelteile seines ehemaligen Chefs in seinem VW Kombi zu verstauen. Der heftige Regen, der ihn eigentlich schon seit Tagen anwiderte, war ihm dabei diesmal zugutegekommen, denn er kühlte durch die Hose die schmerzenden Stellen an seinem Penis angenehm ab. Trotzdem ging alles etwas langsamer vonstatten als gewohnt. Die weitere Arbeit bestand darin, kreuz und quer durch die nächtliche Stadt zu fahren und vierzehn Päckchen an verschiedenen Stellen unbemerkt loszuwerden. Privatmülleimer und Container waren seine bevorzugten Abladestellen; Behältnisse, die in den nächsten Tagen abgeholt wurden und in die unter normalen Voraussetzungen bis dahin niemand mehr hineinsehen würde – deren Inhalte hoffentlich direkt und unsortiert der Verbrennungsanlage zugeführt wurden. Oder auf einer Halde mit unüberschaubaren Mengen von Müll landen würden, in denen die organischen Überreste jenseits aller neugierigen Blicke schnell verfallen konnten. Eine Hand hier, ein Fuß dort. Zwei Kilometer weiter der Kopf, drüben ein Oberarm, ein Schenkel zwei Straßen weiter. Und dann der Rumpf; ja, der war bezüglich seines Umfangs ungleich auffälliger und musste etwas beherzter versteckt werden. Aber da würde sich auch bald ein Plätzchen für finden.
Etwas problematisch war das nächtliche Treiben in dieser Metropole. Selbst zu später Stunde war auf den Straßen viel los. Augen überall. Obendrein geriet er am Hauptbahnhof in einen Stau, weil es weiter vorn offenbar zu einem Unfall gekommen war. Von Weitem sah er die blinkenden Blaulichter von Polizei- und Rettungsfahrzeugen. Das hatte ihm gerade noch gefehlt. Doch er hoffte, dass die Einsatzkräfte mit dem Geschehen dort drüben ausgelastet waren und keine Zeit für unsinnige Kontrollen hatten.
Eine ganz andere Frage war, wie lange dieser Stau anhielt. Zeit hatte er zwar genug, doch das Problem, das sich auftat, war anderer Natur. Er war mittlerweile eine gute halbe Stunde unterwegs und die
Schmerzen in seinem Schritt nahmen zu. Er hatte das dringende Bedürfnis, wenigstens für einen kurzen Moment die Beine zu spreizen, wozu er im Auto zu wenig Raum hatte. Er musste aussteigen, unbedingt.
Er blickte sich um und sah durch die regenüberschwemmten Fenster, dass auch andere Verkehrsteilnehmer ihre Fahrzeuge verlassen hatten. Trotz des Schmuddelwetters hatte ihre Neugier wohl die Oberhand erlangt; sie wollten sehen, was da passiert war. Wenn Ulrich sich dazugesellte, würde er also vermutlich nur ein Gesicht unter vielen sein. Zudem konnte der Regen ihm etwas Kühlung zwischen den Beinen verschaffen.
Beherzt betätigte er also den Türgriff und trat hinaus in die Suppe. Augenblicklich war er wieder nass bis auf die Unterhose. Tatsächlich tat ihm die kalte Nässe zwar im ersten Moment gut, doch länger stehen zu bleiben, war eine blöde Idee. Immerhin musste er ein paar Stunden in den nassen Klamotten zubringen. Eine Lungenentzündung wollte er nicht riskieren.
Eine Idee flammte in seinem Kopf auf, die jedoch ein Risiko beinhaltete: Konnte er es wagen, die Heckklappe des Kombis zu öffnen und sich, durch diese vor dem Regen geschützt, am Rand des Kofferraums hinzusetzen? Oder war das angesichts seiner zweifelhaften Fracht zu gefährlich? Immerhin waren die Leichenteile ja eingepackt und boten keinen Grund für Verdachtsmomente.
Mit einem schweren Seufzer wankte Ulrich zum Heck seines Wagens und öffnete die Klappe. Tatsächlich lagen die Beutel ziemlich weit vorn im Wagen und waren nur schwach zu sehen, geschweige denn zu erkennen. Also setzte er sich beruhigt hin und zog die Beine auseinander. Ein wohliges, erlösendes Gefühl machte sich in seinem Schritt breit.
»Das war bestimmt wieder so eine besoffene Sau«, erklang die Stimme des Fahrers hinter ihm, der ebenfalls ausgestiegen war.
Ulrich blickte auf und sah einen kräftigen, glatzköpfigen Kerl, schätzungsweise Mitte dreißig. Verschlagener, gewaltbereiter Gesichtsausdruck. Der Regen schien ihn nicht zu beeindrucken. Bestimmt einer von diesen rechtsradikalen Skinheads. Oder ein Zuhälter. Jedenfalls keiner, mit dem er etwas zu tun haben wollte.
»Ja, möglich«, antwortete er daher nur knapp.
»Möglich, möglich«, äffte der Mann ihn nach. »Ein Unfall, samstags um diese Zeit. Sind meistens irgendwelche alkoholisierten
Arschlöcher. Hoffentlich hat er einen Freiflug durch die Windschutzscheibe gemacht.«
Ulrich sah ihn nur an, gab aber keine Antwort. Bei solchen Typen musste man aufpassen, das sagte Mutter immer. Die suchten stets Streit. Egal, was man ihnen als Antwort gab: Sie nahmen das nur als Anlass, um einen zu verprügeln. Und Ulrich hatte gewiss keine Lust, Kloppe zu beziehen und auf der pitschnassen Straße zurückgelassen zu werden. Gerade in dieser Situation hätte sich das ohne Frage fatal ausgewirkt.
»Bist recht wortkarg, was?«, setzte der Kraftprotz nach.
Na toll. Jetzt war womöglich sein Schweigen der Auslöser für Ärger.
»Na, komm schon, Kleiner«, meinte der Hüne mit einem Grinsen. »Es geht weiter.«
»Wo-womit?«, stotterte Ulrich und fing etwas zu zittern an.
»Läufst irgendwie etwas neben der Spur, was? Im Verkehr
geht es weiter. Die Straße ist frei. Wir können weiterfahren. Also los, beweg dich! Oder soll ich die ganze Nacht hier rumstehen?«
Ulrichs Kopf fuhr herum. Der Stau hatte sich tatsächlich aufgelöst. Vor lauter Panik hatte er falsch verstanden, was sein Gegenüber gemeint hatte. Keine Dresche, nur ein Hinweis.
»Oh, Entschuldigung«, stammelte Ulrich und stürmte zur Fahrertür.
Bloß weg von diesem Kerl, der ihm alles andere als geheuer war. Schnell eingestiegen, die Tür zu, Anschnallgurt umgelegt, Wagen gestartet und los. Im Rückspiegel sah er die Scheinwerfer seines Hintermannes, der ebenfalls Gas gab, dann aber plötzlich scharf abbremste. Egal, sollte er bloß weit von ihm wegbleiben. Auf solche Typen konnte er in seinem Leben verzichten.
Erst jetzt fiel ihm auf, dass die Ansicht im Rückspiegel irgendwie ungewohnt war. War das Ding verstellt oder wieso sah er plötzlich so wenig von der Straße hinter sich? Nein, verdammt! Sofort bremste Ulrich seinen Wagen ab. In seiner Hektik hatte er vergessen, die Heckklappe wieder zu schließen, und fuhr offen. Bei noch laufendem Motor stürzte er, ungeachtet des wieder fließenden Verkehrs, auf die Straße hinaus und knallte den Kofferraumdeckel zu. Im Lichtkegel des fast dreißig Meter hinter ihm stehenden Fahrzeugs nahm er die Silhouette des Glatzkopfs wahr. Der Mann rannte auf ihn zu und hielt einen undefinierbaren Gegenstand in der Hand, den er drohend hin
und her schwang. Er brüllte dabei irgendwelche unverständlichen Verwünschungen.
Sofort sprang Ulrich wieder ins Auto. Der Mann hinter ihm hatte offenbar einen an der Waffel. Mit ruckartig losgelassener Kupplung und voll durchgetretenem Gaspedal brach der Kombi zunächst auf der nassen Straße nach links und rechts aus und sauste dann mit hoher Geschwindigkeit davon. Glücklicherweise nahm die Polizei, die nach wie vor am Unfallort tätig war, keine Notiz davon. Sekunden später war von dem aggressiven Keulenschwinger nichts mehr zu sehen, sodass Ulrich seine Geschwindigkeit wieder den Gegebenheiten anpasste. Doch der Schock saß tief. Das hätte auch anders ausgehen können.
Er atmete tief durch und versuchte, seine Aufmerksamkeit wieder auf seine Angelegenheiten zu lenken. Er musste einige weitere Beutel entsorgen und nahm sich vor, diese irgendwo am Stadtrand zurückzulassen, wo kein so starker Verkehr herrschte. Möglicherweise war er bei der Aktion gerade schon etwas aufgefallen, deshalb wollte er kein unnötiges Risiko eingehen.
Er schlug daher vom Bahnhof aus den Weg zur Autobahn ein, die von hier aus recht schnell zu erreichen war. Dort gab es in der Nähe ein paar Wohngebiete mit eher dorfähnlichem Charakter. Ältere Menschen waren um diese Zeit entweder längst im Bett oder saßen vor dem Fernseher, anstatt sich auf der Straße rumzutreiben oder am Fenster zu stehen und den nächtlichen Regen zu begutachten. Die Jüngeren zogen es hingegen vor, die Discos und Kneipen in der Innenstadt aufzusuchen.
So ging sein Plan schließlich auf und er schaffte es, unbemerkt alle übrigen Teile in den Mülltonnen verschiedener Privathaushalte zu entsorgen. Zum Glück war es unnötig, dafür fremde Grundstücke zu betreten; viele der Silos hatten ihre festen Plätze am Straßenrand, einige von ihnen idealerweise außerhalb des verräterischen Lichteinfalls der Laternen. Ulrich stopfte die verdächtigen Beutel tief hinein, damit der Fremdmüll niemanden stutzig machen konnte.
Zuletzt ging es um die große Tüte mit dem Torso. Diesen konnte er nicht einfach privatem Abfall hinzufügen, weil das ein Mehr an Müll bedeutete, welches dem Eigentümer der Tonne sicherlich auffallen würde. Er musste also etwas herumfahren und darauf hoffen, dass er eine geeignete Abladestation
fand.
Nach einer weiteren halben Stunde intensiver Suche wurde er
jenseits der Frankfurter Stadtgrenzen endlich fündig. Da war eine alte Fabrik, sehr weit draußen. Offenbar handelte es sich um einen aufgegebenen Betrieb, der wochentags gerade ausgeräumt wurde. Mehrere riesige Container für Restmüll standen draußen an den Wänden hintereinander. Trotz des anhaltenden Unwetters standen sie offen. Vermutlich warfen die Entrümpler alles direkt aus den Fenstern in die großräumigen Silos hinein. Ein fremder Beutel würde unter all dem Unrat kaum auffallen. Ulrich hoffte nur, dass er den schweren Torso hoch genug werfen konnte. Notfalls konnte er aber auf ein paar Utensilien zurückgreifen, die an einer Wand angelehnt waren – Schaufeln, Spitzhacken, Harken und andere derartige Gerätschaften. Bei Schwierigkeiten konnte er diese als Verlängerung benutzen, um den schweren Beutel hinaufzuhieven.
Ulrich machte sich sofort an die Arbeit. Nachdem er ausgestiegen war und den Kofferraum geöffnet hatte, stapfte er mit dem Corpus Delicti über den aufgeweichten Boden zu einem der Container. Er war zwar nass bis auf die Knochen, doch das war ihm gleich. Die Arbeit war fast erledigt. Dreimal brachte er den schweren Beutel in Schwung, dann wuchtete er ihn wie ein Kugelstoßer nach oben.
Während dieses Vorgangs spürte er einen merkwürdigen Widerstand, der von einem seltsamen Geräusch begleitet wurde. Es klang wie ein Ratschen und verriet ihm, dass die morbide Fracht an irgendetwas hängen geblieben war. Die Geschwindigkeit des geworfenen Objekts wurde dadurch etwas verringert, was eine fatale Folge nach sich zog: Der Beutel landete nicht im Container, sondern blieb oben am Rand genau auf einer Ecke liegen.
Ulrich hätte am liebsten laut losgeflucht. Das war wieder eins dieser Dinge, das man niemals schaffen würde, wenn man das absichtlich versuchte. Murphys Gesetz – was schiefgehen konnte, ging auch schief. Schlussendlich sah er, was
da im Weg gewesen war: Die verdammte an der Wand lehnende Harke, deren Zinken nach vorn ragten und die sich in den Spitzen einer Mistgabel verkeilt hatten. Deshalb war das Ding keineswegs einfach umgefallen, sondern hatte den Beutel gestreift. Und was viel unheilverkündender war: Etwas klebte an den Zinken – und es waren nicht etwa nur Überreste des Beutels. Im Halbdunkel glaubte Ulrich, so etwas wie Haut- oder Fleischfetzen zu erkennen.
Im Handschuhfach seines Autos hatte er eine Taschenlampe. Diese würde er brauchen, um sich erst mal ein Bild davon zu verschaffen,
was da genau passiert war. Wenn der Beutel zu weit aufgerissen war, konnten die Entrümpler womöglich am kommenden Montag von oben sehen, was sich darin befand. Die Überreste an der Harke ließen jedenfalls Übles vermuten. Er holte die Taschenlampe hervor und im nächsten Moment wurde er mit einer Bescherung konfrontiert, wie sie schlimmer unmöglich hätte ausfallen können. Neben der Tüte, die der Länge nach aufgerissen war, hatte sich auch das Loch im Torso, das Ulrich seinem Chef zugefügt hatte, um die Geldscheine in dessen Magen zu stopfen, erheblich vergrößert. Durch die einsetzende Verwesung war der Körper wohl schon etwas porös und gab solchen Einwirkungen leichter nach. Die ohnehin bereits sichtbaren Eingeweide drückten sich bereits ein Stück weit durch die Öffnung nach außen. Schnelles Handeln war gefragt und Ulrich blickte sich hilfesuchend um.
Er bemerkte die offene Tür der alten Fabrik. Das war seine Chance. Er konnte den Torso mit einem der Geräte in den Container wuchten und dann, vom Fenster der Fabrik aus, andere Gegenstände hinunterwerfen, bis er bedeckt war.
Ulrich griff zu der Heugabel und zwängte sie aus der Umklammerung der Harkenzinken, die inzwischen durch den starken Regen von den verräterischen Fleischfetzen befreit worden waren. Er stieß das Werkzeug geradewegs nach oben.
Doch der Effekt war ein gänzlich anderer als der erwünschte. Statt den Torso in den Container zu bugsieren, hatte er mit den Gabelzinken das Loch in der Bauchdecke erweitert. Als er die Gabel herauszog, geschah das Unvermeidliche: Die äußere Hülle gab nun endgültig nach, platzte auseinander und gab das frei, was sie bisher notdürftig in sich behalten hatte. Die gesamten Innereien stürzten auf Ulrich herab und bedeckten ihn mit einer zähen, wabbeligen Masse. Der Magen klatschte auf dem Boden auf, zerbarst und gab halb verdaute Essensreste und Geldscheine frei. Leber und Nieren streiften Ulrichs Gesicht und Gedärm wickelte sich spaghettiartig um seinen Körper. Hustend und würgend drehte er sich ein paarmal um die eigene Achse, versuchte, mit den Armen abzuwehren, was sich da über ihn ergoss. Doch stattdessen verfing er sich erst recht in den schier unendlichen Darmwindungen. Plötzlich spürte er einen heftigen Ruck an seinem Hals, der ihm die Luft abschnürte. Trotz seiner sofort aufsteigenden Panik wusste Ulrich genau, was zu allem Überfluss passiert war: Der nunmehr halb entleerte Torso war in den
Container gerutscht, wodurch er von den dort festhängenden Därmen, die sich wie ein Galgenstrick um seinen Hals gewunden hatten, stranguliert wurde. Die Situation war außer Kontrolle. Er fuchtelte wild in der Gegend herum, während er nach Luft rang. Ein Schwall Erbrochenes staute sich in seinem zugeschnürten Hals.
Irgendetwas bekam er zu fassen – es war eines der Geräte, die an der Wand lehnten. Es mochte eine Strohhalmfunktion sein, doch er klammerte sich daran fest. Dann bemerkte er, dass es sich bei dem Ding um eine Sense handelte. Es erschienen bereits aufgrund des Luftmangels die ersten Sterne vor seinen Augen, als er noch einmal alle Restkraft aufbrachte und die Klinge der Sense über seinem Kopf ansetzte. Es war wohl unsägliches Glück, dass er sofort die richtige Stelle erwischte – die scharfe Schneide durchtrennte augenblicklich das organische Gewebe, das ihn zu erwürgen drohte. Innerhalb von einer einzigen Sekunde ließ er die Sense fallen, holte tief Luft und fing sofort an, sich zu übergeben. Hinter sich hörte er den dumpfen Aufprall des Torsos im Container.
Der Regen hatte schnell die halbflüssigen Elemente der Innereien fortgeschwemmt. Um die verbliebenen Organe musste er sich gesondert kümmern. Dennoch brauchte er zunächst ein paar Minuten, um sich wieder zu sammeln. War dies alles eine Verkettung unglücklicher Umstände? Oder vielleicht eher die jenseitige Rache seines Chefs? Dabei hatte Ulrich gar nichts Böses im Sinn gehabt. Dass der alte Krause den Tod gefunden hatte, war der Widerborstigkeit seines Schuldners anzukreiden und niemandem sonst. Und das war höchstwahrscheinlich auch die Ursache für all das.
Etwas geschwächt, griff Ulrich zu einer Schaufel. Die paar Fetzen, die noch herumlagen, konnte er mühelos in dem aufgeweichten Boden verscharren. Er setzte das Werkzeug an und hatte in zwei Minuten ohne großen Kraftaufwand ein ausreichend großes Loch gebuddelt. Mit der Schaufel beförderte er Nieren, Leber und Restgedärm hinein. Geschlossen war die Grube schneller als ausgehoben, wobei der Druck der prasselnden Regentropfen eine Rolle spielte.
Der Rest war schnell erledigt und verlief ohne weitere Probleme. Der Zugang zum oberen Stockwerk der Fabrik war frei und es lag genug Kram dort herum, um das grausige Objekt im Container zu bedecken. Eine Viertelstunde später befand sich Ulrich wieder auf
der Straße und freute sich auf sein heimisches Bett. Vorher würde er allerdings heiß duschen, auch wenn seine Mutter dadurch aufwachen und verfängliche Fragen stellen würde. Immerhin stank er wie ein Otter und war von dem Aufenthalt im Regen völlig unterkühlt.
Dann trat jedoch eine Frage in sein Bewusstsein, die ihm Sorge bereitete: Wo war der Kopf von Krause abgeblieben? Er konnte sich nicht erinnern, ihn in einer der Mülltonnen platziert zu haben. Die Beutel aus dem Auto waren aber allesamt entsorgt worden. Also musste er ihn in der Lagerhalle vergessen haben.
Bei diesem Gedanken machte sich Ärger in Ulrichs Kopf breit – Ärger über sich selbst. Das kam dabei raus, wenn man unter Zeitdruck arbeitete. Doch er sah davon ab, zu dieser Stunde abermals zu der Halle zu fahren. Den Kopf konnte er morgen loswerden. Für heute hatte er Aufregung genug gehabt.